Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 229: Perspektiven der Suizidbeihilfe

§ 217 StGB und das tödliche Medikament

in: vorgänge Nr. 229 (1/2020), S. 57-68

Neben der Debatte um die generelle (Un-)Zulässigkeit der Suizidbeihilfe wird seit vielen Jahren auch um die konkreten Bedingungen für die Sterbehilfe in Deutschland gerungen. Dabei geht es auch um den Zugang zu Medikamenten, die für einen Suizid geeignet sind. Sie sind durch das Verbot des Betäubungsmittelgesetzes (BtMG) nicht frei verfügbar. Den vorläufigen Höhepunkt dieser Auseinandersetzung markiert ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) vom 2. März 2017 (3 C 19.15), mit dem ein jahrzehntelang geführter Rechtsstreit zum legalen Erwerb eines Medikamentes zur Selbsttötung beendet wurde. Mit der Entscheidung schuf das Gericht im Wege der verfassungskonformen Auslegung eine Ausnahmeregelung, wonach das grundsätzliche Verbot des Zugangs zu dem tödlichen Medikament (Natrium-Pentobarbital) in eng begrenzten Ausnahmefällen, bei einer schweren und unheilbaren Erkrankung sowie einer extremen persönlichen Notlage aufzuheben sei. In seiner Entscheidung hat das BVerwG nicht nur zwischen dem Selbstbestimmungsrecht des Sterbenden und der staatlichen Lebensschutzpflicht abgewogen, sondern erstmals auch eine staatliche Pflicht zur Sicherung der Entscheidungsautonomie Sterbender in die grundrechtliche Abwägung einbezogen.[1]

Über die rechtsdogmatischen Auswirkungen dieser Entscheidung sowie den Umgang des Bundesgesundheitsministers damit haben wir bereits mehrfach in den vorgängen berichtet.[2] Welche Auswirkungen die zu erwartende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über § 217 StGB auf den Medikamentenzugang hat, mit dieser Frage befasste sich das dritte Panel der gemeinsamen Tagung von Humanistischer Union und Friedrich-Naumann-Stiftung am 9. Mai 2019 in Berlin. Wir dokumentieren im Folgenden die Diskussion in leicht bearbeiteter Form.

Maximilian Spohr: Über welche offiziellen Wege Betroffene Zugang zu einem tödlichen Medikament haben, ist ein Regelungsbereich, der dem Betäubungsmittelgesetz unterliegt. Hierzu hat es 2017 eine sehr umstrittene Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes (BVerwG) gegeben. Dieses Urteil ist bis heute nicht umgesetzt worden ist. Deshalb wollen wir uns damit näher beschäftigen. Auch der Deutsche Ethikrat hat sich dezidiert zu diesem Urteil geäußert. Dabei ist auch das Spannungsverhältnis zu den Wertungen des Urteils und denen, die hinter § 217 StGB stehen, diskutiert worden. Der Ethikrat war gespaltener Meinung und ist in zwei Lager, in eine Mehrheits- und eine Mindermeinung zerfallen. Wir haben jeweils einen Vertreter der gegensätzlichen Lager hier auf dem Podium.

Peter Dabrock: Meine Damen und Herren, vielen herzlichen Dank für die Einladung.

Alles, was wir versuchen und auch zurecht versuchen, um mit der Situation des Sterbens und des Todes umzugehen, wird nicht davon ablenken, dass der Tod Bruch bedeutet, das Unvollendete bedeutet, Schmerz bedeutet, nicht-ruhen-können bedeutet, und dass man sich dem auf die eine oder andere Weise ehrlich stellen muss.

Der Theologe, selbst wenn er das Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes kritisch sieht, und wenn er die Verbotsnormen des § 217 StGB für sinnvoll erachtet, kommt nicht in die Situation – jedenfalls ich nicht – dass er Menschen, die in einer existentiellen Notsituation für sich eine Entscheidung treffen und sagen: „Ich kann nicht mehr; ich will nicht mehr!“, moralisch zu verurteilen; auch nicht die Angehörigen oder ihnen nahestehende Menschen, die sie dabei begleiten. Das tue ich nicht.

Wenn wir gleich auch kontrovers debattieren, sind das Punkte, von denen mir wichtig ist, dass Sie das hier nicht dem evangelischen Theologen unterstellen.

Dies gesagt, sage ich trotzdem, dass ich mit dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes mehr als unglücklich bin. Im Detail können Sie das in einem Artikel nachlesen, den Steffen Augsberg und ich – aus meiner Sicht recht ausführlich, für ihn recht kurz – in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vor ungefähr 1,5 Jahren veröffentlicht haben.[3] Ich habe Bedenken hinsichtlich des Verfahrens, hinsichtlich der aus meiner Sicht politischen Justiz, die hier um sich gegriffen hat. Ich würde mir wünschen, dass angesichts der enormen Bedeutung, die diese Fragestellung für uns als Einzelne wie als Gesellschaft hat, dass so etwas eben nicht von einem Gericht  zu entscheiden ist. Sondern dass man, wenn man massive Bedenken wie das Bundesverwaltungsgericht hat, diese Entscheidung dann an das Bundesverfassungsgericht weiterleitet. Das kann diese Einzelnorm des Betäubungsmittelgesetzes überprüfen und dann, wenn es der Auffassung ist, dass sie nicht verfassungsgemäß ist, an den Gesetzgeber weiterleiten, damit der eine neue Norm verfasst. Es geht aber meines Erachtens nicht an, dass in diesem Fall das höchste Verwaltungsgericht in einer so wichtigen Entscheidung mit einer aus meiner Sicht recht lausigen Begründung im Vergleich zu den Urteilen der Vorinstanzen quasi ein Signal gesetzt hat. Das halte ich für äußerst unglücklich, auch weil die drei Kriterien, die das Gericht angeführt hat, damit das Bundesinstitut die tödlichen Arzneimittel herausgibt, aus meiner Sicht derartig unscharf und unklar sind: Ein schweres körperliches Leiden, eine informierte Einwilligung und die Alternativlosigkeit der Situation. Diese drei Kriterien sind derart diffus mit Blick auf die gegebenen Konsequenzen, das ist einfach paradox.

Die Gewaltenteilung, das merken wir jetzt gerade auch in Amerika, ist eine extrem wichtige Angelegenheit. Ein Gericht sollte solche Fragen an die zuständigen Gewalten geben, dann können wir in der Sache debattieren: Wie viel Sterbebegleitung ist sinnvoll und notwendig? Wie viel Hilfe zum und wie viel Hilfe beim Sterben darf es im Regelfall und im Ausnahmefall geben?

Reinhard Merkel: Im Unterschied zu Peter Dabrock halte ich die Begründung der Entscheidung des BVerwG nicht für lausig – vor allem im Unterschied zu den lausigen Begründungen der Vorinstanzen. Peter Dabrock sieht das genau umgekehrt. Ich, der ich ihn natürlich immer als den Vorsitzenden des Deutschen Ethikrates ernst nehme, würde ihn als Kritiker einer verwaltungsgerichtlichen Letztentscheidung freilich nicht unbedingt genauso ernst nehmen. Aber – das muss ich dazu sagen – er hat natürlich durch Steffen Augsberg in diesem Artikel kompetente Assistenz erhalten. Man kann über diese Dinge streiten, wenn Sie mir den saloppen Ton in der Anfangsbemerkung einmal nachsehen.

Dass der Minister eine Rechtsauffassung des BVerwG korrigiert, die Exekutive einen Nichtanwendungserlass gegenüber einem höchstrichterlichen Urteil herausgeben kann, auch wenn man es für falsch hält, ist ganz und gar nicht in Ordnung. Das ist  auch ein Problem der verfassungsrechtlichen Gewaltenteilung.

Lassen Sie mich etwas zu dem Urteil sagen. Die zwei wesentlichen Einwände, die erhoben worden sind, lauten: Der Staat darf nie zum Helfer eines Suizids werden. Und zweitens: § 5 Absatz 1 BtMG erlaube den Erwerb von Natrium-Pentobarbital – mit besonderer Genehmigung durch das Bundesamt für Arzneimittel – nur zu Zwecken der medizinischen Versorgung. Dazu könne aber nie die Herausgabe oder die Genehmigung zum Erwerb eines tödlichen Mittels gehören.

Zum ersten Einwand: Auch wenn der Staat in Gestalt der Rechtsordnung akzeptiere, dass jemand sein Leben selbstbestimmt beendet, dürfe er nicht zum Helfer dabei werden. Das ist ein grundsätzliches Missverständnis. Der Staat erlässt mit § 5 Absatz 1 BtMG i.V.m. der Liste der Mittel, die hinten an das Betäubungsmittelgesetz (BtMG) anhängt sind, ein absolutes Verbot. Die Herausgabe von Natrium-Pentobarbital, um dieses Mittel zu Suizidzwecken ging es in der Entscheidung des BVerwG, ist für Zwecke außerhalb der medizinischen Versorgung absolut untersagt. Genehmigt werden kann es nur, wenn es der medizinischen Versorgung dient. Ich gehe gleich in meinem zweiten Punkt darauf ein, ob die medizinische Versorgung einschließen kann, ein Mittel zu tödlichen Zwecken herauszugeben bzw. den entsprechenden Erwerb zu erlauben.

Ein Missverständnis ist es aber zu sagen: Jemand, der ein absolutes Verbot erlassen hat, und in bestimmten konkretisierten Einzelfällen verpflichtet wird, das Verbot für diese Einzelfälle aufzuheben, leiste dann Beihilfe zu der selbstbestimmten Entscheidung, indem er diese eben nicht mehr verbiete. Das ist so, wie wenn man sagen würde: „Jemand verschließt ein Tor, durch das der Zugang in irgendeinen Garten ermöglicht wird. Und es wird ihm nun aufgegeben, in bestimmten Fällen, meinetwegen zu bestimmten Uhrzeiten, das Tor aufzuschließen.“ Dann zu sagen: „Jetzt leistet er Beihilfe zum Durchgang der Leute in den Garten und zu allem, was sie dann dort tun“, ist verfehlt. Der Staat, der das Verbot einer Handlung X nicht mehr ausnahmslos aufrechterhalten darf, wird nicht zum Gehilfen dessen, dem er X im konkreten Fall nicht mehr verbieten kann. Das anzunehmen ist, ehrlich gesagt, abwegig. Um das zu sehen, braucht es übrigens auch keinen Strafrechtler, sondern nur einen klaren Kopf. Dieser erste Einwand gegen das Urteil ist einfach irrig.

Der zweite Einwand, Sie erinnern sich, lautete: § 5 Absatz 1 BtMG erlaube den Erwerb von Natrium-Pentobarbital nur zu Zwecken der medizinischen Versorgung, und dazu könne die Verwendung zu tödlichen Zwecken nie gehören. Das ist, wie schon mit ein oberflächlicher Blick auf die Rechtsordnung zeigt, nicht richtig.

Wir haben etwa eine Arztpflicht beim Schwangerschaftsabbruch. Das BVerfG sagt, dass mit dem Ungeborenen ein Wesen getötet wird, das Grundrechtsträger ist – Inhaber der Menschenwürde und des Grundrechts auf Leben. Unter dieser Voraussetzung ist der Vorgang viel gravierender als die Hilfe zu einem selbstbestimmten Suizid. Der Embryo hat in seine Tötung nicht eingewilligt. Und trotzdem ist diese Tötungshandlung Bestandteil der medizinischen Versorgung: Sie muss von einem Arzt vorgenommen werden. Nähme sie ein Nicht-Arzt vor, so wäre er stets strafbar, selbst wenn eine Indikation für den Abbruch vorläge. Das Gesetz zwingt also den Abbruch, die unmittelbare Tötungshandlung, in die medizinische Versorgung. Übrigens regelt es im Arzneimittelgesetz, also einem Gesetz zur medizinischen Versorgung, auch den Vertrieb von Abortivmitteln wie Mifegyne, mit dem man eine Schwangerschaft bis zum 50. Tag der Schwangerschaft abbrechen kann. Auch dieser für Embryonen tödliche Vertrieb ist also Teil der ärztlichen Versorgung.

Nun mag man sagen, der Schwangerschaftsabbruch ist irgendwie etwas ganz Besonderes. Ich kann dazu nur sagen: Aus dem Umstand, dass beim Schwangerschaftsabbruch ein Mensch mit Grundrechten – so sagt es das Verfassungsgericht (ich selber habe da ja meine Zweifel) – und ohne seine Einwilligung getötet wird, und zwar aktiv und in einem Vorgang, der zur gesetzlich geregelten medizinischen Versorgung gehört, ergibt sich sogar ein Erst-recht-Argument gegen die Behauptung, medizinische Versorgung und Tötungszwecke schlössen einander stets aus.

Es ist auch nicht einzusehen, dass der Arzt immer nur therapeutische und diagnostische Aufgaben hat und andere nicht haben kann. Am Ende eines Patientenlebens kann der Arzt konfrontiert sein mit Situationen, in denen einfach nur noch seine Hilfe gefordert ist. Und diese Hilfe kann in Fällen der extremen Not darin bestehen, jemandem zum Sterben zu verhelfen. Es ist auch moralisch nicht in Ordnung, zu sagen: Wir Juristen oder Theologen oder Palliativmediziner wissen immer besser als der Sterbewillige, dass die Not, in der er sich befindet, eigentlich auszuhalten ist. Das ist eine tiefe Intervention in ein fremdes Ich. Mit Autonomiefetischismus hat diese Feststellung nichts zu tun. Die Blockade einer solchen letzten existentiellen Notentscheidung ist eine schwere Verletzung der innersten Belange einer anderen Person.

Letzte Anmerkung zu der Kritik von Peter Dabrock an der Ungenauigkeit und an dem Umstand, dass Verwaltungsbeamte über Notstandsvoraussetzungen entscheiden sollen. Ich mache mich anheischig, aus dem Stand ein Dutzend solcher Situationen aus der Rechtsordnung aufzuzählen, in denen das ganz und gar normal ist. Selbstverständlich haben die zuständigen Verwaltungsbehörden über die Voraussetzungen der Anwendung einer Rechtsnorm zu entscheiden. Und das kann natürlich eine Rechtsnorm sein, die einen Notstandsfall regelt. So unbestimmt ist der Hinweis auf die existentielle Not eines unerträglichen Leidens, das nicht anders abgewendet werden kann, keineswegs. Das muss im konkreten Einzelfall ermittelt und bestimmt werden. Und noch einmal: Wenn dann ein Verwaltungsbeamter sagen würde „Ja, hier sind die Voraussetzungen einer solchen Not gegeben“, würde er damit nicht zum Gehilfen des anschließend erfolgenden Suizids. Auf diese Argumente kommt es mir an.

Maximilian Spohr: Ich will einmal versuchen, diesen Fall, der ja so viele von Ihnen und auch die Fachleute seit zwei Jahren beschäftigt, ein bisschen aufzurollen. Ich zitiere die Begründung aus dem Urteil, damit wir uns die Lage dieser Person etwas vergegenwärtigen können:[4] Frau K. litt seit einem Unfall im April 2002 unter einer hochgradigen, fast kompletten sensomotorischen Querschnittslähmung; sie wurde künstlich beatmet und war in vollem Umfang bewegungsunfähig. Es stand fest, dass sich ihr Zustand nicht mehr bessern werde. Trotz ihrer Lähmung habe sie am ganzen Körper Schmerzempfindungen. Angesichts dieses Zustandes habe sie den Wunsch, freiwillig aus dem Leben zu scheiden. Auch wenn ihr jegliche denkbare Hilfe zuteil werde, stelle sich ihr jeder Tag als eine unbeschreibliche Qual dar. Ihren Sterbenswunsch habe sie mit ihrem Ehemann, der gemeinsamen Tochter, den behandelnden Ärzten, einem Psychologen, dem Pflegepersonal und dem zuständigen Geistlichen besprochen. Diese respektierten ihren Wunsch.

Ich möchte eine Frage zu dieser Fallkonstellation aufgreifen, die auch in der Diskussion um den Antrag der FDP im Bundestag wieder aufgekommen ist. Da geht es im Kern darum, dass man kritisiert, dass die Person gezielt von einem Sterbehilfeverein der Schweiz angesprochen worden sei. Es ist nämlich so, dass Frau K. einen Antrag auf Erteilung einer Erlaubnis zum Erwerb des tödlichen Medikamentes gestellt hat – doch schon bevor sie den Widerspruchsbescheid erhielt schon in der Schweiz unter Hilfe eines Sterbehilfevereins aus dem Leben gegangen ist. Deshalb wird kritisiert, dass es ein konstruierter Fall sei, der durch § 217 StGB bekämpft werden soll, wenn Menschen in einer so schwierigen Lage durch Sterbehilfevereine bestimmt werden. Ist das eine Kritik, die man gelten lassen kann oder sogar muss?

 

Reinhard Merkel: Wenn die Dame, um die es da ging, von einem Sterbehilfeverein in der Schweiz angesprochen worden ist, dann ist das nicht in Ordnung. Das kommt mir auch suspekt vor. Ich möchte auch Peter Dabrock in einem Punkt zustimmen: Die Fragen sind alle schwierig. Wenn in dem konkreten Kontext dieses Falles verdächtige Hintergrundbedingungen dagewesen sind, dann musste man mit einem schärferen Blick hingucken, ob die Voraussetzungen für Kriterien, die das BVerwG formuliert hat, wirklich gegeben waren. Aber ich kenne die ganze Entscheidung und habe sie sehr genau gelesen. Das Leiden dieser Frau zu verstehen, ist etwas, dem sich eigentlich kein fühlender Mensch entziehen kann. Die Frau hat furchtbar gelitten. Mir hat es auf der Stelle eingeleuchtet, dass das Bundesverwaltungsgericht gesagt hat: „Das könnte ein Fall gewesen sein, der unsere Kriterien erfüllt.“ Die Entscheidung lautete übrigens nicht: „Das war ein solcher Fall“, sondern: das kommentarlose, diskussionslose und gedankenlose Abweisen der Bitte dieser Frau um Natrium-Pentobarbital zu Suizidzwecken, das sei rechtswidrig gewesen.

Der Fall ging ja bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.  Dort war man erkennbar konsterniert über die rüde Art, in der die Verwaltungsgerichtsbarkeit das vorher gehandhabt hat.

Der Mann ging dann zum Verwaltungsgericht mit dem Antrag einer nachträglichen Feststellung, dass das rechtswidrig gewesen sei. Die Frau war schon verstorben, in der Schweiz hat sie mit Hilfe einer Sterbehilfeorganisation ihr Leben beendet. Die Richter beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte hatten sichtlich kein Verständnis dafür, dass dem Mann in der Verwaltungsgerichtsbarkeit bis in deren oberste Instanz gesagt wurde: „Das geht Dich nichts an, das betraf Deine Frau!“ Die europäischen Richter haben mit Recht festgestellt, dass ihn das sehr wohl etwas anging und Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (Schutz der Familie) hier berührt sei. Das Leiden seiner Frau hat den Mann im Innersten betroffen. Liest man dieses Urteil genau, dann sieht man, dass die Richter auch konsterniert darüber waren, wie man in einem solchen tragischen Notfall ein rein formelles Argument mechanisch abspulen konnte, das noch dazu verkehrt ist. Also ernsthaft jemandem zu sagen: „Es ging doch um Deine Frau, die lebt nicht mehr. Was geht Dich das an?“ Erst nach der Entscheidung des EuGHMR kam das Verfahren noch einmal in den verwaltungsgerichtlichen Instanzenzug.

Ich kann Peter Dabrock schon verstehen, wenn er meint: „Das Bundesverwaltungsgericht hätte sagen müssen, so tief können wir uns als Gericht nicht einmischen. Wir setzen das Verfahren aus und legen den § 5 BtMG mit dieser Ausnahmslosigkeitsanordnung dem Bundesverfassungsgericht vor.“ Das kann man vertreten. Ich meine aber auch, man kann die Lösung so gestalten, wie es das Bundesverwaltungsgericht gemacht hat; also zu sagen, wir legen das verfassungskonform aus, nämlich mit Blick auf Artikel 2 Absatz 1 und auf Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes; und wir sagen, dieses absolute, ausnahmslose Verbot ergibt sich aus Gesetz nicht zwingend.

 

Maximilian Spohr: Wie Sie schon sagten, die eigentlich betroffene Frau geht bereits im März 2005 aus dem Leben. Ihr hinterbliebener Mann geht den Gang durch die Instanzen. Er wird 2006 vor dem Verwaltungsgericht in Köln und dann auch von dem Oberverwaltungsgericht mit dem Hinweis zurückgewiesen, dass er nicht betroffen sei, dass es um die Rechte seiner Frau gegangen sei. Auch das Verfassungsgericht nimmt den Fall nicht zur Entscheidung an und er findet sich vor dem Europäischen Gerichtshof wieder, der dann 2012 aus Artikel 8 der EMRK das Recht dieses Mannes herleitet, dass er in der Sache beschieden werden muss. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat sich dann aber nicht selber weiter mit der Sache beschäftigt, sondern mit Blick auf den fehlenden Konsens unter den Mitgliedern die Handhabung dieser Fragen dem Ermessensspielraum der Nationalstaaten überlassen. Es kommt zu einem neuen Aufrollen dieses Falles. Das Verwaltungsgericht in Köln muss sich also nun mit den eigentlichen Kernfragen dieses Falles beschäftigen und trifft im Jahr 2014 ein Urteil.

Herr Dabrock, Sie hatten angesprochen, dass Sie die Argumentation der Vorinstanzen besser fanden als die des BVerwG. Ich würde Sie gerne bitten kurz darzulegen, was Sie vor allen Dingen am vorinstanzlichen Urteil des Gerichtes in Köln mehr überzeugt hat.

 

Peter Dabrock: Mich freut zu hören, dass Reinhard Merkel durchaus die Position, die die Mehrheitsmeinung des Ethikrates darstellt, für eine veritable Position erachtet. Das habe ich in den Diskussionen bis dato nicht so wahrgenommen.

Als Obergericht ein inhaltlich so folgenreiches Urteil zu fällen, ist einfach nicht dasselbe, als es dem Verfassungsgericht vorzulegen, um zu überprüfen, ob es mit der Verfassung übereinstimmt. Das ist doch erkennbar rechtskulturell die bessere Variante! Da kann man nicht sagen: „Aber das andere finde ich doch auch gut.“ Das ist in einer Rechtskultur erkennbar die schlechtere Variante.

Der zweite Punkt ist doch nun wirklich kein Argument: Dass man an der Stelle, wenn ich sage, da wird die Gewaltenteilung nicht beachtet, mir vorhält, dass Herr Spahn das auch nicht tut. Das muss ich feststellen, dass das als Argument nicht geht! Erstens bin ich nicht Herr Spahn und vertrete das auch überhaupt nicht. Und zweitens finde ich das, was Herr Gröhe vorher gemacht hat, sinnvoller. Er hat nämlich keinen Nichtanwendungserlass getätigt, sondern hat das sozusagen auf die lange Bank geschoben. Das ist ein Unterschied. Weil nämlich in der Tat Herr Spahn genau das gemacht hat, was ich kritisiert habe. Das hat Herr Gröhe nicht gemacht. Der hat gesagt: „Klagt Euch durch!“ Wir wissen, wie lange die Verfahren gedauert haben. Das heißt nicht, dass ich die Not nicht sehe. Bitte, das sehe ich wohl, aber das ist eine andere Achtung von Checks and Balances als ein Nichtanwendungserlass. Da finde ich, dass man nicht eine aus meiner Sicht rechtskulturelle Schräge mit einer anderen rechtskulturellen Schräge – ich spreche jetzt nicht von Unrecht! – vergleichen soll.

Ich finde für die Debatte wichtig, dass wir festhalten: Der Staat darf nie zum Helfer eines Suizids werden. Dabei geht es nicht mehr um Abwehrrechte, sondern um Quasi-Anspruchsmöglichkeiten.

Mit Blick auf die Vorinstanzen geht es um die Frage: Wie ist der Zweck des Gesetzes einzuordnen? Ist der Zweck des Gesetzes die medizinische Versorgung, auch die Bereitstellung von tödlichen Medikamenten? Bei allem Eingeständnis, dass natürlich Palliativversorgung auch zur medizinischen Versorgung zählt, bleibt die Frage, ob das Bereitstellen tödlich wirkender Mittel zum medizinischen Zweck erklärt werden kann. Und da würde ich tatsächlich sagen, ist dies in den Urteilen vorher deutlich stärker zum Ausdruck gebracht worden. Wie das BVerwG eine allgemeine Rechtsnorm auf eine Ausnahme hin auslegt, das finde ich schon eine relativ gewagte Sache.

Maximilian Spohr: Rechtliche Kernfrage dieses Verfahrens ist also: Wie komme ich an ein tödliches Medikament, wenn kein Arzt mir hilft und es mir verschreibt? Man geht also zum Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte und kann dort einen Antrag stellen auf Erlaubnis eines Erwerbs eines solchen Mittels. Die Begründung für die Versagung an die Antragstellerin war, dass „die Art und der Zweck des beantragten Verkehrs nicht mit dem Zweck dieses Gesetzes, die notwendige medizinische Versorgung der Bevölkerung sicherzustellen, vereinbar ist.“

Ihnen, Herr Merkel, würde ich jetzt gern die Möglichkeit zur Replik geben. Wenn Sie uns aber trotzdem auch ein bisschen an den Entscheidungen der verschiedenen Instanzen entlangführen, wäre ich Ihnen sehr verbunden.

 

Reinhard Merkel: Also grundsätzlich teile ich erst einmal Peter Dabrocks Wunsch, auf die materiellen Inhalte dieser Fragen zu kommen und nicht nur die formellen, juristischen und rechtsdogmatischen Fragen zu erörtern. Eine Gelegenheit zur Richtigstellung: Mein Hinweis auf die Kollision mit dem Gewaltenteilungsprinzip in dem sogenannten Nichtanwendungserlass war nicht als Retourkutsche gedacht. Nur beiläufig kam mir in den Sinn, dass Herr Gröhe und Herr Spahn sich nicht an das grundsätzliche Gebot der Bindung der Verwaltung an höchstrichterliche Entscheidungen halten. Natürlich, formell kann man das begründen; aber in diese Dinge wollen wir jetzt nicht weiter einsteigen. Was ich schon für richtig halte: Es geht hier um Abwehrrechte.

Das Bild mit dem Aufschließen oder Zuschließen eines Tores mag ein wenig schief sein, aber der Staat ist auch nach dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts nicht der, der Natrium-Pentobarbital liefern und herausgeben soll. Selbstverständlich nicht. Er hat eine Blockade erlassen. Diese Blockade führt in dem konkreten Fall dazu, dass jemand, der Natrium-Pentobarbital erwerben will – was er, wenn es keine staatlichen Verbote gäbe, unschwer könnte – sozusagen festgehalten wird von der Norm, die ihm sagt: „Du nicht, denn Du willst Dich töten damit!“ Dieses Festhalten beeinträchtigt natürlich; es ist ein Eingriff in die Freiheitsrechte, es berührt das Abwehrrecht!

Nochmal, das Missverständnis, jetzt werde der Staat verpflichtet, Suizidmittel herauszugeben. Nein, wird er nicht! Er wird verpflichtet, die Blockade aufzuheben und es den Leuten zu ermöglichen, diese Mittel zu erwerben, was er vorher eben mit diesem Festhalten verhindert hat.

Um auf die konkreten Sterbehilfeprobleme zu kommen: Das Gericht hat sich große Mühe gemacht mit den Kriterien der extremen und nicht anders abwendbaren Notlage. Jetzt sagst Du, und das liegt zunächst mal als Frage nahe: Es mutet irgendwie seltsam an, dass eine solche existentielle Entscheidung von einer Verwaltungsbehörde getroffen werden soll. Ich sage: Wenn es solche Fälle gibt, dann muss irgendwer entscheiden, ob die Totalblockade zu einem Mittel, das einen humanen Suizid ermöglicht, aufgehoben werden soll oder nicht. Wir wollen diese Blockade ja nicht generell aufheben. Selbstverständlich hat das BVerwG recht, wenn es sagt: Natrium-Pentobarbital zu Suizidzwecken ohne weiteres herauszugeben, das geht nicht. Wir brauchen Kriterien für die extreme Notstandslage. Wenn es aber solche Notstandsfälle gibt, wer denn als der Staat, der vorher das absolute Verbot erlassen hat, soll darüber entscheiden, dass es in diesem konkreten Notstandsfall nicht mehr greifen soll? Und die Entscheidung des BVerwG, das in der Interpretation des Gesetzes zu leisten und es nicht in Karlsruhe vorzulegen, ist keineswegs abwegig. Diese gesetzliche Wendung „Genehmigung nur zu Zwecken der medizinischen Versorgung“ – die ist doch auslegungsbedürftig.

Ich habe überhaupt kein Problem zu sagen, in solchen extremen Notlagen gehört es zur medizinischen Versorgung, einen sanften Tod zu ermöglichen. Und wenn der nur über den Suizid möglich ist, ist das ein genuiner Bestandteil der medizinischen Versorgung. Das so verfassungskonform in diese Norm hineinzulesen, halte ich für unproblematisch; wiewohl ich sehe, dass die Forderung, die hätten das in Karlsruhe vorlegen müssen, auch etwas für sich hat.

 

Maximilian Spohr: Bevor ich Herrn Dabrock das Wort gebe, möchte ich das kurz erläutern. Die Vorinstanzen – das Verwaltungsgericht in Köln als auch das Oberverwaltungsgericht in Münster – haben mit Hinweis auf den Gesetzeszweck einen solchen Erwerb nicht zugelassen. Das Bundesverwaltungsgericht hat hier aber einen absoluten Notfall, einen Ausnahmefall definiert in seiner Entscheidung. Das BVerwG hat gesagt, diese Erlaubnis zum Erwerb dieses tödlichen Medikamentes sei dann ausnahmsweise möglich, wenn es sich um eine extreme Notlage für den Betroffenen handelt. Und diese Notlage ist wie folgt definiert: Erstens wenn die schwere und unheilbare Erkrankung mit gravierenden körperlichen Leiden, insbesondere starken Schmerzen verbunden ist, die bei dem Betroffenen zu einem unerträglichen Leidensdruck führen und nicht ausreichend gelindert werden können; zweitens der Betroffene entscheidungsfähig ist und sich frei und ernsthaft entschieden hat, sein Leben beenden zu wollen; und ihm drittens eine andere zumutbare Möglichkeit zur Verwirklichung des Sterbewunsches nicht zur Verfügung steht.

 

Peter Dabrock: Ich will trotzdem nur, um das nicht einfach so stehen zu lassen, zumindest sagen, dass ich das Kriterium der Alternativlosigkeit für extrem diffus erachte. Alternativlosigkeit ist im politischen Kontext ein Unwort, es gibt immer eine Alternative.

Das Problem ist doch, ob dieses Beispiel auf die Situation übertragbar ist, über die wir hier reden: nämlich die Frage der Suizidassistenz und gegebenenfalls sogar des ärztlich assistierten Suizids. Wir müssen bei diesen Fragestellungen auch darüber nachdenken, was das für die Gesellschaft bedeutet! Wir müssen darüber nachdenken, wie eine Rechtskultur – ich komme da eben von der Ethik her –, wie eine Inklusionskultur, wie eine Kultur des Umgangs mit Vulnerabilitäten aufrecht erhalten werden kann, und dabei trotzdem die Einzelschicksale, die große Not dennoch berücksichtigt werden können.

Erstens: welche palliativen Möglichkeiten; zweitens: welche Palliativ-Sedierungsmöglichkeiten und drittens: welche Suizidbeihilfemöglichkeiten haben wir in Deutschland? Hier wird immer der Eindruck erweckt, als ob wir ein von um Macht ringenden Kirchen beeinflusstes hyperkonservatives Land sind. Wenn es um Suizidbeihilfe geht, sind wir eins der liberalsten Länder der Welt – allerdings nicht, was den ärztlich assistierten Suizid anbetrifft. Es hat bisher noch keinen Fall gegeben, allen dramatischen Äußerungen zum Trotz, in dem ein Arzt nach § 217 StGB verurteilt worden wäre, obwohl es vielleicht sinnvoll gewesen wäre.

 

Reinhard Merkel: Für mich als Strafrechtler ist es immer ein bisschen seltsam, dieses Argument vorgehalten zu kriegen. Zwei Anmerkungen dazu: Gewiss ist der Fall des eingeklemmten und verbrennenden Autofahrers, der oft zitiert wird, um die Möglichkeit solcher extremen Notstandslagen zu zeigen, vielleicht noch gravierender als der Fall des BVerwG. Aber: die Frau war kein Fall für die Palliativmedizin, sie war keine Sterbende, sie hätte noch jahrelang leben können. In einer Situation, die extrem qualvoll war, und – und jetzt kommt mein entscheidendes Sachargument – in der die Grenze des Erträglichen zu bestimmen ausschließlich Sache der betroffenen Person sein muss.

Es ist auch ein moralisches Unding, solchen Menschen zu sagen: Wir hören, du willst sterben, wir verstehen auch die schlimme Situation. Wir haben aber etwas: die bessere, die richtige Alternative! Und den Unterton mitzuliefern: Wir wissen besser als Du, dass Du das aushalten kannst.

In dem Fall der Frau – und der gehört in die Kategorie extremer Sterbensnot – mag es noch schlimmer gewesen sein. Es geht einfach nicht an zu sagen: Wir haben eine Alternative, und wir sind die, die verstehen, dass sie für dich die bessere ist. Das meinte ich in meinem Eingangsstatement: das ist ein tiefer und rüder Eingriff in das innerste Ich eines anderen. Mit Autonomiefetischismus hat das nichts zu tun. Ich bin kein Autonomiefetischist. Aber im allerinnersten Bereich des eigenen Leidens und in existentieller Sterbensnot vorgeschrieben zu bekommen, dass man das aushalten kann, ist eine Verletzung der Substanz einer Person. Und deswegen tangiert es die Menschenwürde.

Auch das irritiert mich als Strafrechtler: wenn gesagt wird, in dem Urteil wird von Alternativlosigkeit geredet, aber wir hätten doch die Alternative der Palliativmedizin. Und dann kritisierst Du: Jetzt soll die Behörde entscheiden, dass es keine Alternative gibt. In jeder Notstandslage ist zwingende Voraussetzung für die Rechtfertigung, dass es kein milderes Mittel, keine mildere Alternative gibt. Für den ordinären strafrechtlichen Notstand – „nicht anders abwendbar“ heißt das im Gesetz – ist die Alternativlosigkeit die reguläre Voraussetzung. Das berührt die Rechtskultur als Inklusionskultur überhaupt nicht.

Natürlich sind das extreme Ausnahmefälle! Es wäre ja noch schöner, wenn man sagen würde: Alle naselang verbrennt ein Autofahrer, gibt es dieses extreme Leid und jenes und soll deshalb jemandem zum Suizid geholfen werden. Nein! Aber wir brauchen für diese Extreme – deswegen heißt das ja Notstand – ebenfalls Kriterien. Die müssen für solche Notlagen verallgemeinerbar sein.

Maximilian Spohr: Eine Bitte, Herr Dabrock. Es hat ja zu diesem Urteil auch eine intensive Auseinandersetzung im Deutschen Ethikrat gegeben. Könnten Sie die umreißen?

Peter Dabrock: Seit einer dreiviertel Stunde diskutieren wir die verschiedenen Auffassungen. Das brauche ich nicht noch einmal zu wiederholen. Aber ich muss auf den Vorwurf von Reinhard Merkel reagieren, ich und der Staat dürfe mir nicht das Recht anmaßen, in den höchstpersönlichen Entscheidungsbereich der Frau hinein zu regieren, wie sie sich suizidieren will und was für sie der rechte Weg ist. Darauf kann ich nur sagen: Aber selbstverständlich darf der Staat das, alles andere wäre doch schlimm!

Natürlich wird der Staat etwas dagegen haben, wenn jemand sagt: Ich will mich mitten in einem Kaufhaus in die Luft sprengen! Was will ich damit sagen? Ich will darauf hinaus, dass der Staat die Blockade bei der Bereitstellung des Medikaments verteidigen muss – eine Frage, von der Du aus meiner Sicht fälschlicherweise sagst, dass es sich primär um eine abwehrrechtliche, nicht um eine anspruchsrechtliche handelt. Warum verteidigt der Rechtsstaat bisher diese Blockade? Er verteidigt sie, weil er der Auffassung ist, dass sonst sowohl auf der individuellen Ebene aber auch auf der rechtskulturellen Ebene eine Schräglage entsteht, in der er seine Schutzaufgaben dann nicht mehr umsetzen kann. Er darf deswegen sagen, dass es zumutbare mildere Mittel gibt. Dann sagst Du: Nein, da dürfen wir nicht hinein regieren. Dann muss man sagen: Der Staat muss diese Blockade nicht aufheben, wenn andere Möglichkeiten diesseits des Brutalsuizides gegeben sind.

Ich glaube, wir müssen einfach sehen: Dieser Fall hatte einen gewissen Show-Charakter, der aus nachvollziehbaren Gründen, das will ich doch überhaupt nicht in Abrede stellen, so durchgezogen wurde. Aber dann darf man umgekehrt nicht den Eindruck erwecken, als ob es da keine Alternativen gegeben hat. Man wollte mit dem Fall etwas erreichen. Das nehme ich zur Kenntnis. Aber man darf nicht sagen, dass es keine zumutbare Möglichkeit zur Verwirklichung des Sterbewunsches gegeben habe.

Reinhard Merkel: Ein Missverständnis, wenn ich das schnell korrigieren kann: Ich habe nicht gesagt, dass der Staat sich überhaupt nicht in die Entscheidung einmischen darf, wie man aus dem Leben gehen will, etwa indem man dabei Dritte schädigt. Er darf aber nicht die Entscheidung an sich ziehen, was jemand noch aushalten kann, der in einer erkennbar extremen Notlage ist. Die Frau war nicht am Sterben, sie war kein Fall für die Palliativmedizin – und ihre Alternative war der Suizid in der Schweiz.

Das BVerwG hat nicht entschieden: Ihr habt rechtswidrig gehandelt, weil Ihr der Frau nicht erlaubt habt, Natrium-Pentobarbital zu erwerben; sondern weil ohne jede Begründung pauschal gesagt worden ist: Das kommt nie in Frage, egal in welchem Fall! Deswegen war das rechtswidrig. Wenn die einzige Alternative zum Suizid dieser Frau in ihrer vertrauten Umgebung zu Hause die ist, in die Schweiz zu fahren, dann ist das skandalös. Das können sich viele nicht leisten, das kostet Geld und man braucht Helfer. Gegebenenfalls kann dann sogar § 217 StGB noch bedrohlich wirken. Noch einmal, was der Staat nicht darf: Er darf in objektiv beschreibbarer und von niemandem wirklich bestrittener extremer Notlage nicht sagen: „Was du noch aushalten kannst, definiere ich.“

Peter Dabrock: Wenn Sie sagen, § 217 StGB verbiete den Ärzten die Suizidassistenz, sage ich: Im § 217 StGB steht zu den Ärzten überhaupt nichts drin! Auch die Musterberufsordnung der Ärztekammer und die unterschiedlichen Variationen in den Landesärztekammern geben das nicht her. Was Sie und Herr Hilgendorf mit dem § 217 StGB identifizieren, dass ist jedenfalls unter Juristen ungewöhnlich.

Das andere, was ich extrem gefährlich finde und wo ich finde, da müssen wir aufpassen: dass wir so nicht reden, Suizid gehöre zu den Grundrechten. Also ich habe eine andere Grundrechtsliste, wo wir gerade über 70 Jahre Grundgesetz in diesen Tagen nachdenken. Wo kommen wir denn da hin, wenn wir sagen Suizid ist ein Grundrecht? Liebe Leute, da müssen wir auf unsere Sprache achten. Das möchte ich in dieser Runde deutlich machen, dass ich eine solche Sprachverschiebung für extrem gefährlich erachte, das ist mir ein Anliegen.

Noch kurz zum freiwilligen Verzicht auf Nahrung am Lebensende. Dazu gibt es eine ganz, ganz intensive Debatte. Es gibt eigentlich niemanden, der jetzt den § 217 StGB dazu instrumentalisiert, um diese Alternative sozusagen vom Hof zu fegen. Selbstverständlich sollen und müssen Ärzte im Sterben begleiten dürfen! Es wäre absurd und politisch böswillig, wenn man das irgendwie mit dem § 217 StGB zusammenbringen wollte. Machen wir doch die Bevölkerung an der Stelle nicht unsicherer als es irgendwie nötig ist! Machen wir nicht mehr Skandale, als da sind. Wir haben keine Verurteilungen en masse, wie uns hier manche Leute nahelegen wollen. Wir sind mit § 217 StGB in einer sicheren rechtlichen Lage, auch nach allen Urteilen der jeweiligen Fachgesellschaften. Wir haben sehr viele Instrumentarien, mit denen wir dafür sorgen, dass Menschen in Deutschland sich nicht irgendwann die Frage stellen müssen: Warum bin ich noch da? Trotzdem gibt es gleichzeitig existentielle Nöte, die ich nicht herunterspielen will, die ernst genommen werden müssen.

 

 

DR. MAXIMILIAN SPOHR   ist Jurist mit den Schwerpunkten Bürger- und Menschenrechte. Nach seiner Promotion zum internationalen Menschenrechtssystem der Vereinten Nationen war er mehrere Jahre für die Max-Planck-Stiftung in Afghanistan und Pakistan im Bereich der Rechtsstaatsförderung tätig. Ende 2016 wechselte er als Menschenrechtsreferent zur Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit, wo er seit 2018 für den Bereich Bürgerrechte zuständig ist.

PROF. DR. REINHARD MERKEL   war bis zu seiner Emeritierung (2015) Professor für Strafrecht und Rechtsphilosophie an der Universität Hamburg. Er ist Mitglied im Deutschen Ethikrat und in der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen u.a. Recht und Ethik in der Medizin und den Neurowissenschaften.

PROF. DR. PETER DABROCK   ist Professor für Systematische Theologie (Ethik) an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Er gehörte von 2012 bis 2020 dem Deutschen Ethikrat an, dessen Vorsitz er in den letzten vier Jahren inne hatte. Dabrock ist Mitglied in der Kammer für Öffentliche Verantwortung der EKD, gehörte bis 2016 der European Group on Ethics in Science and New Technologies an und ist Mitherausgeber der Zeitschrift für Evangelische Ethik.

Anmerkungen:

[1] BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 26. Februar 2020 – 2 BvR 2347/15, Rn. 27.

[2] S. Will, vorgänge Nr. 221/222, S. 153-157; Spittler/Will, vorgänge Nr. 219, S. 134-136; Will, vorgänge Nr. 218, S. 117-121.

[3] Augsberg, S. & Dabrock, P. (4.12.2017): (Selbst-)Tötung als Therapie? Geht es nach dem Bundesverwaltungsgericht, darf der Staat einen Sterbewunsch überprüfen und zum Handlanger eines Suizids werden. Eine Kritik, Frankfurter Allgemeine Zeitung, S. 6.

[4] S. BVerwG, Urteil vom 2.3.2017 – 3 C 19.15, Rn. 2.

 

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