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Unrechts­s­taat

in: vorgänge Nr. 230 (2/2020), S. 33-50

Dieser Beitrag setzt sich kritisch mit dem Begriff „Unrechtsstaat“ auseinander und untersucht seine Schwächen bei der rückblickenden Charakterisierung politischer Systeme und ihres Umgangs mit dem Recht. Stattdessen schlägt der Autor die Verwendung des Begriffs „SED-Unrecht“ für Menschenrechtsverletzungen vor, die in der DDR begangen wurden.

Der Begriff des Unrechtsstaates wird seit geraumer Zeit geschichtspolitisch verschlissen. Die Frage, ob die DDR ein Unrechtsstaat gewesen sei, endet üblicherweise in bekennerhaften Ritualen, die zu Gruppenzuweisungen führen. Die Antwort auf diese Frage spielte in Koalitionsverhandlungen und Ministerernennungen eine Rolle.

Ein kurzer Rückblick auf einige Debatten seit der Vereinigung

Die deutschen Staatsrechtslehrer sprachen auf ihrer Tagung 1991 von der „vor-rechtsstaatlichen Vergangenheit“.[1] Im gleichen Jahr vertrat Horst Sendler, seinerzeit Präsident des Bundesverwaltungsgerichts, die Auffassung, die DDR sei „im Kern Unrechtsstaat“ gewesen. Daran knüpfte sich eine Kontroverse vor allem unter Juristen an (H. Klenner, Ingo Müller, Peter Schneider, V. Schöneburg, M. Stolleis, Ingo Wagner u.a.). Unterschieden wurde zwischen Rechtsstaat – Nichtrechtsstaat – Unrechtsstaat oder zwischen Rechtsstaat auf der einen und Machtstaat, Obrigkeits-, Polizeistaat auf der anderen Seite.

In den politischen Arenen ist Flagge zeigen angesagt. Bei der Bildung von Koalitionen unter Beteiligung der PDS, dann der Linken wurde die DDR-Geschichte zunächst ausgespart oder im Unscharfen gelassen. So 1998 in Mecklenburg-Vorpommern, bei der Bildung einer ersten Koalition von SPD und PDS. Gewunden heißt es da: „SPD und PDS respektieren Unterschiedlichkeiten in ihren politischen Auffassungen und ihrer Programmatik sowie ihre unterschiedlichen Traditionen und ihre jeweilige Verantwortung für die Entwicklung in Deutschland.“ – Im Berliner Koalitionsvertrag (2002) zwischen SPD und PDS findet sich im historischen Vorwort der Satz: „Die Distanzierung der PDS von den Unrechtstaten (!) der SED und dem Mauerbau waren wichtige Schritte zur Aufarbeitung der unheilvollen Geschichte der SED.“ – In Brandenburg hieß es 2009 in der Präambel zum rot-roten Koalitionsvertrag: Erst im Jahre 1989 hätten die DDR-Bürger „Freiheit, Demokratie und Pluralismus, die soziale Marktwirtschaft und den Rechtsstaat“ erkämpft. „Eine Verklärung der SED-Diktatur wird es mit dieser Koalition nicht geben.“

Vom damaligen Ministerpräsidenten von Mecklenburg-Vorpommern, Erwin Sellering (SPD), hörte man 2009, dass die DDR kein „totaler Unrechtsstaat“ gewesen sei. Kompliziert wurde es bei den Versuchen zur Bildung einer rot-rot-grünen Koalition, so 2009 in Thüringen, wo die Verhandlungen u.a. deshalb scheiterten, weil die Grünen auf einer Charakterisierung der DDR als „Unrechtsstaat“ bestanden.

Auf dem Parteitag der „Linken“ in Thüringen ging es Ende November 2009 hoch her, weil sich Ina Leukefeld (früher IM) weigerte, die DDR als Unrechtsstaat zu bezeichnen; das ziele auf die Delegitimierung der DDR und führe zur Diskriminierung von 17 Millionen Menschen. Ein anderer Delegierter, Hendrik Volkert, erklärte, es habe Unrecht in der DDR gegeben, aber auch in anderen Staaten wie der BRD. Er lasse sich nicht einreden, dass die DDR kein Rechtsstaat gewesen sei. Sie habe eine Verfassung und ein Parlament gehabt, die vom Volk gewollt gewesen seien. Der Fraktionsvorsitzende der „Linken“ im Landtag, Ramelow, bewegte sich zur anderen Seite, als er äußerte, dass die DDR kein Rechtsstaat gewesen sei. In der DDR habe sich ein Bürger nicht gegen die Überwachung durch das MfS zur Wehr setzen können, wie er sich im Westen gegen die Überwachung durch den Verfassungsschutz habe wehren können. Auch habe es keine Trennung von Macht und Recht gegeben.

Im Mai 2010 brach die SPD-Verhandlungsdelegation in NRW die Koalitionsgespräche mit der „Linken“ ab, u.a. deshalb, weil deren Vertreter sich weigerten, sich von der DDR als einem „Unrechtsstaat“ zu distanzieren. Ende 2014 kam es in Thüringen dann doch zur Bildung einer ersten rot-rot-grünen Koalition. In der Präambel des Koalitionsvertrags vom Dezember 2014 heißt es:

„Die DDR war eine Diktatur, kein Rechtsstaat. Weil durch unfreie Wahlen bereits die strukturelle demokratische Legitimation staatlichen Handelns fehlte, weil jedes Recht und jede Gerechtigkeit in der DDR ein Ende haben konnte, wenn einer der kleinen oder großen Mächtigen es so wollte, weil jedes Recht und jede Gerechtigkeit für diejenigen verloren waren, die sich nicht systemkonform verhielten, war die DDR in der Konsequenz ein Unrechtsstaat.“

Ramelow erklärte kurz nach Abschluss der Koalitionsvereinbarung, die Vokabel „Unrechtsstaat“ sei bloß eine „Protokollnotiz“.

Auch bei Personalien können die Wogen hoch gehen. Ende Oktober 2009 wäre die Ernennung von Volkmar Schöneburg zum Justizminister von Brandenburg fast gescheitert, weil ein Artikel von ihm aus dem Jahre 2002 bekannt wurde, in dem er den Begriff „Unrechtsstaat“ für unwissenschaftlich gehalten hatte.[2]

Die Kandidatin der „Linken“ für die Bundespräsidentenwahl am 30.6.2010, Luc Jochimsen, sagte gegenüber dem Hamburger Abendblatt: „Die DDR war ein Staat, der unverzeihliches Unrecht an seinen Bürgern begangen hat. Nach juristischer Definition war sie allerdings kein Unrechtsstaat.“ – Dazu der CDU-Generalsekretär Gröhe: Frau Jochimsen sei „nicht in der Lage, die DDR als das zu bezeichnen, was sie war: ein Unrechtsstaat, der mit Mauer, Stacheldraht und Stasi-Terror das Volk unterdrückt hat.“ Sie verhöhne damit die Opfer des DDR-Unrechtsregimes. Joachim Gauck, Kandidat der SPD und der Grünen, hatte im Fernsehen gesagt: „Ja, die DDR war ein Unrechtsstaat – wir sprechen ja wie normale Leute und nicht in einem juristischen Seminar, dafür mag der Begriff zu pauschal sein.“ Aber im politischen Raum sei er richtig. Jochimsen wie Gauck scheinen anzunehmen, dass es eine juristische Definition gäbe, nach der man entscheiden könne, ob der Begriff Unrechtsstaat anzuwenden oder nicht anzuwenden sei.

Bundeskanzlerin Angela Merkel verwendete den Begriff „Unrechtsstaat“ bei einer Rede zum 25. Jahrestag des Mauerfalls 2014. Sie nannte die DDR ein „ideologiebesessenes Regime“, das „Millionen Menschen an die Grenzen des Erträglichen und allzu viele darüber hinaus“ gebracht habe.

Wie sieht es mit „Volkes Stimme“ in Ost und West aus? Wie üblich pauschal befragt und mit der üblichen Uneinheitlichkeit antwortend. Infratest fragte im November 2009: „War die DDR Ihrer Meinung nach ein Unrechtsstaat?“ 72% ja, sie war ein U. (West: 78%; Ost: 51%; 58% der Ostdeutschen, die nach 1990 in die alten Länder umgezogen waren) 19% nein, sie war kein U. (West: 14%; Ost: 40%).

Etwas anders fragte das Institut für Demoskopie Allensbach (auch im November 2009): „Würden Sie sagen, die DDR war ein Rechtsstaat, oder würden Sie das nicht sagen?“ (Angaben in Prozent)

HIER KOMMT DIE TABELLE HIN!!!!! 🙂

Noch jüngst (2018) wurden die Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages mobilisiert für eine Ausarbeitung über „Rechtsstaat und Unrechtsstaat: Begriffsdefinition, Begriffsgenese, aktuelle politische Debatten und Umfragen“.[3]

Während des Wahlkampfs in Thüringen im Herbst 2019 nannte die Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern Manuela Schwesig (SPD) die DDR eine Diktatur, lehnte aber die Bezeichnung als „Unrechtsstaat“ ab. Zwar habe der DDR alles gefehlt, was eine Demokratie ausmache. Der Begriff „Unrechtsstaat“ werde aber von vielen Menschen, die in der DDR gelebt hätten, als herabsetzend empfunden. „Er wirkt so, als sei das ganze Leben Unrecht gewesen. Wir brauchen aber mehr Respekt vor ostdeutschen Lebensleistungen. Das ist wichtig auch für das Zusammenwachsen von Ost und West.“

Und auch Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow lehnte nunmehr den Begriff „Unrechtsstaat“ ab: „Die DDR war eindeutig kein Rechtsstaat. Der Begriff ‚Unrechtsstaat‘ aber ist für mich persönlich unmittelbar und ausschließlich mit der Zeit der Naziherrschaft und dem mutigen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer und seiner Verwendung des Rechtsbegriffs „Unrechtsstaat“ in den Auschwitz-Prozessen verbunden.“

Am 13.12.2019 stellten Abgeordnete und die Fraktion der AfD eine Kleine Anfrage an die Bundesregierung zum „Begriff „Unrechtsstaat“ im Rahmen der Erinnerungspolitik und seiner Anwendung auf die ehemalige DDR“.[4]

Interessant ist auch, bei welchen Gelegenheiten der Unrechtsstaat-Test nicht durchgeführt wird: bei der Ernennung von Barbara Borchardt zur Laienrichterin am Verfassungsgericht von Mecklenburg-Vorpommern (im Mai 2020) wurde ihr kein Bekenntnis gegen den Unrechtsstaat abverlangt, sondern ihre Mitgliedschaft in der als „extremistisch“ eingestuften AKL (Antikapitalistische Linke) ins Feld geführt. Der Generalsekretär der CSU Markus Blume erklärte sie zum „Verfassungsfeind“.

In ihrem Buch „Diener zweier Herren. DDR-Juristen zwischen Recht und Macht“ (Berlin 2020) kommt Inga Markovits zu der Einschätzung: „Jedenfalls war die DDR, auch als Nicht-Rechtsstaat, kein Staat, der Recht und Gerechtigkeit mit Füßen trat.“ (S. 202) „Sie bewegte sich auf den Rechtsstaat zu.“ (S. 211)

Ein Rückblick mit längerem Atem: Der Nationalsozialismus – vom deutschen Rechtsstaat Adolf Hitlers zum Unrechtsstaat

Die Charakterisierung des NS-Staates als Unrechtsstaat ist heute fest etabliert. Der Begriff „Unrechtsstaat“ taucht allerdings schon früher auf. Wie üblich findet man Vorgänger wie einen gewissen Peter Reichensperger, bei dem der Ausdruck bereits 1853 vorkommt. Aber auch während des NS wurde er verwendet, bei C. Schmitt (1935):

„Man stellt den Rechtsstaat als den Gegenbegriff zu einem Nicht-Rechtsstaat im Sinne von Unrechtsstaat (Machtstaat, Gewaltstaat, Willkürstaat, Polizeistaat) hin und hat es dann natürlich leicht, den Rechtsstaat über einen solchen Widersacher triumphieren zu lassen. Aber so billig geht es in dem großen geistigen Kampf der Völker und Zeiten nicht zu. Hier ringt nicht der Sinn mit dem Unsinn, sondern Sinn mit Gegen-Sinn und Leben mit dem Leben.“[5]

Auf die Kennzeichnung des NS-Staates als Rechtsstaat wollte man aus propagandistischen Gründen nicht verzichten. Es genügte nicht die Behauptung Schmitts, „Der nationalsozialistische Staat ist ein gerechter Staat.“ Abgrenzen musste man sich aber vom herkömmlichen Rechtsstaat, der deshalb als liberaler Rechtsstaat, als bloßer Gesetzesstaat oder als Machtstaat bezeichnet wurde. Es genügte dann auch nicht, einfach vom „nationalsozialistischen Rechtsstaat“ zu sprechen. Großen Anklang fand die Schöpfung Hans Franks: „der deutsche Rechtsstaat Adolf Hitlers“[6].

„Rechtsstaat“ gehört also zum Repertoire der nationalsozialistischen Staatsrechtslehrer. „Unrechtsstaat“ wird zur Fremdbeschreibung des NS nach 1945. Erstmals taucht der Begriff „Unrechtsstaat“ zur Kennzeichnung des NS auf bei Gustav Radbruch in seinem kleinen Beitrag von 1945 „Fünf Minuten Rechtsphilosophie“. Dort heißt es: „So hat die Gleichsetzung von Recht und vermeintlichem oder angeblichem Volksnutzen einen Rechtsstaat in einen Unrechtsstaat verwandelt.“[7] Strafe ohne Gesetz und Urteil, gesetzloser Mord an Kranken seien als Recht anerkannt worden. In seiner Rechtsphilosophie von 1932 hatte Radbruch noch von einem „unrechttuenden Staat“ gesprochen. Nach 1945 unterschied Radbruch zwei Formen staatlichen Unrechts: einmal liegen extrem ungerechte Gesetze des Staates vor, im anderen Fall verstößt der Staat gegen seine eigenen Gesetze („Unrecht in Form des Gesetzes oder verschleiertes Unrecht gegen das Gesetz“). In seinem berühmten Aufsatz von 1946 über „Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht“, in dem er wiederum den NS als „Unrechtsstaat“ charakterisierte, bezog er sich nur auf gesetzliches Unrecht.[8]

Als Beispiele für „gesetzliches Unrecht“, also extrem ungerechte Gesetze, die der Rechtsnatur entbehren, führte Radbruch 1946 an:

  • Gesetze zur Erringung der Einparteienherrschaft der NSDAP im Jahre 1933 (als Verstoß gegen das Demokratie-Prinzip)
  • Gesetze, „die Menschen als Untermenschen behandelten und ihnen die Menschenrechte versagten“ (als Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz). Gemeint sind hiermit vor allem die Rassegesetze.
  • Strafgesetze mit exzessiven Strafandrohungen, insbes. nach 1938 (als Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz).

Später fügte er noch hinzu: das Ermächtigungsgesetz, keine richterliche Kontrolle der Polizei, vieldeutige und verschwommene Tatbestände im Strafrecht, die Zulässigkeit analoger Rechtsanwendung (in § 2 StGB seit 1935); die Etablierung von Hitler als Gesetzgeber und oberster Gerichtsherr (gemeint ist wohl der Beschluss des Reichstags vom 26. April 1942) und auch noch das Gesetz über Maßnahmen der Staatsnotwehr vom 3. Juli 1934 (d.h. die Legalisierung der Röhm-Morde).

Interessant ist, welche Rechtsnomen bei ihm nicht auftauchen: die Reichstagsbrandverordnung, mit der fast alle Grundrechte der Weimarer Reichsverfassung aufgehoben wurden; das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums (das nicht nur ein „Rassegesetz“ war; der Sozialdemokrat Radbruch wurde sein erstes Opfer). Überhaupt nicht erwähnt werden der Angriffskrieg und Vernichtungsfeldzug sowie die Judenvernichtung – als ob es da keine Rechtsbezüge gegeben hätte. Es war dann Aufgabe des Alliierten Kontrollrates, in mehreren Gesetzen eine Fülle von Normen aus der NS-Zeit als „typisch nationalsozialistisch“ außer Kraft zu setzen.

Das Problem der „Radbruch-Formel“ besteht nicht nur darin, dass sie auf das subjektive Empfinden eines „unerträglichen“ Widerspruchs des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit abstellt. Die Frage ist auch, ob man einer Norm „als solcher“ ansehen kann, dass es sich um unerträgliches „gesetzliches Unrecht“ handelt. Die bloße Lektüre des Gesetzeswortlautes genügt wohl nicht unbedingt, um ein Gefühl der „Unerträglichkeit“ auszulösen.

Nach Radbruch (1878-1949) findet sich vereinzelt in den 1950er und 1960er Jahren die Kennzeichnung des NS als „Unrechtsstaat“. In der Anklage gegen Ernst Remer, der die Attentäter des 20. Juli 1944 als Hochverräter bezeichnet hatte, betonte Generalstaatsanwalt Fritz Bauer den Charakter des NS als Unrechtsstaat (übrigens nicht erst im Auschwitz-Prozess, wie Ramelow meinte, s.o.). „Ein Unrechtsstaat wie das Dritte Reich ist überhaupt nicht hochverratsfähig.“[9] Im Urteil gegen Remer befand die Strafkammer des LG Braunschweig:

„Aus der Vielzahl der Fälle, in denen in einer dem Recht hohnsprechenden Weise verfahren wurde, sei hier nur die sogenannte „Röhm-Affäre“, bei der Hunderte von Menschen ohne gerichtliche Untersuchung und ohne richterliches Urteil getötet wurden, sowie die nach den Begriffen aller anständigen Deutschen unvorstellbar grausame Verfolgung und Ausrottung der Juden in Deutschland und nach Ausbruch des Krieges auch in den von Deutschland besetzten Gebieten genannt. All das war schreiendes Unrecht und des deutschen Volkes wahrhaft unwürdig.

Ein Staat, dessen Staatsführung aber derartiges Unrecht nicht nur duldet, sondern zur Durchsetzung der politischen Ziele unter Außerachtlassung der unabdingbaren Menschenrechte bewußt durchführt oder durchführen läßt, kann nicht mehr beanspruchen, als Rechtsstaat, d.h. als ein in jeder Beziehung unter Wahrung rechtsstaatlicher Garantien nach rechtsstaatlichen Grundsätzen regierter Staat bezeichnet zu werden. Wenn demnach der nationalsozialistische Staat in diesem Sinne als ein Unrechtsstaat anzusehen ist, so allerdings nicht mit der Konsequenz, daß damit sämtliche Rechtsakte und Gesetze, deren viele als nicht mit rechtsstaatlichen Grundsätzen vereinbar bereits von den Besatzungsmächten aufgehoben worden sind, nichtig wären und die vom nationalsozialistischen Staat geschlossenen Verträge der Gültigkeit entbehrten.“ [10]

Ernst Bloch schrieb 1961 vom „diktatorisch-faschistischen Unrechtsstaat“.[11]

Wenzel Jaksch (SPD) am 7. November 1962 in der Bundestags-Debatte zur Spiegel-Affäre: „Herr Bundeskanzler, in den sozialdemokratischen Bänken sitzen Männer, die von den Schergen des Unrechtsstaates ihrer Freiheit beraubt, die geschlagen, gefoltert, in Gefängnisse geschleppt worden sind. Verstehen Sie die Motive dieser Männer, daß sie auf dem Boden der Rechtsstaatlichkeit bleiben wollen?“

In der Bundestagsdebatte vom 27. April 1978 zum Rechtsberatungsgesetz kam der SPD-Abgeordnete Schöfberger auch auf das Rechtsberatungsmißbrauchgesetz von 1935 zu sprechen. „Es ist im Dritten Reich erlassen worden, um den vom damaligen Unrechtsstaat aus dem Dienst entlassenen jüdischen Richtern, die sich dann als Anwälte niedergelassen und keine Zulassung hatten, das Handwerk zu legen.“[12]

Einmütigkeit in der Charakterisierung des NS darf man allerdings nicht unterstellen. Der Bundesgerichtshof behauptete immerhin 1954,[13]dass im NS-Staat „dessen   l e g i t i m e  Aufgaben fortbestanden und der in diesem wahren, inneren Kern von dem nationalsozialistischen Terror nicht berührt wurde“. Oh, die Kern-Metapher: Sendler (s.o.) erklärte 1991 die DDR „im Kern“ für einen Unrechtsstaat – der BGH den NS „im Kern“ für einen Rechtsstaat?

Die Kennzeichnung des NS-Regimes als Unrechtsstaat hat seit den 1970er Jahren weite Anerkennung, zumindest Verbreitung gefunden, wohl auch durch die beiden von der Redaktion der Kritischen Justiz herausgegebenen Bände „Der Unrechtsstaat“ (1979) und „Die juristische Aufarbeitung des Unrechts-Staats“ (1998).[14]

Rechtsstaats-Debatten in der DDR

Nach dem Mai 1945 war man sich in allen Teilen Deutschlands einig, dass ein Rechtsstaat errichtet werden müsse. In der SBZ hatte der „Block der antifaschistisch-demokratischen Parteien“ im Juli 1945 noch einen gemeinsamen Nenner im „demokratischen Rechtsstaat“ gefunden. Bald hatte ihn aber die SED mit ihrem juristischen Cheftheoretiker Karl Polak verabschiedet als Relikt der bürgerlich-kapitalistischen Vorzeit. Insbesondere das Prinzip der Gewaltenteilung vertrug sich nicht mit der Vorstellung der Gewalteneinheit in einem sozialistischen Staat. Hermann Klenner kam – wie Polak schon 1948 – noch 1967 zu dem Ergebnis, dass der Rechtsstaatsbegriff keiner wissenschaftlichen Analyse standhielte.[15] Karl A. Mollnau gab auf derselben Tagung dem alten Kampfbegriff „Diktatur des Proletariats“ den Vorzug für die Kennzeichnung der DDR. Damit lassen sich aber nur noch alte Kämpfer an die Front des Klassenkampfes bringen. Nach einigen vergeblichen Bemühungen, die positiven Assoziationen, die sich mit dem Ausdruck „Rechtsstaat“ verbinden, auch für die DDR nutzbar zu machen[16] – man behalf sich mit „sozialistischer Demokratie“ und „sozialistischer Gesetzlichkeit“ –, wurde zum nicht vorausgesehenen Ende der DDR ein Propagandazug für den Rechtsstaat erlaubt. Günter Sarge, just zum (letzten) Präsidenten des Obersten Gerichts der DDR gekürt, durfte 1986 verkünden „Die DDR – ein wahrhafter Rechtsstaat“.[17] Im Juni 1988 stellte das 6. Plenum des ZK der SED fest, dass die DDR ein „sozialistischer Rechtsstaat“ sei. Das durften dann Erich Buchholz und Karl A. Mollnau noch im selben Monat im Neuen Deutschland erläutern: „Sozialistische Rechtsstaatlichkeit heißt, der Staat ist in seiner Tätigkeit den von ihm selbst geschaffenen Gesetzen unterworfen, solange sie in Kraft sind.“ In der Abteilung Staats- und Rechtsfragen beim ZK der SED wurden „Überlegungen zum sozialistischen Rechtsstaat DDR“ angestellt.[18] In „Staat und Recht“ 1989 schrieb Michael Benjamin „Zum sozialistischen Rechtsstaat“, und auf einer Tagung am 2. Juni 1989 schloss Karl A. Mollnau die Debatte ab: „Sozialistischer Rechtsstaat (Versuch einer Charakterisierung)“.[19] Durch das „Gesetz über die Zuständigkeit und das Verfahren der Gerichte zur Nachprüfung von Verwaltungsentscheidungen“ vom 14.12.1988, das erst am 1. Juli 1989 in Kraft trat, war in der DDR eine Art von Verwaltungsgerichtsbarkeit wieder eingeführt worden, die 1952 abgeschafft worden war.

Thesen

Die neuerliche Redeweise vom Unrechtsstaat lässt sich durch Überlegungen in Frage stellen, die in den folgenden elf Thesen zusammengefasst werden (und diese Problematisierung gilt für den NS wie für die DDR).

  1. Die Gegenüberstellung von Rechtsstaat und Unrechtsstaat stellt eine falsche Dichotomie dar.

Die Unterscheidung von Recht/Unrecht wird üblicherweise angewendet auf einzelne Handlungen oder Normen, aber nicht auf ganze Gesellschaften oder Staaten. Hier verliert die Unterscheidung Rechtsstaat – Unrechtsstaat ihren Sinn. Man klassifiziere alle heute bestehenden ca. 190 Staaten dieser Erde: die guten ins Rechtsstaats-Töpfchen, die schlechten ins Unrechtsstaats-Kröpfchen. Wo gibt es keine freien Wahlen (und wie stellt wer das fest)? Wo werden Grundrechte eingeschränkt, Frauen diskriminiert, ethnische Minderheiten, Homosexuelle, Journalisten verfolgt? Gibt es eine Verfassung, wie ist die Justiz organisiert? Welche Rolle spielen die Geheimdienste?

  1. Die Unterscheidung von Rechtsstaat und Unrechtsstaat erlaubt keine Abstufungen

Wenn nur die klassifikatorische Unterscheidung von Rechtsstaat und Unrechtsstaat verwendet wird, gibt es keine Abstufungen eines Mehr oder Weniger, etwa in einem globalen Vergleich der 193 UNO-Mitglieder. In der international vergleichenden Politikwissenschaft und in Menschenrechtsorganisationen (wie Amnesty International oder Human Rights Watch) arbeitet man mit differenzierten Skalen, die Abstufungen erlauben.

  1. Die Diskussion um den Unrechtsstaat stellt eine sehr begrenzte deutsche Angelegenheit dar

Der Ausdruck „Rechtsstaat“ ist eine deutsche Erfindung (Lorenz von Stein 1869). Die Wortbildung „Unrechtsstaat“ dürfte auch eine deutsche Eigentümlichkeit sein. Die Gegenüberstellung von Rechtsstaat / Unrechtsstaat ist so eingängig in andere Sprachen kaum übersetzbar.[20]Die Bundesregierung erklärte in ihrer Antwort auf die Anfrage der AfD (s.o., Anm. 4), dass sie eine Kategorisierung anderer Staaten als „Unrechtsstaaten“ nicht vornähme („da es keine international anerkannte Definition des Begriffs Unrechtsstaat gibt“). Auch frühere Staaten des Ostblocks werden nicht als „Unrechtsstaaten“ bezeichnet.[21]

  1. Es ist unklar, welche Merkmale gegeben sein müssen, damit man von einem „Rechtsstaat“ oder einem „Unrechtsstaat“ sprechen kann

Welche Merkmale sind notwendig für die Existenz eines Rechtsstaates, welche sind hinreichend, um einen Staat als Unrechtsstaat zu qualifizieren? Das Problem besteht darin, dass es immer Staaten gibt, in denen ein Merkmal oder auch einige Merkmale nicht vorliegen oder nur in Ansätzen. In Betracht kommen etwa:

  • Existiert eine Verfassung? (Was ist mit Großbritannien, Israel?)
  • Ist die Legislative verfassungsgebunden, sind Exekutive und Justiz an die Gesetze gebunden? Unter welchen Voraussetzungen kann die Legislative die Verfassung ändern?
  • Gibt es eine Gewaltenteilung mit einer unabhängigen Justiz? (Das ist so einfach nicht: befolgt die Verwaltung gerichtliche Entscheidungen? Welchen Einfluss nimmt die Exekutive auf die Zusammensetzung der Richterschaft, die Ernennung, Absetzung von Richtern etc.?)
  • Gibt es eine Verfassungsgerichtsbarkeit? (Wenn sie existiert – was nicht in allen Staaten der Fall ist –, welche Kompetenzen hat sie? Wird dagegen die parlamentarische Prärogative betont, wie in Großbritannien? Dort wurde 2009 ein Supreme Court mit begrenzten Kompetenzen eingeführt.)
  • Existiert eine Verwaltungsgerichtsbarkeit? (Wenn ja, mit welchen Kompetenzen? Im NS wurde sogar noch 1941 ein Reichsverwaltungsgericht eingerichtet. In den USA und in GB gibt es keine ausdifferenzierte Verwaltungsgerichtsbarkeit.)
  • Wie steht es mit den klassischen rechtsstaatlichen Justizprinzipien: Legalitätsprinzip, gesetzlicher Richter, keine Ausnahmegerichte, Anspruch auf rechtliches Gehör (eine Verurteilung in Abwesenheit ist im romanischen Rechtskreis zulässig), keine rückwirkenden Gesetze (nulla poena sine lege). Verbot der Doppelbestrafung (ne bis in idem), dem habeas corpus-Prinzip (Art. 104 GG), Verbot einer unangemessen langen Dauer von Gerichts- und Verwaltungsverfahren etc.?
  • Zu einem Rechtsstaat in einem „materiellen“ Sinne werden (die in der Verfassung enthaltenen) Menschen- oder Grundrechte gezählt. Wie sieht es damit auf der Welt aus?

Zählen auch dazu: der Anspruch auf Rechtsvertretung, die Öffentlichkeit der Verhandlungen, die Beteiligung von Laienrichtern, Rechtsmittel gegen Gerichtsentscheidungen, die Trennung von Geheimdiensten und Strafverfolgungsorganen? Was ist mit dem Verbot der Todesstrafe? 1964 urteilte das Bundesverfassungsgericht, dass es der deutschen Staatsgewalt nicht untersagt sei, zur Verhängung und Vollstreckung der Todesstrafe durch einen anderen Staat irgendwie beizutragen. Nach dem Europarat ist die Todesstrafe menschenrechtswidrig.

Bei den Debatten über eine Justizreform in Polen und Ungarn ist auffällig, dass die dortigen Justizpolitiker der herrschenden Gruppierungen nicht sehr einfallsreich sind, aber sehr findig, nämlich im Auffinden von Regelungen verstreut in anderen Staaten, die in ihrer Summe das Ende von Rechtsstaatlichkeit bedeuten. Sie berufen sich dann darauf, dass es solche Einrichtungen auch in anderen, rechtsstaatlichen Gesellschaften gibt.


  1. Die Unterscheidung nur von Rechtsstaat und Unrechtsstaat ist nicht „logisch“

Meist wird nur die klassifikatorische, dichotome Unterscheidung von Rechtsstaat und Unrechtsstaat verwendet. Weil die DDR kein Rechtsstaat gewesen sei, sei sie eben ein Unrechtsstaat. Das wird auch noch als „logisch“ ausgegeben.[22] Allein das deontologische Sechseck bietet aber sechs Möglichkeiten der Unterscheidung[23]:
… Rechtsstaat
… Nicht-Rechtsstaat
… Unrechtsstaat
… Nicht-Unrechtsstaat
… weder Rechtsstaat noch Unrechtsstaat
… weder Nicht-Rechtsstaat noch Nicht-Unrechtsstaat.

  1. Es gibt keine klaren Grenzen in der Entwicklung eines Unrechtsstaates. Das Unrecht kommt schleichend. Die Unterscheidung von Rechtsstaat und Unrechtsstaat liefert keine Handlungsorientierung in einem zeitlichen Verlauf

Ab wann wären Widerstand, Resistenz, Verweigerung geboten oder gerechtfertigt? Der „Unrechtsstaat“ kommt nicht plötzlich; es gibt kein Ereignis, an dem sich der Übergang Rechtsstaat/Unrechtsstaat präzise festmachen ließe. Die Beispiele, die Radbruch für den NS als Unrechtsstaat anführt, liegen in einer Zeitspanne zwischen 1933 bis 1939 (Einparteiensystem, Judengesetzgebung, drakonische Strafgesetze). Es wird mit der Unterscheidung von Rechtsstaat/Unrechtsstaat eine klare Trennungslinie versprochen, die für die Akteure und Opfer aber nicht besteht.

Deshalb ist die Verwendung des Begriffs auch volkspädagogisch untauglich, wenn nicht gar gefährlich. Er gaukelt Klarheit, scharfe Grenzen vor, wo es keine gibt. Es heißt immer: man müsse den Anfängen wehren – aber wann fängt das Unrecht an? Man soll „Schlimmeres verhüten“; aber was hat man dann alles schon an Schlimmem in Kauf genommen?

Umgekehrt lässt sich fragen: Wann verwandelt sich ein Unrechtsstaat (oder ein Vor-Rechtsstaat?) in einen Rechtsstaat? Immerhin eine Frage, die ganz wichtig ist für die Transformation der mittel- und osteuropäischen Staaten nach 1989, bei der Aufnahme in die EU oder beim Versuch des „nation building“ (im Irak oder in Afghanistan). Liegt eine Transformation zum Rechtsstaat vor, sobald es eine Verwaltungsgerichtsbarkeit gibt – aber mit welchen Zuständigkeiten? Wenn Richter unabhängig sind von Einflussnahmen politischer Parteien? Aber wann ist das wirklich der Fall?

  1. Es handelt sich beim Begriff des „Unrechtsstaates“ nicht um einen Rechtsbegriff

Unter einem Rechtsbegriff kann man einen Begriff verstehen, der nach methodischen Regeln ausgelegt und angewendet werden kann und an den bestimmte Rechtsfolgen geknüpft werden können. Schon bei der ersten Eigenschaft gerät man, wie gesehen, in Schwierigkeiten. Aber was folgt rechtlich daraus, dass man einen bestimmten Staat als Unrechtsstaat bezeichnet? Internationale Gerichtshöfe können einzelne Rechtsverstöße sanktionieren, aber sie kennzeichnen nicht ganze Staaten als Unrechtsstaaten. Die EU-Kommission kann ein „Rechtsstaatsverfahren“ gegen Mitgliedsländer einleiten und Verstöße gegen Prinzipien, Grundwerte der Gemeinschaft sanktionieren. Polen oder Ungarn werden damit aber nicht zu Unrechtsstaaten.

Konkret könnte man fragen, ob es gegen einen (und in einem) Unrechtsstaat ein Widerstandsrecht, gar eine Widerstandspflicht gibt.[24] Müssen die diplomatischen Beziehungen zu einem Unrechtsstaat abgebrochen werden oder genügen ökonomische Sanktionen? Darf, soll oder muss man gar „humanitär intervenieren“?

Rechtsfolgen können allerdings ausgelöst werden bei Verstößen gegen „rechtsstaatliche Grundsätze“:

  • 6 des Bundesentschädigungsgesetzes von 1953/1956 sah vor, dass jemand von der Entschädigung nicht ausgeschlossen ist, der außerhalb des Geltungsbereichs dieses Gesetzes verurteilt wurde und die „Verurteilung nach rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht gerechtfertigt ist“.

Der 1997 geänderte Art. 237 § 1 EGBGB nimmt Fälle der Enteignung nach 1945 vom Bestandsschutz aus, wenn die „mögliche Überführung in Volkseigentum mit rechtsstaatlichen Grundsätzen schlechthin unvereinbar war“. Bestimmte Verwaltungsentscheidungen von DDR-Stellen sind nach dem Gesetz über die Aufhebung rechtsstaatswidriger Verwaltungsentscheidungen im Beitrittsgebiet und die daran anknüpfenden Folgeansprüche von 1994 aufzuheben, „soweit sie mit tragenden Grundsätzen eines Rechtsstaates schlechthin unvereinbar“ sind. In Abs. 2 wird eine Konkretisierung versucht: „Mit tragenden Grundsätzen eines Rechtsstaates schlechthin unvereinbar sind Maßnahmen, die in schwerwiegender Weise gegen die Prinzipien der Gerechtigkeit, der Rechtssicherheit oder der Verhältnismäßigkeit verstoßen haben und die der politischen Verfolgung gedient oder Willkürakte im Einzelfall dargestellt haben.“

Der Ex-Polizist und Stasi-Spitzel Karl-Heinz Kurras (der Benno Ohnesorg erschoss und in zwei Verfahren von der Berliner Justiz freigesprochen wurde – Unrechtsjustiz?) sollte 4.500 Euro an den Staat zurückzahlen. Er hatte das Geld als Eingliederungshilfe für politische Flüchtlinge aus der sowjetischen Besatzungszone erhalten. Seine damaligen Angaben seien falsch gewesen, und er habe durch seine spätere Spitzeltätigkeit für die Staatssicherheit der DDR „einem rechtsstaatswidrigen System gedient“.[25]

  1. „Unrechtsstaat“ war ein politischer Kampfbegriff auf beiden Seiten.

„Unrechtsstaat“ war ein innerdeutscher Propagandabegriff im Kalten Krieg. Jede Seite hielt der anderen diesen Ausdruck vor. Zur Vorbereitung der Babelsberger Konferenz verfasste die ZK-Abteilung Wissenschaften 1958 ein Papier, in dem vom „Bonner Unrechtsstaat“ die Rede war. 1959 erschien in der DDR ein Buch zur westdeutschen Sonderjustiz mit dem Titel „Staat ohne Recht“. Vor der Volkskammer erklärte Ulbricht 1960 die Bundesrepublik zu einem „Staat des Unrechts“, weil er die Durchführung des Potsdamer Abkommens sabotiere, das ein Wiedererstehen des deutschen Militarismus verhindern sollte. Die Interessen der amerikanischen Imperialisten und der NATO seien oberstes Gesetz. Der „westdeutsche Unrechtsstaat“ setze die Politik des mörderischen Regimes des Hitlerfaschismus fort.

Heute ist die Verwendung asymmetrisch geworden. Der Begriff wird sozusagen von verspäteten Kalten Kriegern vor allem zur Delegitimierung der DDR verwendet (die manche immer noch als „ehemalige“ DDR bezeichnen, als gäbe es noch eine heutige. Niemand spricht von der ehemaligen Weimarer Republik, vom ehemaligen NS-Regime etc.). Ein interessantes Verständnis von Gewaltenteilung bot der damalige Justizminister Kinkel, als er – als Vertreter der Exekutive – auf dem Deutschen Richtertag 1991 die Richterschaft aufforderte, die DDR zu delegitimieren:

„Sie, meine Damen und Herren, haben als Richter und Staatsanwälte bei dem was noch auf uns zukommt, eine ganz besondere Aufgabe. Es wird sehr darauf ankommen, wie die in allen Rechtsbereichen auf die Gerichte zukommenden Fragen behandelt werden, ob es vor allem auch gelingen wird, die für die Einheit so wichtige Akzeptanz der gerichtlichen Entscheidungen bei den Menschen zu erreichen. Davon hängt ab, ob der Rechtsstaat in den Augen der Bevölkerung in der Lage ist, mit dem fertig zu werden, was uns das vierzigjährige Unrechtsregime in der früheren DDR hinterlassen hat. (…) Ich weiß sehr wohl, daß die Gerichte nicht allein leisten können, was aufzuarbeiten ist. Aber einen wesentlichen Teil müssen Sie leisten, alternativlos. Ich baue auf die deutsche Justiz. Es muß gelingen, das SED-System zu delegitimieren. (…) Politische Straftaten in der früheren DDR dürfen nicht verjähren. (…) Der Gesetzgeber kann aus rechtsstaatlichen Gründen wegen des Problems der Rückwirkung nicht tätig werden.“[26]

  1. Der Begriff „Unrechtsstaat“ enthält den Vorwurf einer Lebensführungsschuld

Er enthält – für den NS wie für die DDR – den Vorwurf, im falschen System gelebt zu haben, dessen gesamten Unrechtscharakter man nicht erkannt habe. Oder man sei zu feige gewesen, gegen das Unrecht aufzustehen.

Wie kann man als Beteiligter in einem Regime dessen „politische Grundstruktur“ erkennen, die das Spektrum des rechtlich und moralisch Sagbaren und Machbaren bestimmt. Was macht die politische Identität eines Gemeinwesens aus, wer befindet darüber innerhalb eines Regimes und wie kann es gelingen, sich ein von der politischen Grundstruktur unabhängiges moralisches Urteil zu bilden? Das kann nur in einer kommunikativ offenen Grundstruktur gelingen, die es auch erlaubt, das Ganze als Falsches zu erkennen.

  1. Die Anwendung des Begriffs Unrechtsstaat sowohl auf den NS wie auf die DDR planiert wesentliche Unterschiede

Man erspart sich eine genauere Analyse beider Systeme, wenn man sie in das gleiche Kästchen steckt. Da werden Kontinuitätslinien gezogen – „Die DDR-Bürger haben fast 60 Jahre in Diktaturen gelebt“ –, es werden Vergleiche gezogen, etwa zwischen Roland Freisler und Hilde Benjamin. Der Bundesgerichtshof erklärte 1995 allerdings, dass das „staatlich verübte Unrecht der DDR“ mit dem der Nazizeit überhaupt nicht gleichgesetzt werden könne.

Keine Gleichsetzung, aber wie sieht es mit Vergleichen aus? Beim Vergleich von NS und DDR habe ich von „höllenweiten Unterschieden“ gesprochen. Vergleiche zwischen Tätern sind vielleicht möglich; dann wird man die über 2.000 Todesurteile Freislers, die er als Präsident des Volksgerichtshofs zwischen 1942 und 1945 verhängt hat, den zwei Todesurteilen gegenüberstellen, die Hilde Benjamin, von 1949 bis 1953 Vizepräsidentin des Obersten Gerichts der DDR, 1952 verhängte. Vergleiche zwischen Opfern sind moralisch obszön. Wer die Opfer der Konzentrationslager mit den Opfern des Ministeriums für Staatssicherheit vergleicht, trifft auf erregte Reaktionen von beiden Seiten – mit Recht. Man kann ein Kind, das sich das Bein gebrochen hat, nicht damit trösten, dass man ihm erzählt, dass viele Kinder auf dem Balkan und anderswo ihre Beine durch Tretminen verloren haben.

Die Frage sei erlaubt: Ist die Kennzeichnung des NS-Regimes als „Unrechtsstaat“ überhaupt angemessen? Die Ungeheuerlichkeiten, die in den Jahren 1933-1945 verübt wurden, insbesondere nach 1939 (Euthanasie-Morde, die Vernichtung der Juden und anderer „Volksschädlinge“, ein Vernichtungskrieg – sie alle kommen bei Radbruch nicht vor) liegen jenseits einer Beurteilung nach Kriterien von Recht und Gerechtigkeit. Es sind keine Ungerechtigkeiten, sondern eben Ungeheuerlichkeiten, die auch mit einem Straftatbestand „crimes against humanity“ nur unzureichend zu fassen sind.

  1. Die DDR war gewiss kein Rechtsstaat – und wollte es bis kurz vor ihrem Ende auch gar nicht sein

„Rechtsstaat“ war ein bürgerliches Relikt, die Gewaltenteilung wurde z.B. interpretiert als das Resultat eines Kompromisses von spezifischen historischen Machtkonstellationen. Man wollte einen kraftvollen „Einheitsstaat“, der in der Lage war, den Sozialismus durchzusetzen.

Für die DDR war kennzeichnend, dass sich in ihr nicht-rechtsstaatliche Merkmale häuften, die wir einzeln auch in westlichen Ländern finden, die wir als Rechtsstaat ansehen. Es gab aus den genannten Gründen keine Gewaltenteilung, eine Verfassungsgerichtsbarkeit wurde abgelehnt, weil die Justiz nicht befugt sein sollte, den Gesetzgeber als obersten Souverän zu kontrollieren. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit wurde abgeschafft, weil sie der angeblichen Interesseneinheit von Bürger und Staat widersprach; gegen Ende der DDR wurde sie in Ansätzen wieder eingeführt. Die Unabhängigkeit der Justiz existierte nur als Restgröße; es gab keinen gesetzlichen Richter im bundesdeutschen Verständnis; eine strikte Gesetzesbindung wurde im Sinne einer „sozialistischen Gesetzlichkeit“ ausgehöhlt; eine Verurteilung in Abwesenheit war möglich (wie in vielen anderen Staaten auch); es gab keine Trennung von Strafverfolgungsorganen und Geheimdiensten (wie in vielen anderen Staaten auch).

Ist die Kennzeichnung der DDR als Unrechtsstaat erforderlich für eine Delegitimierung der DDR? Ist es nicht angemessen, vom Unrecht der SED-Diktatur oder vom SED-Unrecht zu sprechen – und dieses Unrecht genau zu benennen? Im Sinne von Radbruch gab es gesetzliches Unrecht und Unrecht in Form des Verstoßes gegen eigene Gesetze. Oben hatte ich auf ein Problem der „Radbruch-Formel“ hingewiesen: kann man Gesetzen „als solchen“ ihren Unrechtscharakter ansehen? Ein Kandidat wäre sicherlich Art. 6 der DDR-Verfassung von 1949.[27] Kann man dem Grenzgesetz der DDR (dessen § 27 regelte den Schusswaffengebrauch) den Unrechtscharakter ansehen oder war es seine Praktizierung? Wie ist es mit der Strafbarkeit von Republikflucht („Ungesetzlicher Grenzübertritt“, § 213), „Beeinträchtigung staatlicher und gesellschaftlicher Tätigkeit“ (§ 214) und von Asozialität (§ 249 StGB-DDR)?

Nach 1990 stand das Unrecht im Sinne des Verstoßes gegen eigene Gesetze im Vordergrund. Es wurde strafrechtlich geahndet[28], wobei das Rückwirkungsverbot bei einigen Komplexen wie z.B. der Rechtsbeugung und den Tötungen an der Grenze durch eine bundesdeutsche Interpretation der Tatbestände (eine „menschenrechtsfreundliche Auslegung“) ausgehebelt wurde:

  • Wahlfälschung
  • Gewalttaten an der innerdeutschen Grenze
  • Rechtsbeugung
  • Amtsmissbrauch und Korruption
  • Straftaten unter Beteiligung des MfS
  • Spionage
  • Gefangenenmisshandlung
  • Doping
  • politische Denunziation
  • Wirtschaftsstrafsachen.

Einige Fallkomplexe tauchen im strafrechtlichen Kontext nicht auf; sie wurden eher Gegenstand von Entschädigungen und Rehabilitationen: Zwangskollektivierungen, Enteignungen, Zwangsumsiedlungen, Zwangsadoptionen.[29]

Kein Argument, von der Bezeichnung „Unrechtsstaat“ für die DDR abzusehen, ist die Existenz einer „normal funktionierenden“ Justiz und Verwaltung. Das trifft eigentlich für jedes System zu, wenn es nicht durch extreme Katastrophen zerrüttet ist. Es gab und gibt alltägliche Routinen und Selbstverständlichkeiten – im NS, in der DDR, in der BRD. Um dieses Phänomen zu erfassen, fand Ernst Fraenkels Begriff des „Doppelstaates“ eine gewisse Verbreitung.[30] Mit ihm wird die Koexistenz eines Normenstaates, in dem es normgemäß zugeht, und eines Maßnahmenstaates, in dem vor allem nach politischer Opportunität agiert wird, bezeichnet. Die Abgrenzung ist schwierig, weil sie nicht nach bestimmten Akteuren oder Organisationen erfolgt. Und wie Otto Kirchheimer bemerkte: „Inseln, für die rechtsstaatliche Grundsätze nur bedingt, teilweise oder überhaupt nicht gelten, gibt es in jeder Gesellschaft.“[31]

Das zentrale Problem des SED-Unrechts war: die SED. Dass einer Partei, ab 1968 sogar per Verfassung, die „führende Rolle“ zugesprochen wurde,[32] hieß, dass alle staatlichen Aktivitäten unter parteipolitischem Vorbehalt standen. Die Partei durchdrang systematisch (und nicht so chaotisch wie im NS) von den Grundorganisationen bis zum Politbüro den gesamten Staatsapparat. Noch 1971 befasste sich das Politbüro mit einzelnen Gerichtsverfahren. Das Nomenklatursystem bedeutete, dass Parteistellen gemäß ihrer Hierarchie über die Besetzung staatlicher Stellen in einer parallelen Hierarchie entscheiden konnten. Man kann in der „sozialistischen Gesetzlichkeit“ einen Bezug zu Fraenkels Dualismus sehen. Es sollte gesetzlich zugehen, die Staatsanwaltschaft übte die „Gesetzlichkeitsaufsicht“ aus. Aber das sollte alles „sozialistisch“ erfolgen. Und das, was darunter zu verstehen war, bestimmten letztlich Parteistellen. Gesetze waren Instrumente zum Aufbau und zur Sicherung des Sozialismus, kein „Maß der Macht“, wie es zum Ende der DDR anklang. Diese politische Grundstruktur der DDR ist nur schwer in den Kategorien von Recht und Unrecht zu fassen. Recht wie Unrecht gab es auf beiden Seiten: in Staat und Partei.

Jenseits „normaler“ Straftatbestände liegt ein weiterer Komplex von Untaten, auf den man kaum mit rechtlichen Mitteln, eher mit moralischer Empörung reagieren kann: die Beschädigung unzähliger Lebensläufe durch Bespitzelung, „Zersetzung“, Korrumpierung, die Zerstörung von Entwicklungschancen.[33] Diese Verletzungen kann man zutiefst beklagen, ein Ungeschehenmachen aber nicht einklagen.

Fazit

Wenn man aus der Diskussion über Rechtsstaat und Unrechtsstaat etwas lernen kann, dann wäre das eine Schärfung des Sinnes für den Wert rechtsstaatlicher Prinzipien, die für manche nur formal sind, und eine erhöhte Aufmerksamkeit gegenüber aktuellen Gefährdungen in Staaten, die man nicht als Unrechtsstaaten bezeichnen muss.

PROF. DR. HUBERT ROTTLEUTHER   geb. 1944, Studium der Rechtswissenschaft, Philosophie und Soziologie in Frankfurt a.M., Dr. der Philosophie (1972), von 1975 bis 2012 Professor für Rechtsphilosophie und Rechtssoziologie am Fachbereich Rechtswissenschaft der Freien Universität Berlin; Leiter des Instituts für Rechtssoziologie und Rechtstatsachenforschung; seit 2013 Honorarprofessor am Fachbereich Rechtswissenschaft der Goethe-Universität Frankfurt a.M.; Veröffentlichungen in den Bereichen der empirischen Rechtssoziologie (vor allem der Justizforschung und des Antidiskriminierungsrechts), der juristischen Zeitgeschichte (Recht und Nationalsozialismus, Recht in der DDR), der Rechtstheorie und Rechtsphilosophie (Grundlagen des Rechts, Ungerechtigkeiten etc.).

Anmerkungen:

[1] Gießener Staatsrechtslehrertagung 1991: „Der Rechtsstaat und die Aufarbeitung der vor-rechtsstaatlichen Vergangenheit“.

[2] Volkmar Schöneburg, Der verlorene Charme des Rechtsstaates. Oder: was brachten die Mauerschützenprozesse?, in: WeltTrends. Zeitschrift für internationale Politik und vergleichende Studien, Nr. 34 (2002), S. 97-109.

[3] WD 1- 3000 – 022/18.

[4] BT-Drs. 19/16692 v. 22.1.2020 und die Antwort der Bundesregierung BT-Drs.19/17163 v. 10.2.2020.

[5] C. Schmitt, Was bedeutet der Streit um den „Rechtsstaat“?, Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 1935, S. 189-201 (189).

[6] Deutsches Recht, 1934, S. 120. – Zur Rechtsstaatsdiskussion im NS s. Michael Stolleis, Die Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. Bd. 3: Staats- und Verwaltungsrechtswissenschaft in Republik und Diktatur 1914–1945, München 1999, S. 330–338 (Der Streit um den Rechtsstaat); Christian Hilger, Rechtsstaatsbegriffe im 3. Reich, Tübingen 2003.

[7] Der Beitrag erschien ursprünglich am 12.9.1945 in der Rhein-Neckar-Zeitung. Er ist enthalten in: Gustav Radbruch, Rechtsphilosophie. Studienausgabe (hrsg. vom R. Dreier u. S. L. Paulson), Heidelberg 1999, S. 209f. (209) (GRGA Bd. 3, S. 78f.).

[8] Darauf bezieht sich die viel zitierte „Radbruch-Formel“, die hier nochmals zitiert sei: „Der Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit dürfte dahin zu lösen sein, daß das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn, daß der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß das Gesetz als „unrichtiges Recht“ der Gerechtigkeit zu weichen hat. Es ist unmöglich, eine schärfere Linie zu ziehen zwischen den Fällen des gesetzlichen Unrechts und den trotz unrichtigen Inhalts dennoch geltenden Gesetzen, eine andere Grenzziehung aber kann mit aller Schärfe vorgenommen werden: wo Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt wird, wo die Gleichheit, die den Kern der Gerechtigkeit ausmacht, bei der Setzung positiven Rechts bewußt verleugnet wurde, da ist das Gesetz nicht etwa nur „unrichtiges Recht“, vielmehr entbehrt es überhaupt der Rechtsnatur. Denn man kann Recht, auch positives Recht, gar nicht anders definieren denn als eine Ordnung und Satzung, die ihrem Sinn nach bestimmt ist, der Gerechtigkeit zu dienen.“ (G. Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, SJZ 1946, Sp. 105-108 (107) (auch in Rechtsphilosophie. Studienausgabe, a.a.O. (Anm. 7), S. 217; GRGA Bd. 3, S. 83-93). Die Radbruch-Formel spielte dann noch eine späte Rolle in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 24.10.1996 (Verfassungsbeschwerde von Keßler, Streletz und Albrecht). In jener wurde das Grenzregime der DDR als „extremes Unrecht“ bezeichnet.

[9] Vgl. Irmtrud Wojak, Fritz Bauer 1903-1968, München 2009; zum Remer-Prozess S. 265ff.

[10] Urteil LG Braunschweig im Remer-Prozess, 15.3.1952 (1 K Ms 13/51) (https://openjur.de/u/ 2174132.html). Das von Wojak (ebd.) auf S. 276 (zu Fn. 78) angeführte Zitat findet sich nicht in dieser Fassung des Urteils.

[11] E. Bloch, Naturrecht und menschliche Würde, Frankfurt a.M. 1961, S. 158. Bloch wurde kurz nach der Machtergreifung aus dem Deutschen Reich ausgebürgert; seit 1949 war er Professor in Leipzig. Nach dem Bau der Mauer kehrte er von einem Besuch in der BRD nicht in die DDR zurück, wo er 1957 zwangsemeritiert worden war.

[12] BT-Pl.Pr., 8. Wahlperiode, S. 6991A.

[13] BGHZ 13, 265, 301.

[14] S. auch Udo Reifner (Hrsg.), Das Recht des Unrechtsstaats, Frankfurt a.M./New York 1981.

[15] Deutsche Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft „Walter Ulbricht“, Hrsg., Illusion und Wirklichkeit des Rechtsstaates, Berlin 1967, S. 220f.

[16] Zu den Konjunkturen der Diskussion um den Rechtsstaat in der DDR bis 1968 s. die Dissertation von Klaus Sieveking, Die Entwicklung des sozialistischen Rechtsstaatsbegriffs in der DDR. Eine Studie zur Auseinandersetzung mit dem Rechtsstaat in der SBZ-DDR zwischen 1945 und 1968, Berlin 1975.

[17] Neue Justiz 1986, S. 350.

[18] Von Klaus Heuer, Mitarbeiter der Abteilung, in Neue Justiz Heft 12/1988.

[19] Neue Justiz Oktober 1989. – 2014 bezeichnete H. Klenner das als Missbrauch des Terminus Rechtsstaat als „Verschönerungsvokabel“ (H. Klenner, Grundsätzliches zum Rechtsstaat, Mitteilungen der Kommunistischen Plattform v. 4.11.2014, abrufbar unter https://kpf.die-linke.de/mitteilungen/detail/news/grundsaetzliches-zum-rechtsstaat/).

[20] Im Englischen würde man wohl „lawless state“ oder „state of injustice“ sagen. Rechtsstaat ist aber nicht mit „state of justice“ zu übersetzen – womit schlichte Begriffsspielchen vermieden sind. In internationalen Vergleichen werden auch Ausdrücke wie failed states oder rogue states verwendet. Bei John Rawls, The Law of Peoples, Cambridge 1999, gibt es die Figur des outlaw-state. In seiner Theorie der Gerechtigkeit nahm er eine grobe Abstufung vor: Handelt es sich um ein „wohlgeordnetes“ Gemeinwesen, ein „größtenteils“ geordnetes Gemeinwesen oder um ein „ungerechtes und korruptes System“. „Ist die Grundstruktur der Gesellschaft einigermaßen gerecht, gemessen an den gegebenen Möglichkeiten, so muss man ungerechte Gesetze als bindend anerkennen, falls sie ein gewisses Maß der Ungerechtigkeit nicht überschreiten.“ – ein schwacher Widerhall von Radbruch (John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt a.M. 1975, S. 387).

[21] Es ist nicht bekannt, dass bundesdeutsche Staatsanwaltschaften Ermittlungen wegen Tötungen deutscher Staatsangehöriger an den Grenzen der „Unrechtsstaaten“ (?) CSSR, Ungarn, Bulgarien u.a. eingeleitet hätten.

[22] So Karl Wilhelm Fricke in seinem Vorwort zu Rudi Beckert, Glücklicher Sklave, Berlin 2011, S. 9: „Wo aber kein Rechtsstaat ist, da ist ein Unrechtsstaat. Das argumentum e contrario hat die Logik für sich.“

[23] Jan Joerden, Überlegungen zum Begriff des Unrechtsstaats. Zugleich eine Annäherung an eine Passage zur Staatstypologie in Kants Anthropologie, in: Jahrbuch für Recht und Ethik. Annual Review of Law and Ethics 3 (1995), 253-265. Rechtsstaat – Unrechtsstaat stehen in einem konträren Verhältnis, keinem kontradiktorischen. Gerd Roellecke unterscheidet nur Rechtsstaat – Nichtrechtsstaat – Unrechtsstaat, in: Rechtstheorie 1997, S. 301-314.

[24] Georg Elser berief sich übrigens auf keines der Beispiele von Radbruch. Vor der Gestapo sagte er zu seiner Motivation, dass es den Arbeitern im NS schlechter ginge als zuvor und dass Hitler den Krieg anstrebe, was er anscheinend im Sommer 1938 wusste, als er den Entschluss fasste. (Hätte man Bush Anfang 2003 umbringen dürfen im Angesicht des bevorstehenden völkerrechtswidrigen Irak-Krieges?)

[25] Tagesspiegel vom 8.12.2009.

[26] Deutsche Richterzeitung 1992, S. 4f.

[27] Art. 6 Abs. 2 lautete: „Boykotthetze gegen demokratische Einrichtungen und Organisationen, Mordhetze gegen demokratische Politiker, Bekundung von Glaubens-, Rassen-, Völkerhaß, militaristische Propaganda sowie Kriegshetze und alle sonstigen Handlungen, die sich gegen die Gleichberechtigung richten, sind Verbrechen im Sinne des Strafgesetzbuches.“ Die Tatbestände sind sehr unbestimmt, die Rechtsfolgen ganz offen (von einem Jahr Zuchthaus bis zur Todesstrafe).

[28] Vgl. die Dokumentation von Klaus Marxen/Gerhard Werle (Hrsg.), Strafjustiz und DDR-Unrecht, 7 Bände, Berlin bis 2009.

[29] Diese wurden medial sehr betont. Nachgewiesen wurden wohl 9 Fälle; vgl. Marie-Luise Warnecke, Zwangsadoptionen in der DDR, Berlin 2009.

[30] Ernst Fraenkel, The Dual State, New York 1941; dt. Der Doppelstaat (1974), in: Gesammelte Schriften, Bd. 2, Baden-Baden 1999.

[31] Otto Kirchheimer, Politische Justiz, Neuwied/Berlin 1965, S. 472.

[32] Radbruch hatte als Beispiel für gesetzliches Unrecht auch die Bestimmungen im NS angeführt, die zur Etablierung einer Einparteienherrschaft beitrugen. Art. 1 der DDR-Verfassung 1968 enthielt den Passus, dass der sozialistische Staat „unter Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei“ stünde. Daneben gab es formell aber weitere Parteien, die faktisch unter Oberaufsicht der SED standen. Der Norm „als solcher“ sieht man das nicht an.

[33] Thomas Claer, Negative Staatlichkeit. Von der „Räuberbande“ zum „Unrechtsstaat“, Hamburg 2003.

 

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