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"Die heute kaum mehr nachvoll­zieh­bare Verblödung und Bruta­li­sie­rung der Deutschen"

in: vorgänge Nr. 213 (Heft 1/2016), S. 133-135.

Hermann Glaser: Adolf Hitlers Hetzschrift ‚Mein Kampf’. Ein Beitrag zur Mentalitätsgeschichte des Nationalsozialismus, 343 S., München 2014.

Seit 1. Januar 2016 sind die Urheberrechte an Hitlers „Mein Kampf“ erloschen. Bereits im Vorfeld dieses Datums gab es erhebliche Meinungsverschiedenheiten in der Frage, wie mit der grundsätzlichen Druckfreigabe dieses verhängnisvollen Buches umzugehen ist. Sollte in einer von Pegida und „Alternative für Deutschland“ angeheizten Situation mit allen Merkmalen von Fremdenfeindlichkeit und rechtem Populismus „Mein Kampf“ nun frei zugänglich sein? Ein Ergebnis dieses Diskurses ist die vom Institut für Zeitgeschichte in München kürzlich herausgegebene, in zwei großformatigen Bänden erschienene Ausgabe unter dem Titel „Mein Kampf. Eine kritische Edition“. Das Mammutwerk mit einem Umfang von 1.969 Seiten und 3.700 inhaltlichen Anmerkungen wurden von vielen als aufklärerischer Beitrag zum Umgang mit Hitlers hässlichem Machwerk gewertet, aber auch total verrissen, so z.B. von Jeremy Adler.1 Daneben gab es auch den Wunsch Götz Alys, „auf der Grundlage der jetzt gedruckten Edition bald eine gute und lesbare Kurzfassung“2 zu erarbeiten.

Eine gute und lesbare Kurzfassung von „Mein Kampf“ liegt bereits seit 2014 vor. Es ist das Buch von Hermann Glaser, Schul- und Kulturdezernent der Stadt Nürnberg von 1964 bis1990 und Honorarprofessor an der TU Berlin: „Adolf Hitlers Hetzschrift ‚Mein Kampf’. Ein Beitrag zur Mentalitätsgeschichte des Nationalsozialismus“. In elf Kapiteln, die jeweils kursiv gesetzte, mehrere Seiten lange Ausschnitte aus „Mein Kampf“ abdrucken, wird beschrieben, wie die Mutation des Bildungsbürgers zum servilen Untertan und schließlich zum brutalen und gewissenlosen Volksgenossen ablief und im „Zivilisationsbruch“ (S. 7) endete. Über allem steht die Frage, wie es zu dem kommen konnte, was Franz Grillparzer 1849 mit düsterem Zukunftsblick als deutschen geschichtlichen Weg voraussah: Er werde von der „Humanität durch Nationalität zur Bestialität“ führen.

Es erscheint zunächst simplifizierend und befremdlich, dass Hitler die „Inkarnation bourgoiser Durchschnittlichkeit“ und nicht ein raffinierter Verführer gewesen sein soll, sondern – und dafür stehe vor allem seine Schrift „Mein Kampf“ – als der „deutsche abgründige Spiesser“ zu gelten habe – als der in seiner Abgründigkeit nicht erkannte oder verharmloste Kleinbürger (S. 8). Anstoß zur Arbeit an diesen Aspekten des Nationalsozialismus waren u.a. Gespräche, die Hermann Glaser in den 1950er und 1960er Jahren mit ehemaligen Emigranten und Wissenschaftlern geführt hat. Sie betonten die Notwendigkeit von Mentalitätsgeschichte und Psychohistorie für das Verständnis von Entstehen, Entwicklung und Erfolg des Nationalsozialismus.

Für den Mord an den Juden und die Vernichtung ganzer Bevölkerungsgruppen durch die Nationalsozialisten bietet die Forschung Erklärungsformeln wie Propaganda, Ideologie und Gewalt oder auch anonyme Systemdynamiken. Wenn Glaser den Spießerbegriff bei der Spurensuche nach der Mentalitätsgeschichte der Deutschen ins Zentrum rückt, ist er sich der kategorialen Unschärfe des Begriffs durchaus bewusst. Allerdings machen die von Glaser in elf Kapiteln zu Hitlers „Mein Kampf“ aufgeschlüsselten Zusammenhänge und deren ideengeschichtliche Herkunft vielleicht stärker als manche historiografische Arbeit nachvollziehbar, wieso das „Dritte Reich“ zur „Zustimmungsdiktatur“ werden konnte und damit weit mehr war als das in der Nachkriegszeit in der Forschung lange tradierte Narrativ von „Terror und Propaganda“.

Wie Militär, Verwaltung, Universität, Kirchen, Parteien, Organisationen, Vereine, Verbände und das Erziehungswesen – kurz die „Agenturen“ des Staates und der Gesellschaft – lange vor 1933 Kultur und Geistesleben toxisch und letztlich menschenverachtend machten, belegen die zusätzlich zu den Original-Zitaten aus „Mein Kampf“ von Glaser herangezogenen Quellen und Personen. Besonders anschaulich erfolgt dies in den Kapiteln „Erziehungsdressur“ (III), „Krieg als Lebenserfüllung“ (V), „Rassenwahn und Blutmystik“ (VI), „Bestialisierung“ (VII) und „Judenhass“ (VIII). Nach Hermann Glaser bedurfte es keiner voluminösen „Kritischen Edition“, die „Mein Kampf“ als Ganzes kommentiert, denn ein Kommentar sei „die Erläuterung einer wissenschaftlichen Abhandlung, einer Dichtung oder eines Gesetzestextes, immer eines Druckwerks, das solche Erörterungen verdient.“ (S. 311) Hitlers „Mein Kampf“ sei nichts von alledem, es sei „zum einen eine Ansammlung von wüsten Schimpftiraden, zum anderen eine trübe Suada, die ihre Elemente aus dem zerstörten deutschen Geist vorwiegend des 19. Jahrhunderts bezieht … Auszüge zur Entlarvung des Pamphlets genügen, da Hitler seine wenigen Ideologeme ständig inhaltlich wiederholt.“

Nicht nur in der „Kritischen Edition“ gibt es einen gewaltigen Anmerkungsapparat; auch Hermann Glaser betrachtet den Anmerkungsteil in seiner Mentalitätsgeschichte als „zweites Buch im Buch“, es ist das Fundament des eigentlichen Buches. Zum Anmerkungsteil gehören mehrseitige Überblicke wie z.B. der „Exkurs zur Situation des Films im ‚Dritten Reich’“ oder der „Exkurs zur Situation der Journalisten im ‚Dritten Reich“ sowie der „Exkurs zur Vorgeschichte des kirchlichen Versagens im ‚Dritten Reich’“. Wertvoll auch, dass einige der in der „Kritischen Edition“ unverständlicherweise nicht genannten Titel bei Glaser aufgeführt sind: u.a. Hannah Ahrendts „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ (1955), Franz Neumanns „Behemoth“ (1942) oder auch etliche Titel von Joseph Wulf, der sich schon früh mit der Verstrickung des Auswärtigen Amtes in die Naziverbrechen befasst hatte.

„Mein Kampf“ wurde ca. 12 Millionen mal gedruckt. Fragt man, wie sehr es gelesen wurde, antwortet Glaser mit einer zunächst paradox klingenden These: „Das Buch war so erfolgreich, weil es überhaupt nicht mehr gelesen werden mußte. Lebensgefühl und Weltanschauung eines Großteils der deutschen Bevölkerung stimmten mit dem überein, was in „Mein Kampf“ dargeboten und propagiert wurde.“ (S. 8) Wie es dazu kommen konnte und wie der „kulturelle Degenerationsprozess des Bildungsbürgers die Deutschen für den Hitlerismus prädestinierte“, hat Glaser in seiner „Mentalitäsgeschichte des Nationalsozialismus“ anhand bedrückender Belege hergeleitet. Glaser verleiht seinem Befund besonderen Nachdruck, wenn er sich durch den Geburtsjahrgang 1928 legitimiert fühlt, „als Zeitzeuge zu sprechen, der die heute kaum mehr nachvollziehbare Verblödung und Brutalisierung (Bestialisierung) der Deutschen erlebt hat.“ (S. 313)

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