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„Die größte Vernichtung von Produk­tivei­gentum in Friedens­zeiten!“

Ein Gespräch mit Christa Luft. In: vorgänge Nr. 224 (4/2018), S. 25 – 39

„Die größte Vernichtung von Produktiveigentum in Friedenszeiten!“

Prof. Dr. Christa Luft   wurde 1938 in Krakow am See geboren und studierte von 1956 bis 1960 an der Hochschule für Außenhandel in Berlin-Staaken sowie der Hochschule für Ökonomie (HfÖ) in Berlin-Karlshorst. Sie promovierte 1964 und habilitierte sich 1968 mit Arbeiten zu außenwirtschaftlichen Themen. 1971 wurde sie als ordentliche Professorin für sozialistische Außenwirtschaft an die HfÖ berufen, von 1973 bis 1977 leitete sie die dortige Sektion Außenwirtschaft. Von 1978 bis 1981 war sie stellvertretende Direktorin des Internationalen Ökonomischen Forschungsinstituts beim Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) in Moskau. Anschließend kehrte sie an die HfÖ zurück, 1988 wurde sie als deren Rektorin berufen. In der DDR-Übergangsregierung unter Hans Modrow war sie vom 18. November 1989 bis zum 18. März 1990 Ministerin für Wirtschaft sowie Erste Stellvertreterin des Vorsitzenden des Ministerrates. Danach gehörte sie der ersten frei gewählten Volkskammer der DDR bis zu deren Auflösung an. Nach der Abwicklung der HfÖ und einer Dozententätigkeit am von ihr mit gegründeten Berliner Institut für Internationale Bildung wechselte Sie in die Bundespolitik. Von 1994 bis 2002 gehörte sie als direkt gewählte Abgeordnete für die PDS dem Deutschen Bundestag an, wo sie zunächst für ihre Gruppe und dann die Fraktion den stellvertretenden Vorsitz ausübte und zugleich das Amt der haushalts- und wirtschaftspolitischen Sprecherin bekleidete. Im Interview spricht Christa Luft über die Abwicklung der DDR-Wirtschaft durch die Treuhandanstalt, deren ökonomische wie soziale Folgen bis heute die Entwicklung des Ostens prägen.

Ich beginne mit einer simplen Frage: Wäre die DDR, weil sie pleite war, auch ohne eine friedliche Revolution untergegangen? Hätte man die DDR auch ohne das Aufbegehren der Bürger aufgeben müssen, weil sie ökonomisch gar nicht länger existieren konnte?

Ja, pleite und marode sind die zwei Adjektive, mit denen die implodierte DDR gern beschrieben wird – jedenfalls aus westlicher Sicht. In Politikerreden und Publikationen dominiert diese Zuschreibung bis heute. Ich war lange Zeit als Abgeordnete im Deutschen Bundestag: selbst als aus neutralen Quellen authentische Fakten zum ökonomischen Zustand der DDR vorlagen, konnte ich im Plenum reden, was ich wollte; was einmal in den Köpfen war, das bekam man nie wieder raus. So zum Beispiel diese Sache mit der Pleite.

Ich will überhaupt nicht den Eindruck erwecken, dass die DDR-Wirtschaft nicht Wunden, auch schwere Krankheiten hatte. Aber ich habe mich immer dagegen gewehrt, sie „pleite“ zu nennen. Warum? Erstens: Pleite ist ein Staat, wenn er seine Schulden nicht mehr zum Zeitpunkt ihrer Fälligkeit bezahlen kann. Das war nie der Fall. Dafür wurde allerdings mitunter manches unternommen, wo man sich heute nur an den Kopf fassen kann. Es gab die Losung: Liquidität geht vor Rentabilität, d.h. wir müssen flüssig sein, egal was es kostet! So wurden immer neue Quellen erschlossen, um an Devisen zu kommen. Am Ende hat man Pflastersteine von Rügener Landstraßen verkauft, weil die im Westen begehrt waren, und man hat leider auch Antiquitäten verkauft, die in einem Museum doppelt vorhanden waren.

Pleite ist ein Staat zweitens, wenn er keinen Kredit mehr bekommt. Auch das ist nicht passiert. Niemand hat der DDR einen Kredit verweigert. Es war sogar so, dass der letzte Strauß-Kredit nie angegriffen wurde. Der lag auf einer Schweizer Bank – sozusagen als Sicherheit für Gläubiger und als Zeichen eigener Solvenz. Aber vergessen werden darf nicht, dass die DDR am Ende 4,40 DDR-Mark aufwenden musste, um im Export eine Westmark zu erwirtschaften. Das frisst auf Dauer natürlich die Substanz auf.

Damit ich nicht falsch verstanden werde: Es geht mir nur um den Begriff der Staatspleite, wie er definiert wird und wie man ihn so für die DDR zum Zeitpunkt ihres Scheiterns nicht verwenden sollte.

Wir haben an der Hochschule für Ökonomie die Statistik der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich Basel angeguckt, die war sehr solide und nicht politisch beeinflusst. Diese Statistik wies damals 10 Milliarden Dollar DDR-Schulden aus. Das ist weit entfernt von einer Staatspleite. Diese Zahl habe ich auch in meinen Vorlesungen verwendet. Zum Glück hat mich keiner verpetzt, denn das Nutzen von Statistiken, die nicht aus der DDR oder aus RGW-Quellen stammten, war uns offiziell untersagt. Welche Ironie der Geschichte! Der Vorwurf der Staatspleite speist sich zum großen Teil aus einer „Geheimanalyse über den wahren Zustand der DDR-Wirtschaft und Schlussfolgerungen“.

Welche Geheimanalyse?

Die hatte Egon Krenz Mitte Oktober 1989 in Auftrag gegeben nach Übernahme des Amtes des Generalsekretärs der SED. Mir war die zunächst nicht bekannt, als ich in den Ministerrat kam. Erst ein Jahr später, bei den Recherchen für meinen Treuhand-Report, erzählte mir der Pressesprecher der Treuhand von einer „Geheimanalyse“ und händigte mir eine Kopie aus.

Wer hatte dieses Papier erstellt?

Sechs Autoren sind ausgewiesen, darunter Gerhard Schürer, Chef der Plankommission; Alexander Schalck-Golodkowski, Chef des Bereichs Kommerzielle Koordinierung[1] und Gerhard Beil, Außenhandelsminister. Alle sechs waren Insider die wirtschaftliche Lage der DDR betreffend. Und darauf stützen sich heute die genüsslich, die immer noch sagen, die DDR sei doch pleite gewesen.

Diese Geheimanalyse wurde am 30. Oktober 1989 im Politbüro der SED beraten und einstimmig beschlossen. Die erste Hälfte befasst sich mit dem, was die DDR-Wirtschaft nach ‘45 unter großen Aufwendungen und Schwierigkeiten geschaffen hat: eigene Hochöfen, eigene Werften, das Wohnungsbauprogramm, Sozialleistungen … Und dann kommen gravierende Probleme: Umweltsünden, Ersatzteilprobleme, nicht funktionierender Materialfluss und die dadurch verursachten teuren Unterbrechungen des Arbeitsablaufs, die gesunkene Akkumulationsrate, fehlende Hightech-Artikel für die Bevölkerung usw. Und dann der Hammer: Die DDR hat zum gegenwärtigen Zeitpunkt 49,9 Milliarden D-Mark Schulden gegenüber Ländern mit konvertierbarer Währung (also nicht-sozialistischen Ländern). Diese Verbindlichkeiten pünktlich zu bedienen und eine weitere Verschuldung zu stoppen, würde im Jahre 1990 eine Senkung des Lebensstandards um 25 bis 30 Prozent erfordern, um das Exportvolumen erhöhen zu können. Eine solche Drosselung des Inlandskonsums könne der Bevölkerung nicht zugemutet werden.

Das hätte wirklich nicht funktioniert. Sie erwähnten vorhin die Daten der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich. Die weichen ja erheblich von den Zahlen aus diesem Papier ab! Wo kommt die Differenz her?

Die dortigen Banker sprachen von 10 Milliarden Dollar, das waren nach damaligem Wechselkurs rund 20 Milliarden D-Mark. Aber es geht ja weiter, ich komme noch zu Ihrer Problematik. Schalck-Golodkowski, zusammen mit Schürer der Hauptautor des Papiers, ging Anfang Dezember 1989 bei Nacht und Nebel in den Westen. Dort wurde er wochenlang von Herrn Schäuble und anderen „vernommen“. Die Westseite wusste also darüber viel eher und mehr als wir, die wir in der DDR-Regierung saßen.

Nach Schalck-Golodkowskis Flucht wurde sein Imperium durchforstet. Da stellte sich heraus, was physisch an Werten da war, verborgen in Tresoren in Pankow und in der Wallstraße: Gold, Silber, Platin, Perlen, alles Mögliche. Als das bewertet war, reduzierten sich die Schulden erheblich.

Dann wurden die Außenstände, die die DDR im Außenhandel gegenüber anderen Ländern hatte, ermittelt. Zahlungsziele zu geben war normal, hat auch die DDR gemacht. Das wurde alles zusammengerechnet. Ich will´s abkürzen. Nach dem Weggang von Schalck-Golodkowski musste Schürer in der Volkskammer Rechenschaft geben über die Angelegenheiten der Plankommission und wurde natürlich als Mitautor dieser Studie befragt, was es mit den Horrorzahlen auf sich hat. Alle fragten: ‚Wie konntet Ihr nur so etwas in die Welt setzen?‘ Darauf Schürer: ‚Ja, aus zwei Gründen. Erstens: Wir wollten noch einmal einen Aufschrei machen gegenüber der Parteiführung, dass etwas geschehen muss. Und zweitens: Schalck hatte eine eigene Zahlungsbilanz in seinem Imperium, die enthielt mehr Forderungen als Verbindlichkeiten in freien Devisen. Schalck war aber nicht bereit, die mit der Staatszahlungsbilanz zu vereinen.‘ Als die positiven Außenstände aus dem Schalck´schen Imperium zusammengetan wurden mit den negativen Zahlen aus der Staatsbilanz, verringerte sich das Staatsdefizit weiter. Das war noch im Dezember 1989.

Dann kam nach den Märzwahlen 1990 die de Maizière-Regierung ans Ruder. Da war Herr Romberg von der SPD, ein von mir sehr geschätzter Mann, Finanzminister. Herr Romberg musste in Abständen immer wieder auf die Bühne und eine neue Zahl sagen, wie nun wieder der Stand ist. Noch zu seinen Zeiten reduzierten sich die Schulden auf etwa 25 Milliarden D-Mark. Ende August 1998 brachte dann die Bundesbank ein Bändchen heraus mit dem Titel: „Die Zahlungsbilanz der ehemaligen DDR 1975 bis 1989“. Das Ergebnis: die Schulden betrugen Ende 1989, also wenige Wochen vor der Währungsunion, 19,8 Milliarden D-Mark.

Inzwischen sind wir ja bei der Staatsverschuldung ganz andere Maßstäbe gewohnt.

Ja, ganz genau. Bundesbankpräsident Karl Otto Pöhl hielt die Verschuldung der DDR, er ging Anfang Februar 1990 noch von 30 Mrd. DM aus, nicht für extrem hoch – wörtlich: ‚Uns hat diese Summe nie beunruhigt.‘ Und nach mehrjährigen Recherchen kam die Bundesbank dann auf die genannte wesentlich geringere Summe.

Aber glauben Sie vielleicht, das interessiert irgendwen von den Politgrößen der Bundesrepublik? Niemanden! Als der Bundesbank-Report heraus kam, hatte allein Berlin als Hauptstadt der Bundesrepublik 120 Milliarden DM, also rund 60 Milliarden Euro Schulden! Dazu sagte der damalige Regierende Bürgermeister Wowereit: ‚Berlin ist arm, aber sexy.‘

Ich fasse nochmal zusammen: Die DDR war im echten Sinne nicht pleite, sagen Sie. Aber es gab natürlich eine ökonomische Nicht-Konkurrenzfähigkeit mit dem Westen.

Ob die DDR Ende der 1980er Jahre noch eine Chance hatte, weiterzubestehen – das ist erstens eine spekulative Frage, niemand kann ein bibelfestes Ja oder Nein sagen. Und zweitens neige ich zu der These von Siegfried Wenzel, langjähriger stellvertretender Vorsitzender der Staatlichen Plankommission; der hat anno 2000 ein Buch mit dem Titel „Was war die DDR wert?“ herausgebracht. Dort steht ein Satz, der mir zusagt: „Die DDR war nicht pleite, aber sie hatte keine Chance.“ Denn es geht ja nicht nur um irgendwelche ökonomischen Ziffern, sondern auch um das politische Umfeld. Die Sowjetunion, für die wir im Kalten Krieg 40 Jahre lang gewissermaßen das Faustpfand waren, ließ uns peu á peu fallen. Wir wurden irgendwie lästig. Ohne die Sowjetunion war eine Weiterexistenz der DDR nicht möglich. Ähnlich verhielten sich Polen, Ungarn und ein paar andere Bruderländer. Die wollten uns am Ende z.B. ihre Pfirsiche und ihre Ikarus-Busse nicht mehr gegen Transfer-Rubel verkaufen, sondern die wollten „richtiges“ Geld. Als wir das nicht konnten, haben sie ihre Exporte an uns reduziert. Insofern leuchtet mir die These von Wenzel ein. Der Westen mischte sich immer mehr ein und hat am Ende mit der D-Mark gewunken. Das hat auf die Bevölkerung gewirkt, darf man ja nicht vergessen. Wir hätten alleine nicht weiterexistieren können. Es wäre irgendeine andere ökonomische Kooperation notwendig gewesen.

Sie sagen, der RGW-Verbund hat nicht mehr funktioniert, die Rohstoffe wurden immer teurer. Aber die DDR war davon abhängig, oder?

Ja, das betraf besonders das Erdöl. In der zweiten Hälfte der 1970er und in den 1980er Jahren kürzte die UdSSR die Liefermenge und hob die Preise an. Das belastete die DDR enorm. Zudem war ihre Wirtschaft vorrangig eingestellt auf den Bedarf der Sowjetunion. Um die geforderten Möbel zu produzieren braucht man Holz – das hatten wir gar nicht, mussten wir importieren! Für Schiffe braucht man Stahl, den mussten wir auch importieren.

Aber wie geht das, dass die Sowjetunion die DDR als Verbündeten fallen lässt, wenn sie ökonomisch doch so abhängig von den Zulieferungen aus der DDR war?

Darüber gibt es viele Spekulationen. Es hängt nach meiner Meinung viel mit Gorbatschow zusammen. Gorbatschow liebte das Turnen auf der internationalen Bühne und erhielt dort immer unendlichen Applaus. Er glaubte, wenn er ein paar lästig gewordene Sachen loslässt, wird der Westen das honorieren und seine kaputte Wirtschaft aufpäppeln. Falin, sein außenpolitischer Berater, beschwerte sich immer, dass Gorbatschow die DDR eigentlich verschenkt hat. Er saß an einer Stelle, die den Westen interessierte und hat nichts daraus gemacht, auch nicht für sein eigenes Land. Er hätte ganz andere Dinge für sein Land organisieren können; anders als das, was dann unter Jelzin passiert ist. Jelzin hat sein Land sozusagen ‚für einen Apfel und ein Ei‘ mit Hilfe amerikanischer Berater privatisieren lassen, woraus auf der einen Seite die Oligarchen, auf der anderen Seite die Armutsheere entstanden.

Boris Jelzin und Helmut Kohl waren Saunafreunde. Wir bekamen im Haushaltsausschuss des Bundestags, dem ich angehörte, immer mitgeteilt, was die beiden verhandelt hatten. Die DDR hatte am Ende gegenüber der Sowjetunion ein Guthaben in Höhe von 12 Milliarden Transferrubel. Die DDR-Forderungen gegenüber den anderen RGW-Ländern, selbst bis zum kleinen Kuba, hat die Bundesregierung eingetrieben bis zum letzten Pfennig. Von dem, was die Sowjetunion Deutschland schuldete, blieben ganze 500 Millionen D-Mark übrig, die Jelzin zahlen musste. Man macht sich keinen Begriff, was da verschleudert worden ist an Arbeitsleistungen, an denen die Werktätigen der DDR über Jahrzehnte beteiligt waren.

Sie haben einen sehr außenwirtschaftlichen Blick. Ich sehe das von Innen, unter dem Gesichtspunkt der Arbeitsproduktivität. Der Unterschied in der Arbeitsproduktivität wird meist mit etwa 40 Prozent angegeben. Wo liegen die Ursachen dafür, dass die DDR ökonomisch nicht konkurrenzfähig geworden ist mit dem Westen? Ich habe in der DDR Schlosser gelernt mit Abitur. Da habe ich kleine Werkzeugmaschinenfabriken erlebt, wo an Uralt-Maschinen gearbeitet wurde. Wir haben mit unserer Produktion die Ausrüstung für Westschiffe hergestellt – alles per Hand, mit einer vorsintflutlichen Technik.

Ja, diese Erfahrung kann ich bestätigen und habe immer den Hut gezogen vor den Fertigkeiten der Beschäftigten. Die DDR war nicht konkurrenzfähig gemessen an der Konkurrenzfähigkeit der Bundesrepublik. Gegenüber anderen Ländern wie Italien, Österreich, Finnland war das keine Frage. Ein Handicap der DDR war, dass sie im Laufe der Jahrzehnte immer weniger Investitionsmittel zur Verfügung hatte. Die Akkumulationsrate sank von Jahr zu Jahr. Angefangen hat der Rückstand schon nach dem 2. Weltkrieg mit dem, was wir heute als Teilungsdisproportionen bezeichnen: Der Westen hatte die Rohstoffe, die hatten wir nicht; die hatten die Steinkohle, wir mussten die Braunkohle erst aus der Erde buddeln. Dann kamen die Reparationszahlungen hinzu, die im Grunde einseitig von der DDR für ganz Deutschland erbracht wurden. Laut Potsdamer Abkommen hätte das später aufgeteilt werden müssen. Drittens gehörten wir mit dem RGW einer Wirtschaftsgemeinschaft an, in der die Teilnehmerländer alle ein sehr unterschiedliches technisches und ökonomisches Niveau hatten. Dazu kamen solche Hindernisse wie das westliche Stahl-Embargo oder die Kredit-Restriktionen, die uns belasteten. Aber es wäre falsch, unsere wirtschaftliche Schwäche allein darauf zu schieben.

Wir hatten ein Wirtschaftssystem, das im Grunde das sowjetische System kopierte. Das war aber für ein ganz anderes Land ausgelegt, für ein Riesenland. Dort brauchten die ein Zentrum, um das zusammenzuhalten! Diese Art von Überzentralisierung wurde auf die kleineren Staaten übertragen. Die Überzentralisierung verweigerte den Unternehmen Rechte. Die mussten den Gewinn, den sie erzielten, fast zu 100 % abführen. Wenn sie einen Kredit brauchten für Investitionen, mussten sie beim Ministerium darum betteln; wenn sie Glück hatten, haben sie ein bisschen was gekriegt. Das erstickt Eigeninitiative!

Dann kam ‘72 diese elendigliche Enteignung der restlichen kleinen und mittelständischen privaten Unternehmen. Das hat viel Produktivität, Flexibilität und Motivation gekostet. Ich habe schon zu DDR-Zeiten meinen Studenten gesagt, dass ich dafür kein Verständnis habe. Wenn jemand unternehmerisch tätig sein möchte, darin sein Lebensziel sieht, soll man ihn lassen! Er übernimmt auch das Risiko dafür. Aber dafür war ja keine Einsicht zu gewinnen bei der DDR-Obrigkeit.

So gibt es eine ganze Reihe von Dingen, die dazu führten, dass die Produktivität immer weiter abfiel. Und dann das Wettrüsten! Was da an Geld verpulvert wurde!

Gehen wir mal weiter zur Währungsunion. War die Währungsumstellung die Ursache für den Zusammenbruch der DDR-Wirtschaft?

Die Ursache sicher nicht, aber doch der Auslöser. Es war nicht so, dass im Westen niemand wusste, was in der DDR-Wirtschaft los ist. Die Manager sind ein- und ausgegangen in den Betrieben. Die DDR war für die alte BRD der größte Handelspartner. Also wer mit den Fragen beschäftigt war, musste und konnte wissen, was passiert, wenn eine Wirtschaft, die bis zum 30. Juni eines Jahres 4,40 Mark im Innern ausgezahlt bekommt für eine im Export erlöste Westmark, wenn die ab 1. Juli nur noch eine D-Mark bekommt. Und genau das ist geschehen! Was wäre denn passiert, hätte man den österreichischen Schilling 1:1 an die D-Mark angebunden? Österreich wäre kaputt gegangen, keine Frage! Die Ökonomen hatten in dieser Zeit aber keine Stimme, weder im Westen noch im Osten. Die Politik hatte das Sagen, und sie hat die Interessen der großen Wirtschaft bedient.

Die Frage ist, warum die Politik es so gemacht hat. Sie sagen, wegen der Interessen der großen Wirtschaft. Aber was zusammenbricht, muss ja später alimentiert werden.

Dist natürlich so, aber das hat niemand gesagt! Die Treuhand hat 2 Millionen Arbeitslose hinterlassen und eine kleinteilige Wirtschaftsstruktur. Viele, vor allem große Unternehmen wurden zerschlagen bzw. dicht gemacht. Hätte man den Beschäftigten eine Chance gegeben oder überhaupt verhindert, dass so viele Unternehmen abgewickelt werden, wäre das billiger geworden für den Staatshaushalt, als nachher die vielen Menschen zu alimentieren. Viele Menschen sind daran, was mit ihnen geschehen ist, kaputt gegangen – seelisch und auch physisch. Viele leiden heute noch daran.

Ich finde, man hat damals diesen Umbruchprozess einfach technizistisch vollzogen, überhaupt nicht sozial und auch nicht ökologisch gedacht. Das Ganze sollte sehr schnell gehen. Ich kenne viele westdeutsche Ökonomen, die sich an den Kopf gegriffen haben und die sagten: Das ist doch nicht möglich! Selbst Karl Otto Pöhl, der damalige Bundesbankpräsident, kam am 6. Februar 1990 zu mir und wollte sich über die geplante Wirtschaftsreform informieren. Seine These war: Man muss erst die Wirtschaft reformieren, bevor man eine einheitliche Währung einführen kann. Das dauert eben ein paar Jahre, keine Frage. Als Pöhl am 7. Februar 1990 aus der Maschine von Berlin nach Köln/Bonn aussteigt und im Radio hört, wie Kohl bei einer Rede im Bundestag den Ostdeutschen anbietet, alsbald über die D-Mark als Zahlungsmittel verfügen zu können, da habe er, wie er mir später sagte, fast einen Herzinfarkt gekriegt. Und ein Jahr später ist er dann auch zurückgetreten, weil er das nicht mehr mitmachen konnte und wollte.

Ich habe im Ohr, dass Sie die Idee der Treuhand entwickelt haben. Was war Ihr Plan, Ihre Idee von der Treuhand?

Nein, das ist völlig verkehrt, das sind Fake News! Wissen Sie, ich bin deshalb so allergisch darauf, weil das in einem Buch auftaucht, für das ein namentlich nicht genannter Journalist mit dem Ehepaar Honecker gesprochen hatte, als die bei dem evangelischen Pastor in Lobetal einquartiert waren. In einem der Gespräche soll Frau Honecker gesagt haben: ‚Ach, die HfÖ war ja schon immer eine revisionistische Denkfabrik. Und solche Gestalten wie Dieter Klein, Michael Brie und Christa Luft, die hatten die Treuhand schon lange vorgedacht.‘ Aber das ist eine erfundene Story!

Sie haben mit der Idee „Treuhand“ gar nichts zu tun, sagen Sie?

Also das Wirtschaftsreformkonzept der Modrow-Regierung, für das ich verantwortlich war, enthält weder den Begriff noch das, was später daraus geworden ist. Uns schwebte keine komplette Privatisierung des Volkseigentums vor. Wir wollten das Volkseigentum produktiver, beweglicher, anziehender machen für Menschen. Wir haben uns zum Beispiel dafür eingesetzt, dass die Gewerbefreiheit eingeführt wird; dass privates kleines Eigentum von unten entstehen kann; dass die 1972 Enteigneten, wenn sie denn noch leben, ihr Eigentum zurückbekommen können (oder die Erben, wenn die es wollen). Wir wollten Joint Ventures zulassen. Das alles waren Privatisierungsschritte. Und wir wollten aus den großen Kombinaten ganz schnell die Abteilungen herauslösen, die mit dem Kerngeschäft nichts zu tun hatten. Jedes Kombinat hatte eine eigene Bauabteilung, eine eigene Transportabteilung usw. – weil entsprechende Leistungen am Markt nicht zu beschaffen waren. Das hat natürlich Produktivität gekostet. Deshalb wollten wir das herauslösen. Daraus wären kleine private Unternehmen entstanden. Aber uns schwebte nicht vor, die Infrastruktur und große Kombinate komplett zu privatisieren.

Die Treuhand, die dann plötzlich auf‘s Trapez kam, ist eine Sturzgeburt. Sturzgeburt vor allem aus einem Grund: Kohl bot der DDR-Bevölkerung mitten im Wahlkampf die D-Mark an. Begeisterungsstürme! Dass die Wahlen am 18. März 1990 nicht so ausgehen würden wie die vorigen Volkskammerwahlen, war uns vollkommen klar. Es musste etwas geschehen mit dem Volkseigentum, weil das Grundgesetz zwar auch Gemeineigentum schützt, aber die Praxis sah eben anders aus. Also was machen wir mit den volkseigenen Kombinaten? Niemand sollte unterschätzen, dass die Modrow-Regierung ganze vier Monate im Amt war – keine Zeit, um irgendwelche revolutionären Sachen aus der Tüte zu zaubern. Die Idee unserer Regierung – da waren ja neben der SED auch CDU, LDPD, NDPD und die Bauernpartei beteiligt – war: eine komplette Privatisierung, zumal im Hau-Ruck-Verfahren, kommt für uns nicht in Frage. Bevor es weiter geht mit gewissen Selbstbedienungsaktivitäten, die damals auftauchten, wollten wir erst einmal die Hand drauf legen. Deshalb heißt es auch in der Treuhand-Verordnung: „Die Treuhand hat die Aufgabe, das Volkseigentum im Interesse der Allgemeinheit zu bewahren.“ Das war nicht einmal ein Gesetz, denn für ein Gesetz braucht man Monate, um es parlamentarisch auf den Weg zu bringen, und die hatten wir nicht. Was nach der Volkskammerwahl daraus werden würde, konnten wir damals nicht wissen.

Aber die Treuhand-Verordnung wurde schon von der Modrow-Regierung verabschiedet?

Die Treuhandverordnung wurde von der Modrow-Regierung am 1. März 1990 verabschiedet. Wie gesagt, der Begriff „Treuhand“ tauchte in unseren Reformkonzepten nicht auf. Den Begriff hat nach meiner Erinnerung Dr. Ullmann, der Vertreter von „Demokratie jetzt!“, ins Spiel gebracht. Der hatte Berater aus der Schweiz, die ihm diese Treuhand-Idee nahe brachten.

Die Idee einer Treuhand ist juristisch naheliegend, wenn man das Vermögen vom Staat wegnehmen und von Dritten verwalten lassen will.

Wir haben uns damals kurzfristig mit der britischen und der österreichischen Praxis beschäftigt, wie dort nach dem 2. Weltkrieg mit großen Unternehmen umgegangen wurde, die in Staatshand überführt worden waren. Die Briten hatten ein Schatzamt und die Österreicher eine Bundesvermögensverwaltung, und das war in etwa so wie eine Treuhandanstalt.

Das Problem ist ja: Was geschieht mit dem Volkseigentum, das eigentlich staatliches Eigentum ist, weil es staatlich verwaltet wird. Das beginnt bei der Planung und reicht bis zur Gewinnabschöpfung. Wenn Sie sich Russland anschauen, dann haben wir dort bis heute das ungelöste Problem, wie der Staat mit den großen Industrievermögen umgeht. Das ist das Problem der Oligarchien in den ganzen postsozialistischen Ländern. Irgendein Konstrukt braucht man für diesen Übergang.

Wie gesagt, im Reformkonzept der Modrow-Regierung taucht das nicht auf, weil uns ein solcher Privatisierungsprozess nicht vorschwebte.
Mir geht es natürlich um den Unterschied. Sie sagen, die Modrow-Regierung hatte ein Reformkonzept, ein Übergangskonzept. Nach der Währungsunion wird eine Treuhand errichtet mit der Idee, die DDR-Wirtschaft komplett zu privatisieren – so lautet ja der Auftrag der Treuhand. Wie würden Sie diese Differenz beschreiben?

Wie ich schon sagte: Die von der Modrow-Regierung geschaffene Treuhand hatte den Auftrag, das Volkseigentum im Interesse der Allgemeinheit zu bewahren – was überhaupt nicht bedeutet, dass von unten kein privates Eigentum entstehen sollte. Dafür habe ich ja Wege genannt. De Maizières Treuhand, die am 30. Juni 1990 entstand, war von Anfang an eine Verkaufseinrichtung. Für Theo Waigel, den damaligen Bundesfinanzminister, und auch für Helmut Kohl als Bundeskanzler waren Währungsunion und Privatisierung des Volkseigentums ein Junktim. ‚Wenn Ihr die Währungsunion kriegt, also von uns das Geld, dann brauchen wir ein Pfand. Das ist das Volkseigentum.‘ Als wir mit unserem Volkskammer-Ausschuss Deutsche Einheit im Mai 1990 im Bonner Bundestag zu Besuch waren, hielt Herr Waigel eine Rede. Dort sagte er fast wörtlich: „Liebe Leute im Osten! Wir geben Euch das Beste, was wir haben: das ist die soziale Marktwirtschaft und das ist die D-Mark. Aber das ist natürlich nicht alles so ganz umsonst! Das kostet ja etwas.“ Und das Pfand dafür sollte sein die schnelle Privatisierung des Volkseigentums. So ist es dann auch geschehen. Herr de Maizière hat im Grunde nur noch die Hand hingehalten, geführt wurde der Stift von der anderen Seite.

Ich war dann bis zu ihrer Auflösung am 2. Oktober Abgeordnete in der Volkskammer, gehörte als Mitglied der PDS-Fraktion zur Opposition. Für eine Anhörung im Wirtschaftsausschuss hatten wir unsere Änderungswünsche für das Treuhand-Gesetz aufgeschrieben. De Maizière sagte immer: ‚Ihr könnt jetzt reden, was Ihr wollt. Das krieg´ ich in Bonn nicht durch. Der Entwurf ist im Grunde das, was hier durchkommen muss.‘ Eine Sache kriegten wir dann doch noch hinein verhandelt, nämlich den Satz: „Nach Bewertung und Restrukturierung des Volkseigentums oder Volksvermögens ist zu prüfen, ob irgendwelches Geld übrig bleibt, was dann an die Menschen verteilt werden kann, die bei der Währungsunion einen Teil ihres Vermögens verloren haben.“[2] Diesen Passus hat er mit aufnehmen lassen. Aber Frau Breuel hat dann dafür gesorgt, dass da nichts übrig blieb, sie hat 256 Milliarden DM Schulden hinterlassen.

Wie bewerten Sie die Ergebnisse des Wirkens der Treuhand?

Im Januar 1991 fand in Köln eine Tagung mit Treuhand-Präsidialen aus allen neuen Bundesländern statt. Dort hielt Herr Köhler, der spätere Bundespräsident und damals für die Treuhand verantwortliche Staatssekretär im Bundesfinanzministerium eine Rede, in der er den Satz fallen ließ: „Liebe Leute, in der DDR-Wirtschaft muss auch mal gestorben werden! Es muss auch mal Blut fließen!“ Wörtlich! Treuhandchef Rohwedder, ein Befürworter des Prinzips „erst sanieren, dann privatisieren“, soll darauf nichts gesagt haben. Nach seiner Ermordung kam Frau Breuel und machte von Anfang an ein Riesen-Tempo. Nun hieß es: Erst privatisieren, dann sanieren – ohne Rücksicht auf Verluste. Am Ende konnte jeder, der mal irgendwo ein kleines Unternehmen hatte – egal, ob er das erfolgreich geführt oder an die Wand gefahren hat, zugreifen. Hauptsache, er hatte die richtige Postleitzahl – es musste eine aus dem Westen sein, dann hat er bekommen, was er wollte. So landeten schließlich 85 Prozent des Volkseigentums in Händen westdeutscher „Investoren“. Ich könnte viele Beispiele nennen, wo Menschen aus dem Osten ihre Firma übernehmen wollten, in der sie lange gearbeitet hatten und sich auskannten – und die haben das nicht bekommen. Es gab viel Kriminalität und Korruption, keine Frage.

Auf Ihre Frage, wie ich das zusammenfassen würde: Für mich ist die Treuhand eine Einrichtung, die unter den Augen und mit Billigung der Bundesregierung die größte Vernichtung von Produktiveigentum in Friedenszeiten verantwortet. Das ging zu Lasten vieler Millionen Menschen in der DDR, hat Wirkungen bis heute. Und es hat die westdeutschen Steuerzahler unerhört viel Geld gekostet. Wenn diese Mittel gleich für andere Maßnahmen eingesetzt worden wären – für Strukturanpassungen, für Umschulungen usw. – und nicht nur für die Bezahlung von Arbeitslosigkeit, dann wäre das auch für die westdeutschen Steuerzahler billiger geworden und viele von ihnen würden nicht bis heute denken: ‚Ihr habt uns nur was gekostet!‘ Da im Grunde nichts gerettet wurde aus der DDR, sagen viele Westdeutsche doch bis heute: ‚Was haben wir denn von der Einheit?‘

Jetzt einmal zur wirtschaftlichen Entwicklung des Ostens nach der Wiedervereinigung. Wie würden Sie die Wirtschaftsentwicklung in den letzten 30 Jahren im deutschen Osten beschreiben? Was passierte, nachdem die Treuhand alles vernichtet hat, wie Sie sagen?

Naja, man muss sich nicht wundern, was passiert ist. In jedem volkswirtschaftlichen Lehrbuch steht, dass eine Wirtschaft, um sich gesund entwickeln zu können, eine Mischung von Betriebsgrößen braucht. Sie braucht Großunternehmen, die sozusagen die Zentren bilden für Forschung, Marketing, Entwicklung und so weiter, auch für die Facharbeiterausbildung. Und sie braucht einen guten Mittelstand und viele Kleinunternehmen. Was hat die Treuhand gemacht? Sie hat einen Wald von Kleinstunternehmen hinterlassen, die am Markt gar nichts bewegen können. Wir hatten einmal mehr als 500 Betriebe in der DDR mit mehr als 1.000 Beschäftigten. Nach dem Ende der Treuhand sind davon 4 übriggeblieben.

Als man nach der Währungsunion die ersten Wochen in ein Geschäft kam und alles kaufen konnte, was man früher nur aus dem Westfernsehen kannte, ging einem das Herz auf, wenn man das Geld hatte dafür. Dass der Binnenmarkt überflutet würde mit Waren aus der alten Bundesrepublik, war doch vollkommen klar. Ein Markterhalt bzw. eine Neugewinnung von Märkten für ostdeutsche Unternehmen hat nicht stattgefunden. Wir sollten eine Marktwirtschaft werden, hatten aber keine Märkte. Die Ostmärkte, sagt man immer, seien zusammengebrochen. Die sind nicht zusammengebrochen! Was die DDR früher in die Sowjetunion, nach Ungarn, nach Polen und in andere Ostländer geliefert hat – diese Märkte sind von Thyssen, von Krupp und anderen westlichen Konzernen übernommen worden!

Die erste Zeit war unter individuellen Konsumenten natürlich ein bisschen Jubel, weil man allerhand kaufen konnte, vor allen Dingen Autos. Aber dann merkte man schnell, dass das Geld alle wird und dass man angewiesen ist auf Stütze, wenn man keinen neuen Job hatte. Da begann dann die Wanderung durch das Tal, eben weil die Wirtschaft kleinteilig strukturiert war. Die Dörfer in Mecklenburg-Vorpommern oder in Sachsen-Anhalt sind zum Jammern. Wo keine Arbeit ist, bleiben keine jungen Leute. Wo keine jungen Leute sind, bleiben die alten allein. Die haben keine Möglichkeit mehr, sich selber normal zu versorgen, weil die Läden alle zu sind; keine Sparkasse mehr, kein Arzt, kein Kino, kein nix!

Dann diese anhaltende Spekulation mit Grund und Boden. In Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg sind die meisten Ackerflächen inzwischen verkauft worden an agrarfremde Investoren. Versicherungen kaufen Ackerflächen, weil sie mangels Zinsen keine anderen renditeträchtigen Anlageobjekte sehen! Ackerflächen werden zu Bauland umgewidmet und verscherbelt, und die Mieten steigen noch und nöcher. Warum das Bodenproblem nicht viel mehr im Zentrum der Politik steht, ist mir schleierhaft. Was die Natur uns nur beschränkt zur Verfügung stellt, das gehört in die Hände der Allgemeinheit und kann über langfristige Pachtverträge vergeben werden an Menschen, die das möchten. Aber keine Privatisierung von Grund und Boden!

Ich war in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre an einer Initiative beteiligt, die sich „Bündnis für Aufträge“ nannte. Vertreter aus Wirtschaft und Politik haben sich zusammengesetzt und überlegt: Was kann man machen, um Märkte für die DDR-Unternehmen zu erhalten oder zurück zu gewinnen? In Sachsen-Anhalt und Sachsen gab es Unternehmen, die waren spezialisiert auf die Produktion von Ausrüstungen für die sowjetische Öl- und Gasindustrie. Die hatten noch Spezialisten. In der Sowjetunion verrotteten die Förderstellen mangels Reparaturen oder neuer Investitionen. Da haben wir aufgeschrieben, wie man das zusammen bringen könnte. Die Russen hatten Öl und Gas, was man zwecks Bezahlung hätte in Europa vermarkten können. Wir waren mit diesem Vorschlag beim Bundeswirtschaftsministerium. Wir brauchten von der Bundesregierung die Zusage, dass sie Bürgschaften geben wird für solche Geschäfte. Da hieß es: Das wird Brüssel nicht akzeptieren, das ist Wettbewerbsverzerrung, das ist nicht marktwirtschaftlich! Es wurde jedes Argument herbeigezogen, um zu verhindern, dass irgendetwas Produktives in die Wege kommt. Warum konnte man nicht so vorgehen wie bei Carl-Zeiss Jena, das nicht sofort privatisiert wurde, sondern für ein Jahrzehnt in thüringischem Landeseigentum verblieb? Jenoptik geht es heute wunderbar. Solche Ideen waren aber nicht gefragt.

Die Treuhand-Politik und die Währungsunion waren die Auslöser für die Deindustrialisierung des Ostens nach 1990. Aber auch später kommt keine Entwicklung zustande. Was sind die Ursachen für diese Stagnation? Wenn man sich die Daten von Troost und Steinitz[3] anschaut, holt der Osten nicht mehr auf. Warum?

Ich führe das nach wie vor zurück auf die ungesunde Mischung der Betriebsgrößenklassen im Osten; das ist ungesund geblieben, wenngleich es sich ein bisschen gebessert hat. Dazu kamen weitere Dinge, etwa fehlende Unternehmenszentralen, jetzt die Sanktionen gegen Russland. Die treffen vor allem ostdeutsche Unternehmen, die traditionell viel größere Verbindungen dorthin hatten. Dann sind die Fördermittel abgebaut worden. Es fehlt eigentlich so etwas wie ein kreditfinanzierter Infrastruktur-Fonds, um die ostdeutschen Regionen tatsächlich voran zu bringen – manche sind mit öffentlichen Verkehrsmitteln kaum zu erreichen.

Man könnte auch sagen, dass die DDR Pech hatte. Sie kam zur Wiedervereinigung in einer Phase des Neoliberalismus, der in Westdeutschland plötzlich die Überhand bekam. Und nahezu zeitgleich kam es zu einem Durchbruch in der Globalisierung. Natürlich gab es Globalisierung bereits vorher, aber in den 1990er und den 2000er Jahren hat sich die westdeutsche Wirtschaft verstärkt international aufgestellt. Und das alles im gleichen Zeitraum, in dem die deutsche Wiedervereinigung läuft; heißt natürlich, dass so etwas wie der deutsche Osten gar keine Rolle spielte. Die Globalisierung wird nicht zurückgeholt werden können. Es wird kein Rollback geben – trotz Trump. Aber was bedeutet das für die Entwicklungsperspektiven des deutschen Ostens?

Zunächst: Der Neoliberalismus konnte sich in der Bundesrepublik so rasch ausbreiten, weil mit der DDR ein sozialökonomisches Gegengewicht fehlte. Weiter: Globalisierung ist ein objektiver Prozess. Aber sie ist in hohem Maße konzern-, also profitgesteuert. Wer für Globalisierung ist, ist gut beraten, aus sozialen wie ökologischen Gründen auch eine menschenfreundliche Regionalisierung zu fördern. Obwohl die Welt für sie offen steht, brauchen Menschen auch etwas, was für sie überschaubar und planbar ist. Ich plädiere daher ganz stark für Regionalisierungsprogramme, um Menschen vor Ort zu halten und nicht auf die Wanderschaft zu bringen.

Aber der Punkt ist ja: Die deutsche Wirtschaft, nehmen wir einmal als Beispiel die Autoindustrie als den großen Industriezweig in Deutschland, die baut ihre Werke schon lange in Brasilien und in China und profitiert vom dortigen Aufschwung. Als ich in Brasilien war, wurde mir erklärt, dass VW ein brasilianisches Unternehmen ist. Das findet einfach statt! Gibt es nicht andere, wirtschaftlich vernünftige Mechanismen? Einige Ökonomen kritisieren zum Beispiel, dass im deutschen Osten alles, was modern angesiedelt wurde, in Wirklichkeit keine regionalen Zusammenhänge hat; es ist entgrenzt. Das beginnt mit der Steuerleistung, die ganz woanders erbracht wird und die den Regionen nicht zur Verfügung steht. Die völlig entgrenzte, mit der Region nicht zusammenhängende Wirtschaft scheint ein Markenzeichen der Moderne zu sein. Und die regional verwurzelte Wirtschaft ist hinterwäldlerisch oder ist im Niedergang begriffen, weil sie eben keinen Markt und keine Anschlüsse hat. Welche ökonomischen Hebel könnte es geben, um das zu ändern?

Was das Plädoyer für eine regional verwurzelte Wirtschaft, nicht als Alternative, sondern als eine die Globalisierung ergänzende Tendenz angeht, stimmen wir überein. Und auch bei der Frage der Besteuerung von in Ostdeutschland erbrachten Leistungen. Jedes Tochterunternehmen eines westdeutschen Konzerns muss die hier erwirtschafteten Steuern an das Bundesland abführen, in dem die Mutter ihren Sitz hat. Das sind fast ausnahmslos die alten Bundesländer. Das hätte man längst ändern können! Was hat man nicht alles am Grundgesetz geändert. Und dann heißt es: Es fließen so viel Fördermittel von West nach Ost. Keiner macht die Gegenrechnung auf, was ist an Vermögenstransfer von Ost nach West geflossen?

Und vor allen Dingen gibt es einen erheblichen Brain Train, nach wie vor. In Brandenburg brauchen Sie bloß schauen, wo die besten Schulabsolventen hingehen: dahin, wo die Lehrstellen sind und wo die Universitäten sind. Die wandern ab, in einem Umfang, der ist beängstigend! Die Frage ist ja: Wie könnte man da gegensteuern?

Wichtig wäre wohl erst einmal, dass die Differenz zwischen Ost und West nicht wieder größer wird, als sie inzwischen ist. Dazu muss – jetzt trage ich Eulen nach Athen – auf dem Lohngebiet was passieren, und auf dem Steuergebiet. Sonst findet hier keine Ansiedlung statt und die Menschen laufen weg. Ich plädiere deshalb für einen kreditfinanzierten Infrastruktur-Fonds, aus dem wirklich schnell etwas passiert. Ich plädiere für eine andere Bodenpolitik, um endlich diese spekulativen Tendenzen einzudämmen. Wer heute Grund und Boden verkauft, verdient sich eine goldene Nase. Und der Staat muss dann Mietzuschüsse geben für Menschen, die die Mieten nicht mehr bezahlen können, in denen hohe Preise für Grund und Boden drin stecken. Es ist irre!

Unsere Ausgabe der vorgänge beschäftigt sich auch mit der Entwicklung der Rechten im deutschen Osten, mit dem Aufstieg der AfD et cetera pp. Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen dem Rechtsruck und der wirtschaftlichen Entwicklung?

Ja, aber die AfD nimmt Aufwind auch in Bundesländern wie Bayern, Baden-Württemberg und anderen, denen es wirtschaftlich gut geht. Es scheint bei nicht wenigen Menschen auch Unbehagen über die bedrohlichen Folgen einer ökonomisch nicht eingehegten Globalisierung für das eigene Leben und das der Kinder eine Rolle zu spielen. Im Osten kommen die nicht geheilten Verletzungen, Demütigungen und Ungerechtigkeiten aus der Nachwendezeit dazu: Arbeitsplatzverlust ohne Aussicht auf adäquate Wiederbeschäftigung, Renteneinbußen, Elitenaustausch auf allen Ebenen bei Dominanz westdeutsch Sozialisierter, oktroiertes Nachahmen von Praktiken der Alt-BRD, Verunglimpfung und Entsorgung ostdeutscher Strukturen und Erfahrungen usw. Der Kultursoziologe Wolfgang Engler sagt zu Recht: „Der Osten lässt sich nicht mehr mit der DDR erklären“, also mit Abgeschottetsein, relativ wenig Kontakt mit Ausländern usw. Abgesehen von sicher auch überzeugten Rechten richtet sich die Wut, der Protest von AfD-Anhängern im Osten meiner Wahrnehmung nach überwiegend gegen die aktuelle Politik auf Bundesebene, darunter die Kanzlerin mit ihrer ostdeutschen Herkunft und Erfahrung, die nie eine mobilisierende Vision für die Zukunft entwickelt hat. Diesen Menschen leichtfertig eine rechte, gar nazistische Gesinnung zuzuschreiben, wie das mitunter geschieht, ist moralisierend, aber nicht hilfreich, weil es nicht an den Ursachen ansetzt. Die Leute laufen doch den Gaulands und Höckes mit ihren platten Parolen nicht gläubig hinterher. So schlecht war das Bildungsniveau der DDR nicht.

Aber die Intelligentesten der Nach-Wende-Generation sind nicht mehr im Osten, die sind weg.

Es wachsen neue heran und nehmen die Erfahrungen ihrer Eltern und Großeltern auf.

Erfahrungen welcher Art?

Nun, die Erfahrungen mit der verordneten völligen Delegitimierung der DDR. Ich habe darüber schon gesprochen. Die Menschen warten auf einen Wechsel. Dass es nun gerade die AfD ist, die vorgibt, für den Wechsel zu stehen, ist fatal. Aber sie wird entzaubert werden.

Wie könnte die Angleichung der Lebensverhältnisse zwischen Ost- und Westdeutschland gelingen? Was müsste man tun?

Die Politiker auf Bundes- und Landesebene, aber auch die Medien und Publizisten, sollten sich bemühen, darzustellen, dass im Osten nicht alles grau war, dass dort Dinge gewesen sind, die sich für eine künftige Zivilisation als vorteilhaft erweisen können. Wir haben schon einmal versucht, unter etwas bescheideneren Bedingungen verhältnismäßig ordentlich zu leben. Ich glaube, wir gehen solchen Zukünften entgegen; und wenn es das Klima ist, was uns diese Richtung bescheren wird. Wir hatten in der DDR auch Ressourcenverschwendung, auf der anderen Seite sind wir mit Ressourcen sorgfältiger umgegangen, als das heute der Fall ist. Nur, weil ein System gescheitert ist, kann man nicht so tun, dass es nichts Aufhebenswertes für die Zukunft hinterlassen hat. Dass Grund und Boden kein Spekulationsobjekt war, ist etwas, was ich in die Zukunft getragen wissen möchte. Dass man Vermögen und Eigentum nur durch Arbeit erwerben kann – es sei denn, man macht eine kleine Erbschaft –, das ist doch etwas, was man in die Zukunft tragen kann. Dass man planen muss (nicht diese verbürokratisierte Planung, die wir hatten), ist gerade für den Umgang mit materiellen und geistigen Ressourcen von höchster Wichtigkeit! Das merken wir heute. Es wird beklagt, dass es an Pflegepersonal mangelt. Mein Gott, das Problem fällt doch nicht vom Himmel!

Also ich wünschte mir diesen nachdenklichen Blick auf das, was hinterlassen wurde. Das würde zwar die materiellen und finanziellen Probleme vieler Menschen nicht lösen, aber es wäre im Interesse der historischen Wahrheit und wäre eine gewisse Genugtuung.

Wir bedanken uns sehr für das Interview.
Das Gespräch führten Rosemarie Will und Sven Lüders.

Anmerkungen:

1 Der „Bereich Kommerzielle Koordinierung“ (umgangssprachlich „KoKo“ genannt) wurden in den 1960er Jahren im Geschäftsbereich des damaligen Ministeriums für Außen- und Innerdeutschen Handel der DDR gegründet. Seine Aufgabe war die möglichst umfassende Erwirtschaftung und Beschaffung westlicher Devisen – abseits der offiziellen Haushaltspläne, der üblichen Kontrollen und der in der DDR geltenden politischen wie rechtlichen Handelsschranken. Zur KoKo gehörten bis 1989 zahlreiche (Tarn-)Firmen und Handelsgesellschaften, über die beispielsweise Waffengeschäfte abgewickelt wurden.

2 S. Art. 25 Abs. 6 Einigungsvertrag.

3 S. deren Beitrag in diesem Heft.

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