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Nach der Krise: Die Zukunft der EU in histo­ri­scher Perspektive

vorgänge Nr. 220 (Heft 4/2017), S. 21-30

In historischer Perspektive ist der Brexit eine von vielen Krisen der europäischen Einigung in den Jahrzehnten seit Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft im Jahr 1957. Dieser Beitrag stellt die derzeitige Krise der EU in einen größeren historischen Kontext und diskutiert mögliche Szenarien für die weitere Entwicklung. Der Autor entwickelt dabei die Prognose, dass die EU nicht zerfallen wird, sondern aus der derzeitigen Situation sogar gestärkt hervorgehen könnte, auch und gerade im Hinblick auf die Unterstützung der Bevölkerung. 

Ist die Europäische Union am Ende? Nigel Farage, der radikale Wortführer der britischen Anti-EU-Bewegung, hat das am Tag nach dem Brexit-Votum vom 23. Juni 2016 frohgemut angekündigt: „Die EU scheitert, die EU stirbt. Ich hoffe, wir haben den ersten Stein aus der Mauer geschlagen. Ich hoffe, dies ist der erste Schritt hin zu einem Europa souveräner Nationen.“ (zitiert nach ntv.de 24.6.2016) Populistische Nationalisten von Geert Wilders über Marine Le Pen bis Victor Orbán stimmten dieser Einschätzung sogleich zu, sichtlich angetan vom Auftrieb, den ihnen die Entscheidung einer knappen Mehrheit britischer Wähler_innen für den Austritt aus der Union verschaffte. Aber auch weniger parteiische Beobachter konnten nach der Brexit-Entscheidung den Eindruck gewinnen, dass die Tage der EU, wie wir sie kannten, gezählt sind. Zu deutlich drifteten wohlhabende und wirtschaftlich kränkelnde Länder in der Eurozone auseinander, zu deutlich zeigte sich auch die Blockbildung zwischen östlichen Visegrád-Ländern und westlichen Mitgliedsländern, zu stark war der Anstieg dezidiert antieuropäischer Bewegungen in praktisch allen Mitgliedsländern.

Eine Geschichte voller Krisen

Ein Blick auf die Geschichte der Europäischen Union kann helfen, die Brexit-Entscheidung weniger dramatisch zu sehen (grundsätzlich hierzu Loth 2014). Tatsächlich waren Krisen eine ständige Begleiterscheinung ihrer Entstehung und ihrer Entwicklung. Sie bedurfte und bedarf eines „täglichen Plebiszits“, wie das Ernest Renan einst im Hinblick auf die Nation formuliert hat (Renan 1947), und dieses Plebiszit ist keineswegs selbstverständlich. Das ergibt sich aus der Vielschichtigkeit der Antriebskräfte, die dem Integrationsprozess zugrunde liegen. Das Verlangen nach Sicherung des Friedens, das Bemühen um eine Lösung der deutschen Frage, das Streben nach größeren Märkten und die Sorge um Selbstbehauptung in der Welt waren nicht immer gleich stark, und sie wirkten auch nicht immer in die gleiche Richtung. So ließen das Bedürfnis nach Selbstbehauptung und die ungelöste deutsche Frage einen Zusammenschluss des westlichen Europas nach dem Zweiten Weltkrieg als durchaus angemessen erscheinen; im Hinblick auf das Ziel der Friedenssicherung war diese Form des Zusammenschlusses, weil gezwungenermaßen auf Westeuropa beschränkt, dagegen problematisch geworden. Die gemeinsame Notwendigkeit zur Einigung stand gegen real sehr unterschiedliche Befindlichkeiten und Bedürfnisse der zu einigenden Staaten, das übergreifende Interesse an einem gemeinsamen Markt gegen sehr unterschiedliche wirtschaftliche Bedürfnisse der einzelnen Staaten und unterschiedliche Interessen der einzelnen Produktionssektoren. Europapolitik konnte danach keine einheitliche Politik sein; sie war und ist auch immer die Fortsetzung der Auseinandersetzung zwischen unterschiedlichen Ordnungsvorstellungen und Interessen auf europäischer Ebene.
Gleichwohl war es eine bestimmte Kombination dieser vier Impulse, die in den 1950er Jahren zur Entstehung der ersten europäischen Institutionen geführt hat: das Interesse an einer Einbindung des neuen westdeutschen Staates, der zum unverzichtbaren Partner westeuropäischer Sicherheitspolitik geworden war, verbunden mit dem niederländischen Interesse an rascher Marktöffnung und dem französischen und zuletzt auch deutschen Interesse an Selbstbehauptung gegenüber den USA. Nach der Entscheidung für die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft als sozialstaatlich abgefedertes Modernisierungsprojekt nahm das Gewicht der wirtschaftlichen Motive stetig zu; gleichzeitig sorgte die Entwicklung des bipolaren atomaren Abschreckungssystems für verstärkte Impulse zur Schaffung europäischer Autonomie. Die beiden Projekte korrespondierten aber nicht notwendigerweise miteinander: Das erklärt den schleppenden Fortgang politischer Integration bei gleichzeitigen Fortschritten in Richtung auf die Verwirklichung des Binnenmarkts einer erweiterten Gemeinschaft.
Mit dem Ende des Kalten Krieges verlor das Ziel einer europäischen Atommacht rasch an Bedeutung; dafür wurde die Europäische Gemeinschaft jetzt mehr denn je zur Einbindung der deutschen Zentralmacht gebraucht, und an die Stelle der Ambivalenz des europäischen Projekts in der Friedensfrage traten neue Verantwortlichkeiten auf dem europäischen Kontinent wie auf der globalen Ebene. Unterdessen sind wirtschaftliche Produktivität, sozialer Konsens und demokratische Stabilität ohne die Grundlagen des gemeinsamen Marktes nicht mehr denkbar, die gemeinsamen Interessen an Friedenssicherung überwiegen potentielle nationale Rivalitäten bei weitem, und Handlungsfähigkeit auf globaler Ebene hängt mehr denn je vom gemeinsamen Auftreten der Europäer ab.
Die Europäische Union stellt damit einen Versuch dar, die zivilisatorischen Errungenschaften des demokratischen Nationalstaats unter den Bedingungen zunehmender Globalisierung zu erhalten und weiter zu entwickeln. Sie beruht auf der Wahrnehmung gemeinsamer und komplementärer Interessen der europäischen Nationen und einem Wissen um gemeinsame Werte und Traditionen, das es aussichtsreich erscheinen lässt, die gemeinsame Wahrnehmung dieser Interessen in Angriff zu nehmen (vgl. Loth 2011). Als gesellschaftliches Projekt weist „Europa“ damit Züge auf, die den Nationalstaatsprojekten früherer Entwicklungsphasen entsprechen.
Gefördert wird dieses Projekt zweifellos durch die zunehmende Angleichung wirtschaftlicher, sozialer und gesellschaftlicher Strukturen, die im westlichen Europa im Zuge und infolge des anhaltenden Wirtschaftsbooms der 1950er und 1960er Jahre eingetreten ist und unterdessen von den postkommunistischen Staaten der östlichen Hälfte Europas in einem schwierigen Anpassungsprozess nachgeholt werden muss (vgl. Kaelble 1987; Kaelble 2007; Heydemann/Vodi?ka 2013). Ebenso tragen die vielfältigen Verflechtungen in Europa tendenziell zu seiner Durchsetzung bei: die Marktintegration, berufliche und private Mobilität, transnationale Begegnungen und Kontakte, transnational operierende Unternehmen und zunehmend transnational agierende akademische communities, schließlich die medial vermittelte Internationalisierung von Einstellungen, Moden und kulturellen Hervorbringungen. Allerdings erfassen diese Verflechtungsprozesse nicht alle Teile der europäischen Gesellschaften gleichermaßen und geht die western civilization, die sich damit ausbreitet, auch weit über Europa hinaus. Folglich führt von ihnen auch kein direkter Weg zur Entstehung einer genuin europäischen Öffentlichkeit als Medium der Selbstreferenz einer europäischen Gesellschaft.
Dem entspricht, dass die bisherige institutionelle Entwicklung der Europäischen Union vorwiegend auf technokratischem Weg erfolgte, ohne breite gesellschaftliche Diskussion und nachhaltige Identifizierung der Bürger der Europäischen Union mit ihren Institutionen. Angesichts der unterschiedlichen Möglichkeiten, sich ein vereintes Europa zu denken, gab es in den Ländern, die sich zum Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft entschlossen, stets Mehrheiten für ein prinzipielles Bekenntnis zu Europa; gleichzeitig fehlte es aber auch immer an eindeutiger Unterstützung für die Form von europäischer Einigung, die gerade möglich war. Die Diskrepanz zwischen gewünschtem und machbarem Europa erklärt erstens die herausragende Bedeutung einzelner Persönlichkeiten im europapolitischen Entscheidungsprozess, von Robert Schuman und Konrad Adenauer bis zu Jacques Delors, Helmut Kohl und Angela Merkel: Angesichts der Ambivalenzen in den öffentlichen Meinungen konnten starke Führungspersönlichkeiten die Weichen stellen, in direktem Kontakt mit ihren Kooperationspartnern die Routine der Apparate umgehen und Mehrheiten auf ihre Projekte verpflichten. Zweitens macht die Diskrepanz zwischen gewünschtem und machbarem Europa verständlich, wieso sich mit der Montanunion und den Römischen Verträgen eine Form der Integration durchsetzen konnte, die wenig Wert auf Bürgerbeteiligung legte und die integrierten Politikbereiche der öffentlichen Diskussion entzog: Nur wenn man die Implikationen im Ungefähren beließ, war zu verhindern, dass negative Koalitionen die stets umstrittenen Integrationsschritte vereitelten.
Drittens wird vor diesem Hintergrund deutlich, wieso das sogenannte Demokratiedefizit unterdessen zum drängendsten Problem der Europäischen Union geworden ist: Angesichts der Ausweitung der Kompetenzen der Gemeinschaft und der Erhöhung der Regelungsdichte, die damit einhergeht, sind Mehrheitsentscheidungen im Halbdunkel der verschiedenen Ministerratsformationen, das Aushandeln im COREPER und im Europäischen Rat und die geringe demokratische Legitimation der Kommission für den Bürger nicht mehr akzeptabel – unabhängig davon, was Verfassungsrechtler dazu sagen, die sich am nationalstaatlichen Kategorienmodell orientieren. Der technokratische Umweg nach Europa, von Jean Monnet 1950 initiiert und über lange Jahre erfolgreich, zuletzt noch einmal bei der Lancierung des Programms von Maastricht, ist an sein Ende gelangt. Das haben schon die heftigen öffentlichen Debatten über den Vertrag von Maastricht und die Schwierigkeiten bei seiner Ratifizierung deutlich gemacht. Seit der Ablehnung des Verfassungsvertrags durch eine Mehrheit der Franzosen und der Niederländer im Jahr 2005 ist es ganz offenkundig. Die Zukunft der Europäischen Union wird darum in ganz entscheidendem Maße davon abhängen, wieweit es gelingt, Entscheidungen in der Europäischen Union transparent, kontrollierbar und korrigierbar zu machen.

Der Aufschwung des Populismus

Die Referenden in Frankreich und den Niederlanden haben aber auch gezeigt, dass das nicht einfach zu erreichen ist. Im Grunde ist hier ein Versuch, mehr Transparenz und Demokratie herzustellen, im ersten Anlauf gerade an einem Mangel an Transparenz und Demokratie gescheitert – ein Vorgang, der alle Kennzeichen einer griechischen Tragödie aufweist. Auf die Bedrohung durch die europäische Schuldenkrise 2011/12 reagierten die Gesellschaften der Eurozone prompt mit einer Wiederbelebung nationalstaatlicher Reflexe, und nationalstaatlich orientierte Illusionisten ebenso wie gewissenlose Populisten zögerten nicht, sie für ihre Zwecke auszunutzen. Der Ansturm von Flüchtlingen aus arabischen und afrikanischen Krisenländern 2015/16 ließ den Rückzug auf vermeintlich sichere nationale Grenzen noch attraktiver erscheinen; die notwendige Solidarität zwischen den unterschiedlich betroffenen Mitgliedsländern wurde zur Mangelware. Parallel dazu setzte in den Nachfolgestaaten des Ostblocks und auch in den östlichen Bundesländern Deutschlands eine Krise der Integration in die parlamentarische Demokratie und die kapitalistische Marktwirtschaft ein, die angesichts des existenziellen Ausmaßes der Umstellung und der geringen historischen Fundierung der demokratischen Ordnung letztlich unvermeidlich war.
Die aktuelle Krise der EU erweist sich damit als Teil einer allgemeinen Krise der repräsentativen Demokratie, die durch die außerordentliche Beschleunigung des gesellschaftlichen Wandels im Zuge der Globalisierung hervorgerufen wurde. Wachsende Entfremdung zwischen Eliten und Teilen der Bevölkerung sowie ein entsprechender Aufschwung populistischer Bewegungen sind Symptome dieser Krise. Die EU ist aufgrund ihres komplexen Charakters in besonderem Maße von dieser Krise betroffen, und die britische Mitgliedschaft in der EU ist ihr, wie es scheint, als erstes zum Opfer gefallen. Das ist kein Zufall: Das Verhältnis der Briten zum europäischen Projekt war immer schon ambivalent, sodass schon ein kleiner Schub an nationalistischer Aggressivität genügte, um ihre Verankerung in der Union zu kippen.
Dennoch stehen die Chancen gut, dass dem Austritt der Briten keine weiteren Absetzbewegungen folgen, sondern die europäische Gesellschaft im Zuge der anstehenden Reformdebatte weiter an Artikulationsfähigkeit gewinnt. Dafür sprechen nicht nur die Erfahrungen bei der Durchsetzung des Lissabon-Vertrags, mit dem die Fortschritte hinsichtlich stärkerer Effektivität und höherer Transparenz, die mit dem Verfassungsvertrag beabsichtigt waren, im Wesentlichen schließlich doch erreicht wurden. Auch die Erfolge bei der Bekämpfung der Schuldenkrise durch Instrumente wie den Europäischen Stabilitätsmechanismus, der Fiskalpakt und die Bankenunion dürften ermutigend wirken. Vor allem aber dürfte der Umstand von großem Gewicht sein, dass das reale Ausmaß der unterdessen erreichten wirtschaftlichen und finanziellen Verflechtung in der Union ebenso wie die Realitäten der Globalisierung keine plausible Alternative zum weiteren Ausbau der Gemeinschaft mehr zulassen, jedenfalls keine, die mit geringeren Kosten verbunden wäre. Zudem dürfte eine Rolle spielen, dass die gemeinsame europäische Tradition durchaus genügend Anregungen für die Gestaltung eines europäischen Kollektivs bereithält.
Die europäische Gemeinschaft wird seit der Mitte der 1980er Jahre mehr und mehr als eine Wertegemeinschaft verstanden, die dem Pluralismus und den demokratischen Freiheiten verpflichtet ist, der Rechtsstaatlichkeit, den Menschenrechten und dem Schutz von Minderheiten. Insofern hat sich in den Diskussionen der letzten Jahrzehnte ein gemeinsames Verfassungserbe der Europäer herausgebildet, das zu einem Verfassungspatriotismus auf europäischer Ebene führen kann. Dieser europäische Patriotismus, der eher das Bekenntnis zu einem Wertesystem ausdrückt als auf gefühlsmäßiger Zugehörigkeit beruht, ist mit dem nationalen Patriotismus kompatibel. Er trägt sogar dazu bei, den nationalen Patriotismus, der von unterschiedlichen historischen Erfahrungen, den unterschiedlichen Sprachen und Kulturen geprägt ist, in Zeiten dynamischen Wandels zu stabilisieren. In dieser Hinsicht kann man durchaus von europäischer Identität im Singular sprechen. Es handelt sich freilich nicht um eine „identitäre“ Konzeption von Identität, sondern um eine universalistische, die die nationalen Identitäten und die Leistungen der Nationen respektiert (vgl. Loth 2000).

Der Brexit als Praxistest

Das wurde deutlich, als mit der Entscheidung für den Brexit die Alternative zur Weiterentwicklung der EU zum ersten Mal Realität zu werden drohte. Anders als die Beobachter erhofft oder befürchtet hatten, hat der Ausgang des Referendums vom 23. Juni 2016 die Anti-EU-Bewegung keineswegs beflügelt. Im Gegenteil: Die Entscheidung der britischen Wähler_innen setzte die Anti-EU-Phantasien der Euroskeptiker einem Praxistest aus, und dieser Test fiel negativ aus. Der dramatische Kursverfall des britischen Pfunds und der Sturz vieler Aktien in den Tagen nach dem 23. Juni ließ nicht nur viele Briten ahnen, dass das britische Finanzministerium Recht gehabt hatte, als es wenige Wochen vor der Abstimmung davor warnte, ein Ausscheiden aus der EU würde innerhalb von zwei Jahren zu einem deutlichen Absinken des Bruttoinlandprodukts führen: im günstigsten Fall um 3,6 Prozent, unter ungünstigeren Bedingungen sogar um 6 Prozent (HM Government 2016; vgl. Begg 2016). Eine weitere Studie des Finanzministeriums, die im Finanzausschuss der Regierung von Theresa May in der zweiten Oktoberwoche diskutiert wurde, sagte einen Verlust an Wirtschaftsleistung von 5,4 bis 9,5 Prozent nach 15 Jahren voraus (Coates & Wright 2016). Weil über die Bedingungen des Austritts noch nicht entschieden ist, kann niemand mit Bestimmtheit sagen, wie hoch die Verluste und das Absinken des Lebensstandards tatsächlich sein werden; aber tatsächlich geht es in der britischen Politik jetzt nur noch darum, diese Verluste zu begrenzen. Die Vision vom „großartigsten Land der Welt“, die Boris Johnson jüngst im Daily Telegraph beschworen hat (Johnson 2017), hört sich doch sehr nach dem Pfeifen im Wald an.
Hinzu kam die Entdeckung, wie eng die Verflechtung zwischen Großbritannien und der restlichen EU ist und wie schwierig und riskant eine Trennung folglich sein wird. Das ließ die Begeisterung für den Brexit in Großbritannien schlagartig zurückgehen. Hatten beim Referendum im Juni nur 48 Prozent für einen Verbleib in der Union gestimmt, waren es bei einer Umfrage, die die Bertelsmann-Stiftung im August durchführte, nicht weniger als 56 Prozent, die erklärten, für den Verbleib zu sein, wenn sie noch einmal abstimmen könnten. In den anderen Mitgliedsländern war die gleiche Reaktion zu beobachten: In Deutschland stieg die Zahl der Befürworter_innen eines Verbleibs von 61 Prozent bei einer Umfrage im März 2016 auf jetzt 69 Prozent, in Polen von 68 auf 77 Prozent, in Frankreich von 50 auf 53 Prozent, in Italien immerhin noch von 49 auf 51 Prozent. EU-weit stieg der Prozentsatz der Befürworter_innen eines Verbleibs in der Union von 57 auf 62 (eupinions 21.11.2016). Die Unterstützung für die populistischen Nationalisten stagnierte; in manchen Ländern ging sie auch deutlich zurück.
Und dann kam Trump. Das Erschrecken über den Wahlsieg eines populistischen Volksverhetzers und seine ostentative Missachtung westlicher Werte verstärkten bei vielen Europäern das Gefühl dafür, dass die demokratische Ordnung verteidigt werden muss, wenn sie Bestand haben soll. Trumps Attacken auf die EU beförderten zudem den Eindruck, dass zwischen demokratischer Ordnung und europäischer Union ein enger Zusammenhang besteht. Beide Effekte der Trump-Wahl ließen die Zustimmungsraten zur EU noch weiter ansteigen. Basisbewegungen wie „Pulse of Europe“ entstanden, in Frankreich konnte Emmanuel Macron mit einem dezidiert proeuropäischen Programm die Präsidentschaftswahlen gewinnen, und in Deutschland avancierte die Stärkung Europas zu einem Wahlkampfthema, das die Isolierung der AfD verstärkte. Offensichtlich haben die Europäer (jedenfalls eine deutliche Mehrheit) im Moment der Gefährdung der EU entdeckt, was alles auf dem Spiel steht. Das hat sie gelehrt, den Wert des gemeinschaftlichen Europas wieder zu schätzen und sich für seine Verteidigung zu engagieren.

Und nicht nur das. Trumps Angriffe gegen den freien Welthandel, seine Infragestellung der NATO und sein Irrlichtern in der Weltpolitik haben das Bewusstsein für die Notwendigkeit gestärkt, die EU noch handlungsfähiger zu machen – vornehmlich in der Außen- und Verteidigungspolitik, aber auch in vielen anderen Bereichen. Das lässt sich aus den Ergebnissen einer weiteren Meinungsumfrage ablesen, die die Bertelsmann-Stiftung im Juli 2017 durchführte. Danach ist die Zustimmungsrate zum Verbleib in der EU in den 28 Mitgliedsländern zusammen genommen unterdessen von 62 auf 70 Prozent weiter gestiegen (in Deutschland von 69 auf 75 Prozent, in Italien von 51 auf 56 Prozent). Es sind aber nur 34 Prozent mit der Richtung zufrieden, die die EU gegenwärtig nimmt. Und nicht weniger als 80 Prozent wünschen, dass die EU in globalen Angelegenheiten eine stärkere Rolle spielen soll (in Deutschland ebenfalls 80 Prozent, in Italien sogar 87 Prozent; eupinions 2017/3).

Die Zukunft der Union

Natürlich bleibt diese Zustimmung diffus. Sie ist nicht immer mit der notwendigen Bereitschaft verbunden, europäische Solidarität zu üben, wenn es auf Kosten der eigenen Bequemlichkeit oder der vermeintlichen nationalen Interessen geht. Hier ist – wie in der Gründungskrise 1956/57 und in vielen weiteren Krisen (vgl. Loth 2017) – politische Führung gefragt, insbesondere die Führung durch das deutsch-französische Tandem. Es wird in den nächsten Wochen und Monaten sehr darauf ankommen, ob und in welchem Maße Angela Merkel und Emmanuel Macron den Mut und die Kreativität aufbringen, die nötig sind, um die hierzu erforderlichen Kompromisse zu schließen. Europapolitik war immer die Kunst des Möglichen, und die europäischen Spitzenpolitiker_innen werden auch künftig daran gemessen werden, wieweit sie diese Kunst beherrschen.
Dringlich sind Entscheidungen auf vier Handlungsfeldern, und das in dieser Reihenfolge: Erstens eine Weiterentwicklung der Währungsunion zur Fiskalunion, die dem Auseinanderdriften prosperierender und notleidender Mitgliedsländer Einhalt gebietet; dazu werden stärkere Eingriffsrechte in die nationalen Haushalte ebenso notwendig sein wie ein effektiverer Finanztransfer zugunsten der Länder und Regionen, die in wirtschaftlichen Schwierigkeiten stecken. Zweitens die Entwicklung eines Flüchtlingsregimes, das die Lasten des Zustroms von Flüchtlingen unter den Mitgliedsländern gleichmäßiger verteilt, als es bei der Dublin-II-Vereinbarung der Fall war. Drittens, im engen Zusammenhang damit, das Beharren auf demokratischen und rechtsstaatlichen Grundsätzen in Polen und in Ungarn; hier hat die EU eine Verantwortung, der sie sich nur um den Preis eines nachträglichen Scheiterns der Osterweiterung entziehen kann. Viertens eine weitere Stärkung der europäischen Verteidigungsidentität, über die Beschlüsse zur Behebung der Unterfinanzierung hinaus, die der Europäische Rat im Juni 2017 gefasst hat.
Unabhängig davon, wie substantiell die Entscheidungen auf diesen vier Feldern ausfallen werden, kann man davon ausgehen, dass die Europäische Union nicht zerfällt, sondern auch aus der gegenwärtigen Krise gestärkt hervorgehen wird. Das „Projekt Europa“ führt, jedenfalls in absehbarer Zeit, nicht zu einem Absterben der Nationalstaaten. Vielmehr bildet es die Voraussetzung für ihr Überleben, das allerdings nur ein Überleben in veränderter Form und eingeschränkter Funktion sein kann. Europäische Identität wird darum auch die nationalen Identitäten in absehbarer Zeit nicht einfach ersetzen. Stattdessen zeichnet sich ab, dass die Menschen in Europa mit einer mehrschichtigen Identität leben, einer Identität, die regionale, nationale und europäische Momente in sich vereint. Bei den Eurobarometer-Umfragen wird das regelmäßig deutlich, wenn nach dem Selbstverständnis der Unionsbürger_innen gefragt wird. Im Mai 2012 bezeichneten sich 38 Prozent der Bürger_innen der EU 27 ausschließlich als Angehörige ihrer Nation. 49 Prozent aber sahen sich in erster Linie als Angehörige einer europäischen Nation und zugleich in einer weiteren Dimension auch als Europäer_innen. Sechs Prozent sahen sich sogar vorrangig als Europäer_innen und in erst in zweiter Linie auch noch als Angehörige einer Nation. Drei Prozent betrachteten sich ausschließlich als Europäer_innen (Standard-Eurobarometer 2012).

Hinter diesen aggregierten Zahlen verbergen sich natürlich unterschiedliche Bewusstseinsstände in den verschiedenen Mitgliedsländern der Union und auch innerhalb der jeweiligen Bevölkerung. Differenziert man die Ergebnisse, wird deutlich, dass die Europa-Orientierung der Bürger_innen mit ihrem Alter, ihrem Bildungsgrad, und dem Maß an gesellschaftlicher Verantwortung korreliert. Je jünger, je höher im Bildungsabschluss und in der gesellschaftlichen Stellung, desto stärker ist auch die europäische Dimension der Identität ausgeprägt. „Europa“ ist danach immer noch eher ein Eliten-Projekt; gleichzeitig kann die „pro-europäische“ Fraktion à la longue aber mit weiterem Zuwachs rechnen. Mit der weiteren Verdichtung der Beziehungen innerhalb der Union, der Stärkung europäischer Institutionen, der absehbaren Zunahme von Mobilität über nationalstaatliche Grenzen hinweg und der steigenden Bedeutung beruflicher Qualifikation wird die europäische Dimension von personaler und kollektiver Identität in Zukunft noch stärker ins Bewusstsein treten.

Ob und wie lange noch die nationale Identität stärkere Bindungswirkungen behaupten kann als die europäische, muss dabei grundsätzlich offen bleiben. Es gibt keinen plausiblen Beleg für die Behauptung Ralf Dahrendorfs aus dem Jahr 1994, allein der Nationalstaat sei imstande, Tiefenbindungen der gesellschaftlichen Kräfte zu schaffen (Dahrendorf 1994). Wie die Priorität der europäischen Werte und die zunehmende Transnationalität der Lebensstile zeigen, weisen die empirischen Befunde schon jetzt in eine andere Richtung. Es gehört weder besonderer Mut noch übertriebener Optimismus zu der Voraussage, dass die Gemeinsamkeiten der Europäer mit der Ausweitung der Gemeinschaftsaufgaben und der Demokratisierung europäischer Politik noch stärker hervortreten werden, allem reaktivem Aufflackern von Nationalismus zum Trotz.
Was daraus auf der staatsrechtlichen Ebene folgt, mag man mit Jacques Delors eine „Föderation von Nationalstaaten“ nennen (Delors 2004:506). Dieser Begriff ist zwar verfassungsrechtlich nicht sehr genau; er bringt aber das fortdauernde Spannungsverhältnis zwischen Nationalstaatlichkeit und Supranationalität recht gut zum Ausdruck. Diese Föderation, die real schon jetzt besteht (auch wenn kaum jemand wagt, sie als solche zu bezeichnen), wird sich nicht wieder auflösen oder zu einer bloßen Freihandelszone mutieren, wie manche befürchten: Dazu ist der Nutzen, den alle Beteiligten aus der gegenwärtigen Konstruktion ziehen, viel zu groß; und im Konfliktfall wird das auch immer wieder deutlich. Auf der anderen Seite ist aber auch kein baldiger qualitativer Sprung zu einem weltpolitisch handlungsfähigen Europa zu erwarten, wie es von Europa-Enthusiasten immer wieder gefordert wird (vgl. etwa Cohn-Bendit/Verhofstadt 2012): Dazu wiederum bleibt der Nationalstaat für die überwiegende Mehrheit der Europäer viel zu wichtig und ist der Leidensdruck, den der Unilateralismus der amerikanischen Weltmacht verschiedentlich erzeugt, trotz der Eskapaden Trumps wohl doch zu gering.

Ein Exit vom Brexit?

Ob die Briten bei diesem gestärkten Europa dabei sein werden? Man darf gespannt sein, ob über das Ergebnis der Austritts-Verhandlungen noch einmal abgestimmt wird und ob es dann eine Mehrheit findet. Bei der verqueren Lage der britischen Innenpolitik ist es allerdings wahrscheinlicher, dass es noch einmal 10 oder 15 Jahre dauert, bis Großbritannien zur EU zurückfindet. Die Zahl der Bürgerinnen und Bürger, die sich ausschließlich als Angehörige ihrer Nation betrachten, war hier anders als in den kontinentalen Ländern immer höher als die Zahl derjenigen, die sich zugleich als Europäer verstanden – im Mai 2012: 60 gegenüber 42 Prozent (Standard-Eurobarometer 2012). Die Brexit-Erfahrung wird den Wandlungsprozess auch in Großbritannien beschleunigen. Man darf aber bezweifeln, ob er bis 2019 schon so weit gediehen ist, dass der Austritt dann nicht doch vollzogen wird.

WILFRIED LOTH   Jahrgang 1948, Dr. phil., Dr. h.c., em. Professor für Neuere und Neueste Geschichte am Historischen Institut der Universität Duisburg Essen, Forschungen zur Geschichte des Katholizismus, des Kalten Krieges, der europäischen Einigung und zur Zeitgeschichte Frankreichs. Jüngste Buchveröffentlichungen: Europas Einigung. Eine unvollendete Geschichte (2014); Charles de Gaulle (2015); Die Rettung der Welt. Geschichte der Entspannungspolitik 1950-1991 (2016).

Literaturverzeichnis:

Begg, Iain 2016: Brexit: warum, was nun und wie?, in: Integration, Jg. 39, H. 3, S. 230-241.

Coates, Sam & Wright, | Oliver 2016: Hard Brexit could cost £66 bn a year. Leaked Treasury papers reveal lost revenue, in: The Times 11.10.2016

Cohn-Bendit, Daniel & Verhofstadt, Guy 2012: Für Europa. Ein Manifest, München: Carl Hanser

Dahrendorf, Ralf 1994: Die Zukunft des Nationalstaates, in: Merkur Jg. 48, S. 751-761

Delors, Jacques 2004: Erinnerungen eines Europäers, Berlin: Parthas

Heydemann, Günther & Vodi?ka, Karel (Hrsg.) 2013: Vom Ostblock zur EU. Systemtransformationen 1990-2012 im Vergleich, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht

HM Government 2016: HM Treasury analysis: the immediate economic impact of leaving the EU, Doc. Cm 9292, London

Johnson, Boris 2017: My vision for a bold, thriving Britain enabled by Brexit, in: Daily Telegraph 15.9.2017

Kaelble, Hartmut 1987: Auf dem Weg zu einer europäischen Gesellschaft. Eine Sozialgeschichte Westeuropas 1880-1980, München: C.H. Beck

Kaelble, Hartmut 2007: Sozialgeschichte Europas seit 1945, München: C.H. Beck

Loth, Wilfried 2000: Regionale, nationale und europäische Identität. Überlegungen zum Wandel europäischer Staatlichkeit, in: Loth, Wilfried & Osterhammel, Jürgen (Hrsg.), Internationale Geschichte. Themen – Ergebnisse – Aussichten, München: Oldenbourg, S. 357-369

Loth,Wilfried 2011: European identity: traditions, constructions, and beliefs, in: Du Luxembourg à l’Europe. Hommages à Gilbert Trausch à l’occasion de son 80e anniversaire, Luxembourg: Editions Saint-Paul, S. 549-555

Loth, Wilfried 2014: Europas Einigung. Eine unvollendete Geschichte, Frankfurt/New York: Campus

Loth, Wilfried 2017: 60 Years ago: The Foundation of EEC and EAEC as Crisis Management, in: Journal of European Integration History, Jg. 23, H. 1, S. 9-28.

Renan, Ernest 1947 [1882]: Qu’est-ce qu’une nation ?, in : Œuvres Complètes, Bd. 1, Paris : Calmann-Lévy, S. 887-906

Standard-Eurobarometer 77, Frühjahr 2012: Die europäische Bürgerschaft

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