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Knaben­be­schnei­dung und Bürger­rechte

Mitteilungen21707/2012Seite 1-3

Ansätze für eine Positionsbestimmung der Humanistischen Union. Mitteilungen Nr. 217 (Heft 2/2012), S. 1-3

Seitdem das Landgericht Köln sein Urteil zur Knabenbeschneidung vom 7. Mai 2012 (151 Ns 169/11) bekannt gab, wird in der deutschen Öffentlichkeit eine erregte Debatte um das Für und Wider von Beschneidungen geführt. Diese Debatte hat auch die Humanistische Union erreicht. Dabei wurden sehr gegensätzliche Positionen zum Urteil sichtbar: Auf der einen Seite ist von einem antisemitischen, antiislamischen Urteil die Rede, das einen neuen Kulturkampf auslöse; auf der anderen Seite wird das Urteil als überfälliger Akt des Kinderschutzes in einer säkularen Gesellschaft begrüßt.

An uns ist es jetzt, gemeinsam eine bürgerrechtliche Position zu erarbeiten. Das wird nicht leicht, ebenso wenig wie es leicht war, eine mehrheitliche Position für die Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs oder für das Kopftuchtragen einer Lehrerin zu finden. Bürgerrechtliche Standpunkte zu aktuellen, in der Gesellschaft kontrovers diskutierten Themen fallen auch der Humanistischen Union nicht in den Schoß, sondern müssen erarbeitet werden. Zum Markenzeichen der Humanistischen Union gehört es aber, die Pluralität von Standpunkten in der Diskussion tatsächlich zu erörtern und gegensätzliche Standpunkte nicht zu diffamieren.
Wir sollten der Diskussion auch nicht einfach ausweichen. Nach § 2 unserer Statuten gehört es zu unseren Zielen, konsequent einzutreten für die Trennung von Staat, Religionen und Weltanschauungen, damit sich alle Religionen und Weltanschauungen gleichermaßen frei in unserer Gesellschaft betätigen können. Was heißt das nun für die Knabenbeschneidung? Zuallererst müssen wir sachlich mit dem Urteil umgehen, um dann im Einzelnen seine Implikationen und Wirkungen diskutieren zu können.

Das landge­richt­liche Urteil

Am 7. Mai 2012 sprach die 1. Kleine Strafkammer des Landgerichtes Köln einen Arzt frei, der medizinisch korrekt an einem vierjährigen Jungen eine Beschneidung durchgeführt hatte. Der Eingriff fand auf ausdrücklichen Wunsch und mit Zustimmung der muslimischen Eltern des Jungen statt, die die Beschneidung aus religiösen Gründen vornehmen ließen. Der angeklagte Arzt ging davon aus, dass ihm als frommem Muslimen und fachkundigem Arzt die Beschneidung aus religiösen Gründen gestattet sei. Das Gericht sprach ihn deshalb wegen eines Verbotsirrtums nach § 17 Satz 1 Strafgesetzbuch (StGB) frei.

Die Frage der Rechtmäßigkeit religiös motivierter Beschneidungen aufgrund von elterlichen Entscheidungen wird in der deutschen Rechtsprechung und Literatur schon seit einiger Zeit unterschiedlich beantwortet. Deswegen war der Verbotsirrtum des Arztes nach Auffassung des Gerichtes unvermeidbar, und er war freizusprechen. Verbotsirrtum bedeutet, dass der Arzt sich irrte, was die Rechtmäßigkeit seines Tuns anging.

Die Brisanz des Urteils liegt darin, dass die Richter die Rechtmäßigkeit der Beschneidung von Kindern verneint haben. Sie sahen den Tatbestand einer Körperverletzung nach § 223 Abs. 1 StGB als erfüllt an. Wie haben die Richter das begründet? Entgegen anders lautender Behauptungen stellte das Gericht zweifelsfrei fest, dass die Familie des Kindes dem islamischen Glauben angehört und die Beschneidung aus religiösen Gründen auf Wunsch der Eltern durchgeführt wurde. Die Richter haben aber anschließend das Recht der Eltern auf religiöse Kindererziehung abgewogen mit dem Recht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit. Sie hatten beide Grundrechtspositionen (der Eltern und des Kindes) im Blick. Im Ergebnis ihrer Abwägung dieser beiden Grundrechtspositionen gelangten sie zu einem Urteil, wonach das Recht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit vorrangig gegenüber dem Elternrecht (auf freie Religionsausübung) sei. Mit anderen Worten: Die Handlung des angeklagten Arztes kann nicht durch die Einwilligung der Eltern gerechtfertigt werden, eine Beschneidung an Minderjährigen bleibt auch bei ausdrücklicher Zustimmung der Eltern strafbar.
Mit ihrer Entscheidung beziehen die Kölner Richter eine Gegenposition zu dem, was von Seiten der Religionsgemeinschaften einhellig gefordert wird: dem Elternrecht auf religiöse Erziehung ihrer Kinder den Vorrang vor der körperlichen Unversehrtheit des Kindes einzuräumen.

Die tragende Begründung des Urteils für den Vorrang der Grundrechtsposition des Kindes lautet: „[D]ie Grundrechte der Eltern aus Art. 4 Abs. 1, 6 Abs. 2 GG werden ihrerseits durch das Grundrecht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit und Selbstbestimmung gemäß Art. 2 Abs. 1 und 2 Satz 1 GG begrenzt. … Jedenfalls zieht Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG selbst den Grundrechten der Eltern eine verfassungsimmanente Grenze.“

Der Körper des Kindes werde durch die Beschneidung dauerhaft und irreparabel verändert. Diese Veränderung laufe dem Interesse des Kindes zuwider, später selbst über seine Religionszugehörigkeit entscheiden zu können. Umgekehrt werde das Erziehungsrecht der Eltern nicht unzumutbar beeinträchtigt – so das Gericht –, wenn sie gehalten sind abzuwarten, ob der Knabe später, wenn er mündig ist, sich selbst für die Beschneidung als sichtbares Zeichen der Zugehörigkeit zum Islam entscheidet. Die Richter haben also keineswegs die Religionsfreiheit, wie sie bei der Beschneidung als Elternrecht gegenüber ihrem Kind ausgeübt wird, übersehen. Allerdings haben sie sowohl der Religionsfreiheit als auch dem Elternrecht auf religiöse Erziehung ihrer Kinder Grenzen gesetzt. Das geschah nicht willkürlich, sondern wurde vor allem mit der Unumkehrbarkeit des operativen Eingriffs begründet.

Gewiss hätte man die Abwägung zwischen der Religionsfreiheit der Eltern und der körperlichen Unversehrtheit des Knaben auch anders treffen können als die Kölner Richter. Aber auch für die Kölner Entscheidung gibt es gute Gründe, mit denen man sich sachlich auseinandersetzen muss. Insoweit zeichnet die öffentliche Debatte und möglicherweise auch eine kommende Gesetzgebung die in der Kammer des Kölner Landgerichtes geführten Diskussionen nach.
Da im konkreten Fall der Knabenbeschneidung die Abwägung durchaus schwierig ist, sind meines Erachtens alle Positionen, die meinen ganz eindeutig zu wissen, wie hier zu verfahren sei, auf dem Holzweg. Sie vereinfachen die mit der Beschneidung verbundenen individualrechtlichen Konflikte und blenden jene gesellschaftlichen Realitäten unseres Landes aus, die im Urteil durchaus einen Widerhall finden. Die Heftigkeit, mit der über das Urteil gestritten wird, ist ganz sicher ein Indiz für die Schwierigkeiten einer gerechten Entscheidung dieses Problems. Vor allem aber bezeugt der Streit, wie weit wir noch von einem gesellschaftlichen Konsens in der Frage der staatlichen Grenzziehung für religiöse Praktiken entfernt sind. Deshalb ist vor jeder Art von Schnellschüssen zu warnen. Das Urteil ist zwar rechtskräftig, aber keine höchstrichterliche Entscheidung. Andere Gerichte können durchaus zu anderen Ergebnissen gelangen und sind nicht an die Kölner Entscheidung gebunden.

Grund­recht­liche Positionen

Mit der Herausforderung, grundsätzliche Grenzen für die Ausübung der Religionsfreiheit und die Wahrung von Kinderrechten zu entwickeln, ist die Humanistische Union durchaus vertraut. So haben wir uns in den dritten Berliner Gesprächen über das Verhältnis von Staat, Religion und  Weltanschauung ausführlich mit den Grenzen der Religionsfreiheit beschäftigt. Bernhard Schlink hat damals zutreffend und von uns unwidersprochen formuliert:

„Jeder hat die grundrechtlich geschützte (sog. positive) Freiheit, sein Verhalten an seiner Religion oder Weltanschauung auszurichten. Der Schutz dieser Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Handelns ist unterschiedlich intensiv und nicht grenzenlos. … Den stärksten Schutz genießen die Manifestationen des Glaubens durch Symbole und Riten, mit denen die Gläubigen unter sich bleiben oder zwar an eine Öffentlichkeit treten, diese aber nicht ernstlich beeinträchtigen. Selbst wo die Gläubigen unter sich bleiben, kann der Staat allerdings berechtigt und verpflichtet sein, Grenzen zu setzen, zumal zum Schutz von Kindern.“ (Schlink 2008, S. 41)

Das Urteil folgt dieser verfassungsrechtlich vorgezeichneten Linie. Jeder ärztliche Eingriff – auch wenn er noch so hilfreich und harmlos sein mag – ist auch ein Grundrechtseingriff, ein Eingriff in die körperliche Unversehrtheit. Dieser Eingriff wird beim Vorliegen einer medizinischen Indikation und beim Vorliegen der Zustimmung des Patienten regelmäßig gerechtfertigt. Das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit unterliegt einem einfachen Gesetzesvorbehalt. Ärztlich vorgenommene Eingriffe sind daher vergleichsweise leicht zu rechtfertigen. Gelingt diese Rechtfertigung des ärztlichen Handelns aber nicht, z.B. weil die Einwilligung des Patienten nicht vorlag, muss sich der Arzt wegen Körperverletzung verantworten. Dieses Prinzip schützt uns vor ärztlichen Zwangsbehandlungen ebenso wie vor ärztlichen Fehlleistungen.

Das Kölner Urteil hat nun dieses Prinzip, dass Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit zu rechtfertigen sind, auch auf jene Eingriffe angewandt, die religiös und nicht medizinisch indiziert sind. Das Gericht sieht also durchaus die religiöse Motivation, stellt sie aber unter den gleichen grundrechtlichen Rechtfertigungszwang wie anderes medizinisches Handeln – zu Recht, wie ich meine. Zum Teil setzt die öffentliche Empörung über das Urteil aber schon hier an. Sofern es um eine Religionsausübung gehe, müssten (elterlich legitimierte) Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit ihrer Kinder nicht gerechtfertigt werden, meinen manche Befürworter der Beschneidung. Dem ist als Bürgerrechtsorganisation konsequent entgegenzutreten. Eine solche Position würde das Grundrecht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit zugunsten von Religionsausübung negieren, mithin die Errungenschaften moderner Verfassungsstaatlichkeit einfach aufheben. Mit einer solchen Argumentation wäre die Religionsausübung absolut gestellt. Die bittere Konsequenz wäre, dass auch andere religiös motivierte Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit, z.B. die Verstümmelung der Füße oder die Beschneidung der Clitoris, nicht mehr unterbunden werden könnten. Bei religiös motivierten Körperverletzungen an Mädchen haben wir immer und einhellig den Vorrang des Schutzes der körperlichen Unversehrtheit bejaht. Dies folgte nicht zuletzt aus unserer Zustimmung zur UN-Kinderschutzkonvention. Dort heißt es in Artikel 24 Absatz 3: „Die Vertragsstaaten treffen alle wirksamen und geeigneten Maßnahmen, um überlieferte Bräuche, die für die Gesundheit der Kinder schädlich sind, abzuschaffen.“

Ich gehe davon aus, dass einen solchen Rückfall in religiösen Fundamentalismus niemand von uns befürwortet. Ebenso wenig will ich die Folgen der Füßeverstümmelung oder der Clitorisbeschneidung mit den Folgen einer Knabenbeschneidung gleichsetzen. Nach meiner Überzeugung sollten wir dem Kölner Gericht jedoch unter bürgerrechtlichen Gesichtspunkten folgen, wenn es für religiöse Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit von Kindern eine gesetzliche Rechtfertigung fordert. Daran führt kein Weg vorbei. Andernfalls würden die verfassungsrechtlichen Garantien der Anerkennung subjektiver Grundrechte einfach mit der Religionsausübung ausgehebelt – das kann kein/e Bürgerrechtler/in ernsthaft wollen.

Dass die Beschneidung von Jungen unter strafrechtlichen Gesichtspunkten eine irreparable Körperverletzung ist, leuchtet ein. Dass sie für Juden und Muslime religiös geboten ist, wird vom Gericht nicht übersehen. Insoweit geht es nur um die Frage, ob bei der Beschneidung eines nicht religionsmündigen Kindes das Grundrecht der Religionsfreiheit (Art. 4 GG, ausgeübt durch die Eltern) oder das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) den Vorrang genießt. Dass sich das Gericht für die körperliche Unversehrtheit entschied, hat nach m.E. durchaus zunächst die säkulare Vernunft für sich.

Ist ein Kompromiss nötig, und auch möglich?

Das Problem des Urteils liegt in der Wertung des Gerichts, den Eingriff in die körperliche Unversehrtheit durch die Beschneidung eines religionsunmündigen Kindes als nicht gerechtfertigt anzusehen. Diese Wertung kann und muss hinterfragt werden; man kann sie, muss sie aber nicht teilen. Das zentrale Argument des Gerichts, dass es sich um einen irreversiblen Eingriff handelt, auf den der Betroffene keinen Einfluss nehmen kann, der aber mit der Erlangung der Einsichtsfähigkeit des Betroffenen nachholbar wäre, überzeugt in meinen Augen. Das Kölner Urteil entscheidet sich in diesem Zweifelsfall für die selbständige Religionsausübung des Betroffenen und schränkt das Elternrecht zur Bestimmung der Religionsausübung des Kindes ein. Für das Zurücktreten des Elternrechts in diesem Punkt spricht die Irreversibilität des körperlichen Eingriffs und die durch Artikel 4 GG grundrechtlich geschützte Freiheit des Kindes, das mit Eintritt in die Religionsmündigkeit seine Religion auch gegen den Willen der Eltern bestimmen kann. Dagegen spricht, dass in die Rechte der Eltern zur Bestimmung der Religionsausübung ihrer Kinder oder bei elterlichen Entscheidungen zu anderen ärztlichen Eingriffen bislang kaum staatlich eingegriffen wird. Insoweit wäre zu prüfen, ob bei der Beschneidung tatsächlich eine Eingriffsschwelle erreicht wird, bei der das Kind gegen den Willen der Eltern zu schützen ist. Vereinfachungen jeglicher Art werden dabei nicht zu einem dauerhaften, rechtlich tragfähigen Kompromiss führen.

Ein solcher Kompromiss ist aber nötig, damit das Urteil nicht zur säkularen Kampfansage gegen Religionsgemeinschaften umfunktioniert wird, sondern tatsächlich zur Stärkung der Rechtspositionen der Kinder führt. Selbst Befürworter des Kölner Urteils haben darauf hingewiesen, dass unter den derzeitigen Bedingungen die Entscheidung praktisch keinen Bestand haben könne. Das Urteil träfe auf Seiten der betroffenen Religionsgemeinschaften auf zu wenig Akzeptanz; es würde schlicht nicht befolgt. Die Knaben würden – sollte das Verbot der Beschneidung aufrecht erhalten bleiben – „auf dem Küchentisch landen“, was niemand wollen könne.

Das Urteil selbst sieht den Kompromiss darin, dass mit der Religionsmündigkeit jeder selbstverantwortlich in die Beschneidung einwilligen kann. Jedem erwachsenen Mann steht es frei, sich für die freie Religionsausübung zu entscheiden und den Eingriff vornehmen zu lassen. Die staatliche Schutzpflicht (bezogen auf die körperliche Unversehrtheit) tritt dann selbstverständlich zugunsten der Religionsfreiheit zurück. Diese freie Entscheidung dürften auch Bürgerrechtler nicht in Frage stellen, zumal wenn sie sich für „die ungehinderte Entfaltung aller weltanschaulichen, religiösen, philosophischen, wissenschaftlichen und künstlerischen Auffassungen“ (§ 2 Abs. 1 HU-Satzung) einsetzen.

Prof. Dr. Rosemarie Will

Die Entscheidung des Kölner Landgerichts ist im Netz abrufbar unter: http://www.justiz.nrw.de/nrwe/lgs/koeln/lg_koeln/j2012/151_Ns_169_11_Urteil_20120507.html.

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