Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 210/211: Suizidbeihilfe - bald nur noch beschränkt?

Ein gutes Leben am Ende statt gutem Tod?

in: vorgänge 210/211 (2+3/2015), S. 225f.

Atul Gawande: Being mortal. Illness, medicine and what matters in the end. London 2014, 228 Seiten
Erscheint im Herbst 2015 in Deutsch.

„Schokoladen-Eis essen und Football im Fernsehen gucken können“, das war die Antwort des Patienten, der mit einem Tumor in der Wirbelsäule von den Ärzten vor die Frage gestellt wurde, was er denn nach der bevorstehenden höchst risikoreichen Operation mit Aussicht auf Querschnittslähmung mindestens noch können wolle. Seine Angehörigen zeigten sich schockiert, immerhin war ihr Vater, Großvater und Bruder doch Professor, von dem sie eine weniger banale Antwort erwartet hatten.

Genau auf diese sehr konkreten Wünsche von Patienten, die dem Tod ins Auge schauen müssen, kommt es aber an. Das sagt Atul Gawande, 1965 geboren, in seinem 2014 erschienenen Buch „Being mortal“ (Sterblich sein), das in den USA zu einem Bestseller wurde. Gawande ist praktizierender Chirurg und Professor für Chirurgie an der Harvard Medical School, aus ursprünglich indischer Familie in zweiter Generation in den USA lebend, und außerdem Autor gut geschriebener Bücher sowie Essays für die Zeitschrift „New Yorker“.

Gewiss: Es gab in der Menschheitsgeschichte wohl niemals bessere Zeiten fürs Altwerden, schreibt Gawande. Aber was passiert, wenn nach der Phase des „Independent Self“ unweigerlich Abhängigkeit und Angewiesensein auf Hilfe folgen und schließlich der Mut von Patienten gefordert ist zu sagen, was sie sich für ihre letzte Lebensphase konkret wünschen? Es sind die zahlreichen Patientengeschichten und die vielen Anekdoten aus seiner ärztlichen Praxis, die Gawandes gut geschriebenes Buch auch unterhaltsam machen. Interessant ist der Blick des Autors auf die Generationenverhältnisse im Westen vor dem Hintergrund der kulturellen Differenz zu Indien. Er verklärt nicht die Großfamilie dort und wie sie die Alten integriert, sondern sieht auch im Generationenverhältnis der USA Freiheitsmomente, die er „Intimacy of distance“ nennt. Weniger als zehn Prozent der Alten würden in den USA bei ihren Kindern wohnen.

Selten dürfte das Altern so konkret und bisweilen voller Ironie beschrieben worden sein wie im Kapitel „Things fall apart“. Dass unser Gehirn mit dem Alter kleiner wird, leider dort zuerst, wo Urteilsvermögen und Planungsfähigkeit sitzen und am Hippocampus, wo das Erinnerungsvermögen angesiedelt ist, und unsere Knochen und Zähne immer weicher, der Rest des Körpers aber immer steifer wird – das alles erleben und wissen wir. Der von ihm genannte 97-Jährige, der immer noch Marathon läuft, scheint für viele aber das Bild zu sein, an dem sie ihre Gebrechlichkeit messen. „Dass Krankheit und Gebrechlichkeit kommen, ist so sicher wie der Sonnenuntergang“, ruft Gawande uns zu und weiter: „Wir brauchen Hilfe, …betrachten dies aber als Schwäche und nicht als den normalen und zu erwartenden Status.“

In acht Kapiteln beschreibt „Being Mortal“ jenen Prozess, der am Ende auf „Das schwierige Gespräch“ zuläuft. Es ist das Gespräch über das Lebensende und was einem Patienten im tiefsten Innern wirklich wichtig ist. Dieses Gespräch, auf das Mediziner in ihrer Ausbildung kaum vorbereitet werden, können nur Ärzte führen, die empathisch durch die „richtigen“ Fragen ihren Patienten dazu verhelfen, diese letzten Wünsche zu artikulieren: Es ist „the interpretive doctor“. Demgegenüber stehen „the paternalistic doctor“, der vorgibt, was für eine Behandlung angesagt ist, und „the informative doctor“, der mit seinem Angebot an Optionen die Patienten schwindelig redet.

Um es gleich vorweg zu sagen: Nicht assistierter Freitod, dem er nur wenige Zeilen widmet, sondern „assisted living“ steht im Zentrum des Buches. Gawande hat als Arzt zu viel Patientenleid gesehen, um sich gegen einen assistierten Freitod auszusprechen. Er unterstützt eine Gesetzgebung, die diesen erlaubt. Aber wo dieser wie z.B. in den Niederlanden möglich ist, sieht Gawande das Hospizwesen und die Palliativmedizin deutlich unterentwickelt. Es war der nach dem Zweiten Weltkrieg in den USA lang gehegte Glaube an die gewaltigen Fortschritte der Medizin und der damit verbundene gesetzlich abgesicherte Lebensverlängerungswahn, die auch dort erst langsam eine Kultur des Hospizwesens und der Palliativmedizin haben entstehen lassen.

Die Perspektive der Gebrechlichen und Todkranken, die ihre Unabhängigkeit verlieren, und nicht die der Ärzte und besorgten Angehörigen, die vor allem Sicherheit für das Familienmitglied wollen, nimmt Gawande ein. Diese haben Prioritäten, die über reine Lebensverlängerung hinaus gehen. Es sind „Narrative“ und wie jede gute Erzählung sollen diese auch ein Ende haben, das zur Lebensgeschichte passt. An der Krankengeschichte seines Vaters, der ebenfalls Chirurg war, schildert der Autor den Verlauf bis hin zum „Schwierigen Gespräch“ und dem Verzicht auf weitere Tumor-Behandlungen im Austausch für wenige verbliebene Tage größerer Lebensqualität. Zum „schwierigen Gespräch“ gehörte der erste Besuch einer Hospiz-Home-Betreuerin, die in der intensiven Befragung des neuen Patienten auch um Auskunft bat: „Welches Bestattungsinstitut wollen Sie beauftragen?“ Zunächst schockiert über solche Direktheit, musste der Autor aber anerkennen, dass auch derartige Fragen durch ihre große Ehrlichkeit die letzten und tiefsten Wünsche artikulieren helfen.

Bezeichnenderweise ist das letzte Kapitel mit „Mut“ überschrieben. Es ist der Mut, sich für bessere Lebensqualität um den Preis kürzerer Lebenszeit auszusprechen. „Unser letztes Ziel ist nicht ein guter Tod, sondern ein gutes Leben ganz am Ende“, schreibt Gawande und meint: „‚Assisted Living’ ist viel schwieriger als ‚Assisted death’, aber die Möglichkeiten sind ebenfalls viel größer.“ Dazu gehört, dass man mit der Infantilisierung der Alten und Kranken aufhört, denen die Dominanz des Sicherheitsdenkens der Pflegenden und Angehörigen grundlegende Freiheiten nimmt. Und dazu gehören Ärzte, die gelernt haben, Patientenwünsche für das Lebensende mindestens ebenso ins Zentrum zu stellen wie ihre medizin-technischen Möglichkeiten.

Werner Koep-Kerstin

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