Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 212: Reflexhaftes Strafrecht

Europä­i­sie­rung des Strafrechts

In: vorgänge 212 (4/2015), S. 130-131

Hecker, Bernd, Europäisches Strafrecht, 5. Auflage, Berlin & Heidelberg: Springer 2015, 542 Seiten, 29,99 € [ISBN 978-3-662-47368-9]

Aksungur, Canan, Europäische Strafrechtsetzungskompetenzen. Neue Entwicklungen durch EuGH-Rechtsprechung und den Vertrag von Lissabon, Baden-Baden: Nomos 2015, 541 Seiten, 119,- € [ISBN 978-3-8487-1882-5]

Hochmayr, Gudrun (Hrsg.), „Ne bis in idem“ in Europa. Praxis, Probleme und Perspektiven des Doppelbestrafungsverbots, Baden-Baden: Nomos 2015, 193 Seiten, 52,- € [ISBN 978-3-8487-1887-0]

Der Trend zur Europäisierung des Strafrechts1 hat in den letzten Jahren zu einer umfangreichen wissenschaftlichen Diskussion geführt. Inzwischen liegt hierzu reichlich veröffentlichtes Material vor – vom Lehrbuch über Sammelbände mit Tagungsbeiträgen bis zu wissenschaftlichen Qualifikationsarbeiten. Je eine neue Publikation dieser drei Gattungen soll hier vorgestellt werden.
Das zuerst 2005 erschienene Lehrbuch von Bernd Hecker, Professor an der Universität Trier, über „Europäisches Strafrecht“ ist 2015 bereits in fünfter Auflage erschienen. Dies unterstreicht die Dynamik dieses Themenfeldes. Der Titel kann allerdings in die Irre führen – denn ein europäisches Strafrecht im Sinne von europaweit einheitlichen Strafandrohungen für bestimmte Verhaltensweisen gibt es bislang allenfalls in Ansätzen. Das Buch behandelt das „europäische“ Strafrecht in einem sehr weiten Sinn. Im Mittelpunkt stehen die Entwicklungen aufgrund von einschlägigen Aktivitäten der Europäischen Union und des Europarats mit ihren zahlreichen rechtlichen Aspekten einschließlich der hierzu ergangenen Rechtsprechung. Daneben werden völkerrechtliche Themen einbezogen, u. a. in einem Abschnitt zum Völkerstrafrecht (S. 64 ff.). Der Lehrbuchcharakter kommt in der breit angelegten Struktur des Buches zum Ausdruck, die es den Leser_innen erleichtert, sich einen Überblick über die Materie zu verschaffen. Darüber hinaus sind auch immer wieder Übungsfälle in das Buch eingestreut, die auch Nichtjurist_innen das Verständnis der Materie erleichtern können. Für Interessierte, die sich näher über die Europäisierung des Strafrechts informieren möchten, bietet das Buch eine breite Informationsgrundlage zum Einstieg.

Canan Aksungur hat an der Universität Bonn eine umfangreiche Dissertation zum Thema Europäische Strafrechtsetzungskompetenzen vorgelegt. Ihre Arbeit konzentriert sich auf die Entwicklungen in der Europäischen Union, klammert also den Europarat und andere Foren der Europäisierung des Strafrechts aus. Einer europarechtlich versierten Leserschaft dürften manche Teile des Buches etwas umständlich vorkommen, da die Verfasserin im Einführungsteil (Kapitel 3) zunächst sehr ausführlich weithin bekannte Informationen zur Rechtsetzung der EU ausbreitet. Für Leser_innen, die sich nicht regelmäßig mit dem EU-Recht beschäftigen, mögen diese Informationen aber hilfreich sein.
Wesentlich interessanter wird das Buch in den folgenden Kapiteln, in denen die Verfasserin im Anschluss an ebenfalls ausführliche Begriffsdefinitionen sehr gründlich die Entwicklung der EU zu einem in manchen Bereichen inzwischen wichtigen Akteur der Strafgesetzgebung nachzeichnet (beginnend mit Teil 2, ab S. 127). Hier analysiert die Verfasserin die Rechtsetzungspraxis mit Strafrechtsbezügen und die hierzu ergangene Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (seit dem Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon Ende 2009 als Gerichtshof der EU bezeichnet). Die sukzessive Darstellung der verschiedenen Phasen der Primärrechtsentwicklung vor und seit dem Vertrag von Lissabon ermöglicht eine anschauliche Analyse der Abhängigkeit zwischen dem jeweiligen primärrechtlichen Rahmen und der politischen Praxis bei der Entwicklung strafrechtsbezogener Initiativen der EU und ihrer Vorgängerinstitutionen. So wird in diesem Buch deutlich herausgearbeitet und detailliert belegt, wie europäische Institutionen, insbesondere Kommission, Parlament und Gerichtshof, in den letzten Jahrzehnten beharrlich auf die Europäisierung strafrechtlicher Standards hinarbeiteten. Ebenso deutlich wird der Sprung, den diese Bestrebungen mit dem Vertrag von Lissabon und den nun etablierten vertraglichen Grundlagen für eine weitere Europäisierung des Strafrechts gemacht haben.

Das von Gudrun Hochmayr, Professorin an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder, herausgegebene Buch zum Doppelbestrafungsverbot („ne bis in idem“) dokumentiert die Beiträge einer Tagung im Juni 2014. Beitragende sind österreichische und deutsche Fachleute zu dieser Thematik. Die Beiträge verdeutlichen die vielfältigen neuen Herausforderungen, die aus der Europäisierung des Strafrechts für das Doppelbestrafungsverbot folgen. Dieses Verbot mit Grundrechtscharakter ist heute in zahlreichen nationalen, europäischen und internationalen Regelwerken verankert – der Beitrag von Wolfgang Schomburg fasst diese Normen anschaulich zusammen. Weitere Beiträge des Bandes liefern gründliche Analysen der Rechtsprechung des Gerichtshofs der EU und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, die in den letzten Jahren zu den verschiedenen normativen Ausprägungen des Doppelbestrafungsverbots in der EU-Grundrechtecharta, im Schengener Durchführungsübereinkommen bzw. in der Europäischen Menschenrechtskonvention ergangen ist.
Mit diesen und anderen Veröffentlichungen der letzten Jahre liegt eine breite Materialbasis vor, an die auch die bürgerrechtliche Diskussion zu den Auswirkungen der Europäisierung des Strafrechts anknüpfen kann.

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