Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 215: Geheimdienste vor Gericht

Versamm­lungs­frei­heit – auch auf privatem Grund?

In: vorgänge Nr. 215 (Heft 3/2016), S. 125-126

Katharina Krisor-Wietfeld, Rahmenbedingungen der Grundrechtsausübung insbesondere zu öffentlichen Foren als Rahmenbedingung der Versammlungsfreiheit, Mohr Siebeck Tübingen 2016, 304 S., ISBN 978-3-16-153864-3

Schon im „Grundkurs Staatsrecht“ lernen Jura-Studierende, dass unsere Grundrechte Abwehrrechte der Bürger_ innen gegen staatliche Eingriffe in ihre Freiheit seien. Wie aber verhält es sich im Hinblick auf die materiellen Voraussetzungen für die Grundrechtsausübung? Das Grundrecht z.B. auf freie Wahl der Ausbildungsstätte in Art. 12 Grundgesetz „wäre ohne die tatsächliche Voraussetzung, es in Anspruch nehmen zu können, wertlos.“ Dies konstatierte das Bundesverfassungsgericht bereits 1972 in seinem Numerus-Clausus-Urteil. Für das Grundrecht der Versammlungsfreiheit gilt Gleiches: „Geeignete Versammlungsorte stellen eine besonders plastische Voraussetzung für die Wahrnehmung des grundrechtlichen Freiheitsangebotes dar“, schreibt Krisor-Wietfeld zu Beginn ihrer Untersuchung. Für öffentliche Straßen und Plätze gilt die Grundrechtsgewährleistung ohne Frage. Aber wie ist es, wenn infolge der Privatisierung immer mehr faktisch öffentliche Foren (Shopping Malls, „Einkaufsbahnhöfe“ etc.) dem Regime des Privatrechts einschließlich der Freiheit des Eigentums unterliegen? Das Bundesverfassungsgericht hat zu dieser Frage erstmals in seinem Fraport-Urteil vom 22. Februar 2011 grundsätzlich Stellung bezogen. Danach darf die Wahrnehmung des Grundrechts der Versammlungsfreiheit jedenfalls im öffentlich zugänglichen Bereich des von der Fraport-AG betriebenen Frankfurter Flughafens nicht verwehrt werden (ausführlich dazu Michael Plöse, in: vorgänge 213, S. 91 ff.)
Diese wichtige Entscheidung nimmt Krisor-Wietfeld zum Ausgangspunkt ihrer Darstellung. Der Schwerpunkt ihrer Untersuchung liegt zwar im deutschen Recht, sie lenkt den Blick allerdings auch auf die entsprechende Rechtsprechung zum „public forum“ in den USA und Kanada. Etwas peinlich für den Berichterstatter des Bundesverfassungsgerichts im Fraport-Verfahren, der sich auf die dortige Rechtsprechung berufen hat, ist der Nachweis der Autorin, dass diese keineswegs auf einer Linie mit der Position des Bundesverfassungsgerichts liegt (S. 127 ff. und 272 ff.). Gleichwohl überzeugt die Auffassung des höchsten deutschen Gerichts, dass die Versammlungsfreiheit auch auf solchen öffentlichen Foren, die dem Privatrecht unterliegen, Geltung beansprucht. In seiner Kammerentscheidung vom 18. Juli 2015 zum „Bierdosen-Flashmob für die Freiheit“ auf dem Nibelungenplatz in Passau, einer privaten Einkaufszone,  hat das Gericht inzwischen diese Position bestätigt und eine mittelbare Drittwirkung des Grundrechts auch gegenüber rein privaten Unternehmen bestätigt. Diese neue Entscheidung hat Krisor-Wietfeld allerdings noch nicht berücksichtigt.

Im Hauptteil ihrer Arbeit dekliniert die Autorin die verschiedenen rechtsdogmatischen Ansatzpunkte für die Erstreckung des Grundrechtsschutzes auf privat betriebene öffentliche Foren im Einzelnen durch. Sie erörtert dabei die Fragen, ob die abwehrrechtliche Funktion der Versammlungsfreiheit auch deren Rahmenbedingungen erfasst, wieweit die „Drittwirkung“ der Grundrechte gegenüber Privaten reicht und ob sich aus der Versammlungsfreiheit auch eine Schutzpflicht des Staates gegenüber den Übergriffen von privater Seite ableiten lässt. Das Letztere bejaht sie mit guten Gründen und konstatiert, dass der Staat das grundrechtliche Untermaßverbot missachte, indem er „die Ausübung der Versammlungsfreiheit an privaten öffentlichen Foren weder durch grundrechtskonforme Auslegung einfach-rechtlicher Regelungen noch durch einfach-rechtliche Schutznormen gegen derartige private Übergriffe“ schützt (S. 277). Diesem Versäumnis versucht sie durch den Vorschlag einer gesetzlichen Regelung der Problematik abzuhelfen (S. 261 f.). Danach soll die Nutzung eines öffentlichen Forums für Versammlungszwecke grundsätzlich nicht der Erlaubnis des Inhabers der räumlichen Verfügungsbefugnis hierüber bedürfen. Allerdings soll dieser zum Widerspruch berechtigt sein, wenn alternative öffentliche Foren in staatlicher Sachherrschaft zur Verfügung stehen. Damit geht dieser Regelungsvorschlag nicht so weit wie der Gesetzentwurf des „Arbeitskreises Versammlungsrecht“ aus dem Jahre 2011. Danach soll eine öffentliche Versammlung „auf Verkehrsflächen von Grundstücken in Privateigentum, die dem allgemeinen Publikum geöffnet sind“, generell keiner Zustimmung der Eigentümerin oder des Eigentümers bedürfen (§ 21).

Bisher sind die Gesetzgeber der Länder allerdings weder diesen noch anderen Vorschlägen zur Gewährleistung der Versammlungsfreiheit auch auf öffentlichen Foren in privater Hand gefolgt. Selbst das als liberal geltende Versammlungsgesetz Schleswig-Holsteins von 2015 enthält nur eine entsprechende Regelung für solche Grundstücke, die Unternehmen gehören, die ausschließlich im Eigentum der öffentlichen Hand stehen oder von ihr beherrscht werden (§ 18, kritisch dazu Hartmut Aden, in: Vorgänge 213, S. 13). Solche Unternehmen sind allerdings ohnehin an die Grundrechte gebunden, wie z.B. im Fraport-Urteil nachgelesen werden kann. Offenbar scheuen die Gesetzgeber aller Bundesländer davor zurück, die Freiheit des Eigentums zugunsten des Grundrechts der Versammlungsfreiheit einzuschränken. Ihnen sei die Lektüre der gründlichen Untersuchung von Katharine Krisor-Wietfeld wärmstens empfohlen.

Dr. Martin Kutscha ist Professor für Staatsrecht i. R. und Vorstandsmitglied der Humanistischen Union

Dateien

nach oben