Themen / Sozialpolitik

Ein Bürgerrecht für alle

18. Dezember 2012

Zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Asylbewerberleistungsgesetz.

Mitteilungen 218/219 (III/IV) – Dezember 2012, Seite 12-13

Die Entscheidung des höchsten deutschen Gerichts verdeutlicht einmal mehr: Sondergesetze für Ausländer nach dem Muster des Asylbewerberleistungsgesetzes sind menschenunwürdig und gehören abgeschafft. Es verbietet sich nach unserer Verfassung, mit den Sorgen um die eigene Existenzsicherung Druck auf Flüchtlinge auszuüben. Ein gesichertes Existenzminimum gilt für alle in Deutschland lebenden Menschen – ohne Ausnahme!

In den drei Leitsätzen seiner Entscheidung (BVerfG, 1BvL 10/10 vom 18. Juli 2012) hat der Erste Senat das Asylbewerberleistungsgesetz für verfassungswidrig erklärt:

  1. Die seit dem Inkrafttreten des Gesetzes 1993 unverändert gebliebene Höhe der Geldleistungen ist „evident unzureichend“.
  2. Das Grundrecht auf Gewährung eines menschenwürdigen Existenzminimums, dass das Verfassungsgericht in seiner Entscheidung zur Grundsicherung im Sozialgesetzbuch II am 9. Februar 2010 (BVerfGE 125, 175) ausführlich begründet hatte, ist ein Menschenrecht. Dieser Anspruch auf ein menschenwürdiges Exstenzminimum „umfasst sowohl die physische Existenz des Menschen als auch die Sicherung der Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben. Das Grundrecht steht deutschen und ausländischen Staatsangehörigen, die sich in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten, gleichermaßen zu.“
  3. Das Gericht fordert „unverzüglich“ eine Neuregelung, aber setzt dem Gesetzgeber sehr eindeutig formulierte Grenzen, „falls“ er bei der Festlegung des menschenwürdigen Existenzminimums die Besonderheiten bestimmter Personengruppen berücksichtigen will. Bis zur Neuregelung ordnete das Gericht mit 6 zu 2 Stimmen eine Übergangsregelung an, die rückwirkend zum 1. Januar 2011 gilt.

Aus den drei Leitsätzen sind aus bürgerrechtlicher Sicht drei Thesen und Forderungen abzuleiten:

  1. Seit nahezu zwanzig Jahren verstößt die Politik, die Bund, Länder und Kommunen gegenüber Ausländern betreiben, die keinen dauerhaften Aufenthaltsstatus haben, gegen die Menschenwürde und das Sozialstaatsgebot.
  2. Das menschenwürdige Existenzminimum, das seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 9. Februar 2010 für Hilfebedürftige aus der Grundsicherung (SGB II) und der Sozialhilfe (SGB XII) gilt, gilt uneingeschränkt und unabhängig von der Dauer des Aufenthalts auch für ausländische Staatsangehörige, die in Deutschland leben.
  3. Nach diesem Urteil gibt es für Sondergesetze nach dem Muster des Asylbewerberleistungsgesetzes keine Begründung mehr. Eine wie auch immer geartete Neuauflage dieser Gesetzgebung ist aus bürgerrechtlicher Sicht abzulehnen.

Eingehend beschäftigt sich der Erste Senat mit der Vor- und Entstehungsgeschichte des strittigen Gesetzes, der Änderung des Asylrechts (1992) und den Kampagnen gegen die Asylbewerber, an denen sich nicht zuletzt Medien und Ministerpräsidenten unterschiedlicher politischer Couleur massiv beteiligten. Das Gesetz sollte und wollte abschrecken, daher blieben die Sach- und Geldleistungen so niedrig wie möglich. „Die Entstehungsgeschichte des Asylbewerberleistungsgesetzes lässt insofern keinen ernsthaften Zweifel daran zu, dass der Gesetzgeber damit an die Grenze des zur Sicherung einer menschenwürdigen Existenz Notwendigen auch unter Berücksichtigung eines nur kurzen Aufenthalts gehen wollte“, heißt es im Urteil. Der im Gesetz vorgesehene Anpassungsmechanismus, nach dem jeweils zum 1. Januar eines Jahres die Höhe der Leistungen neu festgesetzt werden mussten, ist seit dem Inkrafttreten von keiner Regierung eingelöst worden. Auch eine formalisierte Umstellung von Mark auf Euro blieb aus. Inzwischen liegt das Existenzminimum, das auf der Grundlage des Asylbewerberleistungsgesetzes gewährt wird, im Schnitt um ein Drittel niedriger als das menschenwürdige Existenzminimum nach SGB II und XII, bei Kindern und Jugendlichen ist die Kluft noch größer, weil sie beispielsweise nur in wenigen Ländern (z.B. Hamburg und Berlin) das so genannte Bildungspaket bekommen haben.

Neben offenkundigen Versäumnissen hält der Erste Senat dem Gesetzgeber ferner vor, immer mehr Gruppen von Ausländern in das Gesetz hineingepackt zu haben: Kriegsflüchtlinge, Opfer von Menschenhandel, Drittstaatsangehörige, dazu die Ehegatten, Lebenspartner, minderjährige Kinder. Insgesamt handele es sich, so das Gericht, „um Personen, die zwar alle kein Daueraufenthaltsrecht, ansonsten aber einen sehr unterschiedlichen Aufenthaltsstatus haben und deren Aufenthalt in Deutschland auf unterschiedlichen Lebenssituationen beruht“. Auch den Mythos von der kurzen Dauer des Aufenthalts in Deutschland zerstört der Senat mit dem Hinweis auf eine Antwort der Bundesregierung vom Februar 2010.

Von den rund 150.000 Menschen, die im Jahr 2009 unter das Gesetz fielen, hielten sich über Zweidrittel seit über sechs Jahren in Deutschland auf. Über 50.000 Menschen „suchten Schutz vor einem Krieg in ihrem Heimatland“, 90 Prozent von ihnen waren bereits länger als sechs Jahre hier. „Die im Asylbewerberleistungsgesetz in der Festlegung des Kreises der Berechtigten (…) angelegte Vermutung, sie alle hielten sich nur kurzzeitig in Deutschland auf, ist vor diesem Hintergrund jedenfalls erheblichen verfassungsrechtlichen Bedenken ausgesetzt“. Doch ob kurze oder lange Aufenthaltsdauer gilt: „Ausländische Staatsangehörige verlieren den Geltungsanspruch als soziale Individuen nicht dadurch, dass sie ihre Heimat verlassen und sich in der Bundesrepublik Deutschland nicht auf Dauer aufhalten (…). Die einheitlich zu verstehende menschenwürdige Existenz muss daher ab Beginn des Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland realisiert werden.“ Auch „migrationspolitischen Erwägungen“, d.h. politischen Entscheidungen, die abschreckend wirken sollen, erteilt das Gericht eine eindeutige Absage: „Die in Artikel 1 Absatz 1 Grundgesetz garantierte Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht zu relativieren.“

Zu den gesetzgeberischen Konsequenzen hält sich das Gericht zurück, auch wenn es ab sofort und rückwirkend Übergangsregeln angeordnet hat. Aus bürgerrechtlicher Sicht aber lässt das Urteil nur eine Lösung zu: Das Asylbewerberleistungsgesetz ist abzuschaffen, ebenso menschenunwürdige Praktiken in Ländern und Kommunen (Residenzpflicht, kein Recht auf Ausbildung und Arbeit, kein Bargeld, Lebensmittelpakete ohne Rücksicht auf Sitten, Gebräuche und Religionen). Für deutsche und ausländische Staatsangehörige, die hier leben und hilfebedürftig sind, gilt ein menschenwürdiges Existenzminimum, wie es das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 9. Februar 2010 begründet hat. Wenn darüber hinaus ein Drittel der Männer, Frauen und Kinder, die unter das strittige Gesetz fallen, vor Kriegen geflohen sind, dann sollte die deutsche Gesellschaft ihnen eine Chance bieten, hier heimisch zu werden. Im Kern ist dieses Urteil aus Karlsruhe eine Mahnung an die deutsche Gesellschaft insgesamt, ihre misstrauische, abwehrende und fremdenfeindliche Haltung gegenüber ausländischen Menschen, die hier gestrandet sind, zu überprüfen und zu korrigieren.

Jutta Roitsch-Wittkowsky
im September 2012

Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
http://www.bundesverfassungsgericht.de/entscheidungen/ls20120718_1bvl001010.html

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