Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 210/211: Suizidbeihilfe - bald nur noch beschränkt?

Ein unerhörter Luxus

in: vorgänge 210/211 (2+3/2015), S. 229-232

Fredrik Roggan / Dörte Busch (Hrsg.): Das Recht in guter Verfassung?, Festschrift für Martin Kutscha, Baden-Baden (Nomos), 2013 ISBN 978-3-8487-0982-3

Die Festschrift erschien anlässlich des 65. Geburtstages von Martin Kutscha und seinem damit verbundenen Eintritt in den Ruhestand. Martin Kutscha – der zu den regelmäßigen Autoren dieser Zeitschrift gehört – war von 1990 bis 2013 Professor für Staats- und Verwaltungsrecht an der heutigen Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin bzw. ihren institutionellen Vorläufern. Die Festschrift bildet seine juristischen Fachgebiete ab und zeigt darüber hinaus, dass Martin Kutscha sich in vielen rechtlichen und politischen Themenfeldern engagiert hat.

Neben dem inhaltlichen roten Faden, der meist parallel zu Kutschas Forschungsschwerpunkten verläuft, verbindet die einzelnen Beiträge ein methodischer Ansatz, der sich schon im Titel findet: „Das Recht in guter Verfassung?“ Die Autorinnen und Autoren hinterfragen aktuelle Entwicklungen und althergebrachte Lehrmeinungen in den Bereichen: Völkerrecht; Sozialstaatsfragen; Datenschutz und Informationsfreiheit; Versammlungsrecht; Kontrolle der Exekutive; Wissenschaft und Lehre; Rechtsstaats- und Demokratiefragen sowie Straf- und Prozessrecht. Dieser teilweise kritische Ansatz macht die Festschrift besonders lesenswert. Denn, wie Wolfgang Däubler in seinem Beitrag schreibt: „Nachdenken zu können“ ist im (juristischen) Alltag ein „Luxusgut“, in dessen Genuss man beim Lesen des vorliegenden Bandes kommen kann. Dies soll eine kurze Beschreibung einzelner Themenabschnitte verdeutlichen:

Dem Völkerrecht widmen sich Norman Paech, Dieter Deiseroth und Karl-Jürgen Bieback. Während Paech das Verhältnis von Menschen- und Völkerrecht hinterfragt und zu dem kritischen Ergebnis kommt, dass Menschenrechte heute „nicht mehr ausschließlich zur Stärkung des Individuums in der Völkerrechtsordnung dienen“, beleuchtet Deiseroth sehr aufschlussreich die Relevanz des Völkerrechts für nationale Rechtsordnungen. Dies verdeutlicht er für Deutschland anhand von Art. 25 Satz 2 GG, wonach „(…) der einzelne Bürger (…) verlangen kann, dass alle Organe seines Staates die allgemeinen Regeln des Völkerrechts i.S. von Art. 25 Satz 1 GG nicht verletzen.“

Sozialstaatsfragen sind Gegenstand der Aufsätze von Karl Jürgen Bieback, Christoph Butterwege, Wolfgang Däubler und Irmela Gorges. Bieback widmet sich in seinem Beitrag den sozialen Grundrechten in der Europäischen Grundrechtecharta, deren Relevanz er nicht überbewertet sehen möchte, aber als Schritt der EU in Richtung einer sozialen Demokratie deutet. Butterwege nimmt den Ausspruch Kutschas, die Hartz-Gesetze seien die politischen Sargnägel für den Sozialstaat, zwar nicht zum Anlass für eine Grabrede auf den Sozialstaat, aber doch zur Ermahnung, dass der Sozialstaat eine unabdingbare Voraussetzung der Demokratie ist. Mit dem Beitrag „Lenin als Arbeitsrechtler“ greift Däubler ein Thema auf, dem er und Kutscha sich bereits als Studenten im Arbeitskreis „marxistische Rechtstheorie“ widmen wollten. Auch Gorges beschreibt anhand der Entwicklung und Bedeutung des Socialvereins ein historisches Thema, möchte damit aber die Hintergründe der unterschiedlichen methodischen Ansätze in der Sozialpolitik und -forschung beleuchten.

Im Zentrum der Festschrift finden sich fünf Aufsätze, die sich mit Datenschutz und Informationsfreiheit beschäftigen, einem Themenbereich, dem, wie es Alexander Dix ausdrückt, „seit jeher das wissenschaftliche Interesse Martin Kutschas (gilt)“. Dementsprechend sollen diese Beiträge hier vertieft dargestellt werden: Dix widmet sich in seinem Beitrag der Frage nach dem „Grundrechtsschutz durch informationelle Gewaltenteilung“. Damit betont er einen Aspekt, der zunehmend an Bedeutung gewinnt: Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung bedarf in besonderem Maße des Schutzes durch Organisation und Verfahren. Gemeint ist damit, dass besondere Vorkehrungen getroffen werden müssen, die etwa die Art und Weise der Datenerhebung oder -speicherung betreffen, um zu verhindern, dass personenbezogene Daten missbräuchlich verwendet werden. Dix nennt die „informationelle Gewaltenteilung“ eine Schutzvorkehrung, die sowohl im öffentlichen als auch im privaten Sektor verhindern soll, dass der Grundrechtsschutz in Zeiten von Big Data zunehmend ausgehöhlt wird. Im Zusammenhang mit der notwendigen Trennung polizeilicher und nachrichtendienstlicher Datenverarbeitung weist er auf eine Trendwende in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hin, die auch Schaar und Bergemann in ihrem gemeinsamen Beitrag thematisieren: In seiner Entscheidung zur Antiterrordatei [1] habe das Gericht das sog. „Trennungsgebot“ in ein „Trennungsprinzip“ umgewandelt. Mit dem Prinzipiencharakter folge jedoch die mögliche Ausnahmefähigkeit vom Grundsatz der getrennten Datenverarbeitung bei Polizei und Nachrichtendiensten. Schaar und Bergemann setzen sich ausführlich mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts und den daraus ableitbaren engen Voraussetzungen für gemeinsame Datenverarbeitungen dieser Institutionen auseinander. Besonderes Augenmerk legen sie darauf, dass den Betroffenen bei heimlichen Maßnahmen jede Rechtsschutzmöglichkeit fehlt, was zu erheblichen rechtsstaatlichen Problemen führt, wenn der Staat keine effektive Kontrolle zum Ausgleich einsetzt.

Auch der Beitrag von Kugelmann und Dalby befasst sich vertieft mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und der Notwendigkeit einer verfahrensrechtlichen Absicherung von Grundrechten, insbesondere des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung und des Fernmeldegeheimnisses. Im Mittelpunkt ihres Beitrages steht die Neuregelung der Bestandsdatenauskunft. Ernüchternd ist ihre Erkenntnis, dass die Gesetzgeber in Bund und Ländern aufgrund technischer Entwicklungen und angestoßen durch das Bundesverfassungsgericht zu „Getriebenen“ werden. Man möchte die Frage stellen, ob die Gesetzgeber sich nicht selbst aus dieser Rolle befreien könnten. Die Autoren der Festschrift und nicht zuletzt Kutscha selbst haben unermüdlich dafür gearbeitet.

Martina Schlögel widmet sich in ihrem Beitrag der Frage, wie es um die Transparenz staatlichen Handelns in Deutschland steht. Sie zitiert den Philosophen Byung-Chul Han: „Die lautstarke Forderung nach Transparenz weist gerade darauf hin, dass das moralische Fundament der Gesellschaft brüchig geworden ist, dass moralische Werte wie Ehrlichkeit oder Aufrichtigkeit immer mehr an Bedeutung verlieren (…).“ Schlögel sieht die Informationsfreiheitsgesetze zwar nicht per se als Ausdruck von Misstrauen. Sie weist aber darauf hin, dass die Einbeziehung der Nachrichtendienste in Transparenzverpflichtungen dazu führen könnte, den in letzter Zeit entstandenen Vertrauensverlust der Bevölkerung in die Arbeit der Geheimdienste wieder herzustellen. Hier zeigt sich die besondere Bedeutung von Datenschutz und Informationsfreiheit für die Beziehung der Individuen zum Staat in einer digitalisierten Welt: Fortschritte in der Technik dürfen nicht einseitig vom Staat zur Begrenzung individueller Rechte beansprucht werden. Die einfachere Verfügbarkeit von Informationen muss zur Förderung demokratischer Prozesse nutzbar gemacht werden.

Mit dem Grundrechtsschutz im Internet beschäftigt sich auch Thilo Weichert in seinem Aufsatz zur „Meinungsfreiheit des Algorithmus“. Der Titel mag provokant klingen, weist aber auf eine wichtige Fragen hin: Können sich Unternehmen auf die Meinungsfreiheit berufen, wenn sie lediglich den Zugriff auf „eine automatisierte Zusammenfassung vieler Meinungen“ oder die Auswertung objektiver Daten anbieten. Weichert kritisiert eine Entscheidung des BGH [2], in der das Gericht diese Frage für die Erstellung von Score-Werten mit „Ja“ beantwortet hat. Meinungen, so Weichert, seien geprägt durch Subjektivität. Technik könne Meinungen höchstens vermitteln, nicht aber selbst generieren. Insofern sei es zwar sinnvoll, einen Grundrechtsschutz für „die Vermittlung vieler individueller, sogar anonymer Meinungen“ zu bieten, nicht aber für das bloße Zusammenstellen objektiver Daten, wie etwa die Auswertung der Suchmaschineneinträge bei der von Google angebotenen Autocomplete-Funktion, die ausschließlich vom Computer erstellt werde. Algorithmen müssten sich selbst am Verfassungsrecht messen lassen, könnten für sich aber keinen Grundrechtsschutz beanspruchen.

Leider können hier nicht alle der sehr lesenswerten Artikel besprochen werden, doch eines sei vorweggenommen: Auch nach der Lektüre sämtlicher Beiträge wird man das Fragezeichen hinter dem Titel des Sammelbands nicht streichen wollen. So wäre es auch nicht im Sinne von Martin Kutscha, wenn man die Festschrift beruhigt zur Seite legen würde. Sie bietet Anlass, sich weiteren Fragen und Kontroversen zu stellen und über das „Recht in guter Verfassung“ nachzudenken.

Sarah Thome
studierte Rechtswissenschaften in Berlin und Oslo und lehrt an der Berliner Hochschule für Wirtschaft und Recht.

Anmerkungen:

[1] BVerfG, Urt. v. 24. 4. 2013 – 1 BvR 1215/07.

[2] BGH, Urt. v. 22. 2. 2011 – VI ZR 120/10.

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