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Außer Kontrolle? Streit­kräf­te­e­in­sätze vor dem Bundes­ver­fas­sungs­ge­richt

in: vorgänge Nr. 218 (Heft 2/2017), S. 25-32

Nach Art. 87a Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) dürfen Streitkräfte zur Verteidigung aufgestellt werden. Außer zur Verteidigung dürfen sie nach Abs. 2 nur eingesetzt werden, wenn das Grundgesetz dies ausdrücklich zulässt. Ob sie auch für sog. Auslandseinsätze eingesetzt werden dürfen, war umstritten. Der Autor zeichnet nicht nur die Linie einer immer größeren Zulässigkeit von Auslandseinsätzen nach, sondern hegt auch die Befürchtung, dass der Einsatzspielraum im Inland erweitert werden wird.

Welche Rechts­grund­lage?

Als „das oberste sicherheitspolitische Grundlagendokument Deutschlands“ bezeichnet  das  Bundesministerium der Verteidigung das von ihm 2016 herausgegebene „Weißbuch zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr“[1] Das ist überraschend. Schließlich sind das Bundesministerium sowie die Bundeswehr Teile der vollziehenden Gewalt der Bundesrepublik Deutschland und damit laut Art. 20 Abs. 3 GG an „Gesetz und Recht“ gebunden, vor allem an die Vorgaben des Grundgesetzes selbst. Dieses und nicht etwa eine politische Strategiebestimmung des Ministeriums ist mithin das „oberste sicherheitspolitische Grundlagendokument Deutschlands“ – auch wenn dies der Verteidigungsministerin möglicherweise nicht behagt.

Immerhin sind die Bestimmungen unserer Verfassung zur Verteidigungspolitik und zum Einsatz der deutschen Streitkräfte keineswegs vage und unklar, sondern recht dezidiert. Als „Gegenentwurf“[2] zum kurz zuvor überwundenen NS-Regime enthält das Grundgesetz  zunächst eine explizit pazifistische Grundsatzaussage: Art. 26 GG erklärt „Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, insbesondere die Führung eines Angriffskrieges vorzubereiten“, für verfassungswidrig und strafwürdig. Auch als Mitte der 1950er  die verfassungsrechtlichen Grundlagen für die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik in das Grundgesetz eingefügt wurden,[3] trug man dieser Grundsatznorm Rechnung. Die neuen Streitkräfte sollten gem. Art. 87a Abs. 1 GG nur der Verteidigung dienen. Was „Verteidigung“ bedeutet, wird im „Pfaff-Urteil“ des Bundesverwaltungsgerichts vom 21. Juni 2005 dargelegt, nämlich die Abwehr eines militärischen Angriffs, nicht hingegen die „Verfolgung, Durchsetzung und Sicherung ökonomischer oder politischer Interessen“.[4]

Durch die Notstandsgesetzgebung im Jahre 1968 erhielt Art. 87a GG seine bis heute geltende Fassung. Er hält am Verteidigungsauftrag fest, lässt den Streitkräfteeinsatz darüber hinaus aber auch im Inneren unter eng begrenzten Voraussetzungen zu: „Außer zur Verteidigung dürfen die Streitkräfte nur eingesetzt werden, soweit dieses Grundgesetz es ausdrücklich zulässt.“ Solche „ausdrücklichen Zulassungen“ finden sich nur in Gestalt der Absätze 3 und 4 dieses Artikels, ferner in Art. 35 Abs. 2 und 3 GG. Diese Regelungen beziehen sich auf Ausnahmezustände wie den Verteidigungs- oder Spannungsfall sowie Naturkatastrophen und besonders schwere Unglücksfälle, bei denen die Bundeswehr im Inneren eingesetzt werden darf.

Bei der Schaffung dieser Regelungen gingen Bundestag und Bundesrat davon aus, dass damit „alle denkbaren Bundeswehreinsätze verfassungsrechtlich abschließend geregelt“ seien, wie der am Gesetzgebungsverfahren beteiligte SPD-Rechtspolitiker Claus Arndt später feststellte.[5] Damit im Einklang betrachtete jede Bundesregierung die Möglichkeit von Kampfeinsätzen der Bundeswehr im Ausland als nicht gedeckt vom Grundgesetz.[6] Dies änderte sich erst nach der weltpolitischen Zäsur von 1989/1990: Nach dem Zusammenbruch des Warschauer Pakt-Systems und der Erlangung der vollen Souveränität der Bundesrepublik durch den Zwei-plus-vier-Vertrag von 1990 entdeckten die damalige Kohl-Regierung und führende Militärs die „neue Verantwortung Deutschlands in der Welt“ und meinten, sie durch die Entsendung von Bundeswehreinheiten an verschiedene Schauplätze „out of area“ wahrnehmen zu müssen. So beteiligten sich Marine- und Luftwaffeneinheiten der Bundeswehr 1992 bis 1996 an der Überwachung des Waffenembargos gegenüber Jugoslawien, und deutsche Soldaten gehörten zu den Besatzungen von AWACS-Flugzeugen der NATO, die 1993 bis 1995 die Einhaltung des Flugverbots über Bosnien kontrollierten.[7] Auch der Somalia-Einsatz der Bundeswehr 1993/1994 ist in diesem Zusammenhang zu nennen.

Ein weiter Schritt über Grenzen: Das „Streit­kräf­te-­Ur­teil“ des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts von 1994

Die damals in der Opposition befindliche SPD beharrte zu Recht darauf, dass für eine solche Erweiterung des Einsatzspektrums der deutschen Streitkräfte eine Verfassungsänderung notwendig sei. Im August 1992 stellte die SPD-Bundestagsfraktion beim Bundesverfassungsgericht Anträge auf Feststellung, dass die Bundesregierung durch ihre Zustimmung zu den Bundeswehreinsätzen im Mittelmeer, in den AWACS-Flugzeugen sowie in Somalia verfassungsmäßige Rechte des Parlaments verletzt habe. In den Antragsschriften zu diesen Verfahren wurde zutreffend argumentiert, dass Art. 87a Abs. 2 GG die Grundlage für jeglichen Einsatz der deutschen Streitkräfte sei.[8]

Über die Bedeutung des Art. 87a GG für Auslandseinsätze der Bundeswehr gab es bei der Beratung über die SPD-Anträge im Zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichts keine Einigkeit.[9] Schließlich fand man eine „elegante“ Lösung des Problems, indem diese Norm einfach ignoriert und stattdessen auf Art. 24 Abs. 2 GG verwiesen wurde. Danach kann sich der Bund „zur Wahrung des Friedens einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit einordnen“ und die damit verbundenen Beschränkungen seiner Hoheitsrechte hinnehmen. „Die schon im ursprünglichen Text des Grundgesetzes zugelassene Mitgliedschaft in einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit und die damit mögliche Teilnahme deutscher Streitkräfte an Einsätzen im Rahmen eines solchen Systems sollten“, so das Gericht, durch den später geschaffenen Art. 87a „nicht eingeschränkt werden“[10]. Dabei wurde geflissentlich verschwiegen, dass die Einordnung in ein solches System keineswegs mit der Bereitstellung von Militär für die UNO oder für die NATO verbunden sein muss.[11] Zum Zeitpunkt der Schaffung des Art. 24 im Jahre 1949 gab es schließlich noch keine Bundeswehr, und es ist höchst fraglich, ob der verfassungsändernde Gesetzgeber von 1968 eine Umgehung der strikten Festlegung auf die „Verteidigung“ in Art. 87a über die völkerrechtliche Ermächtigung des Art. 24 Abs. 2 zulassen wollte.

Möglicherweise als Ausdruck des Unbehagens wegen der Umgehung des Art. 87a GG kreierte das Gericht immerhin einen Parlamentsvorbehalt für Bundeswehreinsätze: „Das Grundgesetz verpflichtet die Bundesregierung, für einen Einsatz bewaffneter Streitkräfte die – grundsätzlich vorherige – konstitutive Zustimmung des Deutschen Bundestages einzuholen“[12]. Diesen – in der Verfassung nicht ausdrücklich normierten – Parlamentsvorbehalt hat das Bundesverfassungsgericht in späteren Entscheidungen bekräftigt, so in seinem Urteil zum AWACS-Einsatz im Luftraum über der Türkei vom 7. Mai 2008 sowie im Urteil vom 30. Juni 2009 zum Lissabon-Vertrag.[13] Allerdings sind Zweifel angebracht, ob das Parlament als „Friedenswächter“ gegenüber der Regierung überhaupt geeignet ist: Nur die Opposition hat ein Interesse an Kontrolle und Kritik der Regierung, während die Parlamentsmehrheit im Regelfall bestrebt sein wird, das Handeln der jeweiligen Regierung zu stützen und damit die Chancen ihrer Wiederwahl zu verbessern.[14] Die Mehrheit der Bundestagsabgeordneten, ja häufig sogar eine informelle Große Koalition hat denn auch jedem der inzwischen über 140 Anträge der Bundesregierung, bewaffnete Streitkräftekontingente im Ausland einzusetzen, ihre Zustimmung erteilt.[15]

Immerhin statuierte das Bundesverfassungsgericht in seinem Grundsatzurteil 1994 eine Beschränkung, deren besondere Brisanz sich erst an der Schwelle zum 21. Jahrhundert erweisen sollte: Es legitimierte nur Bundeswehreinsätze, die „im Rahmen und nach den Regeln“ der Systeme kollektiver Sicherheit, also konkret den Vorgaben des NATO-Vertrages sowie der UNO-Charta, stattfinden[16]. „Im Rahmen und nach den Regeln“ der völkerrechtlichen Grundlagen von UNO und NATO bewegte sich die Bombardierung Jugoslawiens durch NATO-Streitkräfte unter Beteiligung der deutschen Bundeswehr im März 1999 jedoch keineswegs. Weder lag ein Fall der Selbstverteidigung nach Art. 51 der UNO-Charta vor, noch handelten die beteiligten NATO-Staaten auf der Grundlage einer Ermächtigung durch den UNO-Sicherheitsrat – damit handelte es sich um eine Verletzung des Gewaltverbots. Darauf wiesen Völkerrechtler eindringlich hin[17], fanden dabei aber nur Unterstützung durch die Friedensbewegung und im parlamentarischen Raum durch die damalige PDS, während die anderen im Bundestag vertretenen Parteien den Militäreinsatz billigten und vor allem mit der (im Völkerrecht mit guten Gründen überwiegend abgelehnten)[18] Legitimationsformel der „humanitären Intervention“ zu rechtfertigen versuchten.

Die PDS-Bundestagsfraktion stellte daraufhin beim Bundesverfassungsgericht den Antrag auf Feststellung, dass die Beteiligung der Bundeswehr gegen die Bestimmungen des Grundgesetzes verstoße und der Bundestag dadurch in seinen Rechten und Pflichten verletzt sei. Mit Beschluss vom 25. März 1999 verwarf das Bundesverfassungsgericht den Antrag als unzulässig.[19] Es verwies darauf, dass der Bundestag in seiner Sitzung am 16. Oktober 1998 die Zustimmung zur Beteiligung der Bundeswehr an dem Kriegseinsatz gegen Jugoslawien ja schon vorab erteilt hatte, verfassungsmäßige Rechte des Bundestages in diesem Fall also nicht verletzt worden seien.

Schon wenige Monate später, im Herbst 1999, unternahm die PDS-Bundestagsfraktion einen neuen Anlauf beim Bundesverfassungsgericht. Beantragt wurde diesmal die Feststellung, dass die Bundesregierung mit ihrer Zustimmung zum neuen Strategischen Konzept der NATO (in dessen Konsequenz schließlich auch der Angriff auf Jugoslawien lag) das Zustimmungsrecht des Bundestages gemäß Art. 59 Abs. 2 Grundgesetz verletzt habe.

Am 22. November 2001 – sicher nicht unbeeinflusst von der politischen Stimmungslage nach den Terroranschlägen am 11. September – wies dann der Zweite Senat des Gerichts den Antrag als unbegründet zurück.[20] Die Bundesregierung habe mit ihrer Zustimmung zum neuen Strategischen Konzept der NATO nicht das Mitwirkungsrecht des Bundestages aus Art. 59 Abs. 2 GG verletzt. Die bloße „Fortentwicklung“ des NATO-Systems, die keine Vertragsänderung darstelle, bedürfe keiner gesonderten Zustimmung des Bundestages. Aus dem Inhalt des 1999 beschlossenen neuen strategischen Konzepts der NATO, so hieß es weiter, gehe nicht hervor, dass das nordatlantische Bündnis seine Bindung an die Ziele der Vereinten Nationen und die Beachtung ihrer Satzung aufgeben wolle[21].

Immerhin wird die reichlich wohlwollende Interpretation des NATO-Beschlusses durch das Gericht ergänzt durch eine deutliche Ermahnung an die Grenzen, die das Grundgesetz der Beteiligung Deutschlands an internationalen Bündnissystemen setzt: „Schon die tatbestandliche Formulierung des Art. 24 Abs. 2 GG schließt aber auch aus, dass die Bundesrepublik Deutschland sich in ein gegenseitiges kollektives System militärischer Sicherheit einordnet, welches nicht der Wahrung des Friedens dient. Auch die Umwandlung eines ursprünglich den Anforderungen des Art. 24 Abs. 2 GG entsprechenden Systems in eines, das nicht mehr der Wahrung des Friedens dient oder sogar Angriffskriege vorbereitet, ist verfassungsrechtlich untersagt und kann deshalb nicht vom Inhalt des auf der Grundlage des nach Art. 59 Abs. 2 Satz 1, Art. 24 Abs. 2 GG ergangenen Zustimmungsgesetzes zum NATO-Vertrag gedeckt sein.“[22]

Aber wo genau endet die „Wahrung des Friedens“ und beginnt eine Militärpolitik von NATO-Mitgliedern, deren Ziel stattdessen in der Durchsetzung von politischen und ökonomischen Interessen rund um den Erdball besteht? Schließlich soll der Auftrag der Bundeswehr nach dem „Weißbuch“ von 2016 nicht nur in der Verteidigung der territorialen Integrität Deutschlands, sondern darüber hinaus auch darin bestehen, „die außen- und sicherheitspolitische Handlungsfähigkeit Deutschlands abzustützen und zu sichern“, ferner „gemeinsam mit Partnern und Verbündeten zur Abwehr sicherheitspolitischer Bedrohungen für unsere offene Gesellschaft und unsere freien und sicheren Welthandels- und Versorgungswege beizutragen“[23]. Auf das Grundgesetz ließe sich eine Rückkehr zur Kanonenbootpolitik europäischer Seemächte im 19. Jahrhundert, durch die – wie bei den beiden „Opiumkriegen“ gegen China – damals „unterentwickelte“ Länder mit Waffengewalt zur Öffnung ihrer Märkte für den „freien Handel“ gezwungen wurden, allerdings nicht stützen.

Afghanistan, Syrien – wie weiter?

Die Frage nach der verfassungs- und völkerrechtlichen Beurteilung stellt sich aktuell auch im Hinblick auf die anhaltenden Bundeswehreinsätze in Afghanistan sowie in Syrien.[24] Das militärische Engagement Deutschlands in Afghanistan war Gegenstand eines Verfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht, in dem es um die Beteiligung deutscher Soldaten an der Luftaufklärung durch Tornado-Flugzeuge im Rahmen des durch den UN-Sicherheitsrat legitimierten ISAF-Einsatzes ging. Die Bundestagsfraktion der PDS/Die Linke monierte, dass dieser Einsatz zwangsläufig zu einer Verstrickung mit der in ihren Augen völkerrechtswidrigen „Operation Enduring Freedom“ führe. In seinem „Tornado-Urteil“ vom 3. Juli 2007 wies das Bundesverfassungsgericht diesen Vorwurf zurück.[25] Bedenklich sind die Ausführungen des Gerichts u. a. zur Beurteilung eines völkerrechtswidrigen Verhaltens der NATO: Die Verletzung des Völkerrechts durch einzelne militärische Einsätze der NATO, so das Gericht, könne zwar ein Indikator dafür sein, dass sich die NATO von ihrer friedenswahrenden Ausrichtung strukturell entferne. Die Kontrolle durch das Bundesverfassungsgericht im Organstreitverfahren eröffne allerdings keine allgemeine Prüfung der Völkerrechtskonformität von militärischen Einsätzen der NATO.[26] Angesichts dieses Verzichts auf eine verfassungsrichterliche Kontrolle der Einsatzpraxis erstaunt das Ergebnis im Hinblick auf die NATO umso mehr: An „Anhaltspunkten für eine strukturelle Entfernung der NATO von ihrer friedenswahrenden Ausrichtung fehlt es. Die angegriffenen Maßnahmen lassen keinen Wandel der NATO hin zu einem Bündnis erkennen, das dem Frieden nicht mehr dient und an dem sich die Bundesrepublik Deutschland von Verfassungs wegen daher nicht mehr beteiligen dürfte.“[27]

Man würde den Mitgliedern des Gerichts sicher Unrecht tun, wenn man eine solche Einschätzung der NATO-Militäreinsätze als Ausdruck professionsbedingter Naivität wertet. Das Ergebnis dürfte eher dem Bestreben des Gerichts geschuldet sein, bei Entscheidungen von so grundsätzlicher Bedeutung wie dem Engagement in der NATO der Regierung nicht in den Arm zu fallen. Immerhin wird niemand Richter oder Richterin am Bundesverfassungsgericht, der oder die nicht das Vertrauen der beiden großen Bundestagsparteien genießt – dafür sorgt der Wahlmodus.[28] Insgesamt ist jedenfalls die Einschätzung zutreffend, dass die Entscheidungen des höchsten deutschen Gerichts „stets um die reale gesellschaftliche und politische Macht oszillieren.“[29]

Mit Recht zieht der  Politikwissenschaftler Robert Chr. van Ooyen denn auch ein ernüchterndes Fazit der bisherigen Rechtsprechung des BVerfG zu Auslandseinsätzen der Bundeswehr: Das Gericht gäbe der Regierung „so weit wie möglich ‚Carte blanche’, indem es die Verfassung durch dynamische Grenzverschiebungen Stück für Stück flexibilisiert hat: vom verfassungspolitischen Grundkonsens einer Ablehnung zur Grundentscheidung der Zulässigkeit der ‚Out-of-Area-Einsätze’, von der engen, klassischen ‚kollektiven Sicherheit’ (UN) zum weiten Begriff unter Einschluss insbesondere der NATO, vom bloßen Auftrag kollektiver Selbstverteidigung der NATO zum erweiterten Sicherheitsbegriff des neuen Strategiekonzepts, schließlich, als aktuell letzter Schritt in der Tornado-Entscheidung, vom räumlich begrenzten euro-atlantischen Bezug der Sicherheit zur globalisierten Sicherheit. Damit sind Auslandseinsätze der Bundeswehr in räumlicher und inhaltlicher Hinsicht („Frieden“) mit einfacher Parlamentszustimmung nahezu unbegrenzt möglich.“[30] Die – angesichts bitterer Erfahrungen mit dem deutschen Militarismus recht eindeutigen – Grenzziehungen unserer Verfassung für den Streitkräfteeinsatz, so wäre hinzuzufügen, haben sich durch diese Rechtsprechung nahezu völlig verflüssigt.

Aber auch die wenigen Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts wie die Notwendigkeit der Einbindung in das Regelwerk eines „Systems gegenseitiger kollektiver Sicherheit“ erscheinen den Verantwortlichen im Verteidigungsministerium offenbar noch als lästige Fessel: „Gerade in Fällen“, so das Weißbuch 2016, „in denen die völkerrechtlichen Voraussetzungen für ein militärisches Vorgehen ohnehin vorliegen (etwa in Form einer Unterstützungsbitte der jeweiligen Gastregierung) und die daher auch keiner weiteren völkerrechtlichen Ermächtigung bedürfen, wird die Einbindung in ein System gegenseitiger kollektiver Sicherheit zunehmend schwierig. Angesichts der gestiegenen sicherheitspolitischen Verantwortung Deutschlands müssen wir in der Lage sein, auch diesen Herausforderungen gegebenenfalls im Wege des Einsatzes bewaffneter deutscher Streitkräfte kurzfristig Rechnung zu tragen.“[31] Im Klartext: Das deutsche Militär soll künftig auch losschlagen können, wenn die vom Bundesverfassungsgericht statuierten Voraussetzungen hierfür nicht erfüllt sind. Denkbar wäre nach dem zitierten Text z. B. ein Einsatz deutschen Militärs gegen oppositionelle Kurden, wenn die türkische „Gastregierung“ darum bittet. Die Ausübung kriegerischer Gewalt, unter der häufig vor allem die Zivilbevölkerung des betroffenen Landes leidet, als „Normalität“, gar als Ausdruck der Wahrnehmung „gewachsener außenpolitischer Verantwortung Deutschlands“ darzustellen, erscheint vor dem Hintergrund der Geschichte des deutschen Militarismus und der dezidiert pazifistischen Grundaussagen unserer Verfassung geradezu als zynisch.

Künftig auch im Inneren

Die nächste Bewährungsprobe für die Geltung des Grundgesetzes zeichnet sich bereits ab. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts dürfen bewaffnete Streitkräfte im Inneren nur unter ganz engen Voraussetzungen eingesetzt werden: Der eingangs bereits genannte „Amtshilfeartikel“ 35 GG erlaubt solche Einsätze zwar auch „zur Hilfe bei einer Naturkatastrophe oder bei einem besonders schweren Unglücksfall“. Der Plenarbeschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 3. Juli 2012 verlangt indessen eine enge Auslegung des Begriffs des „besonders schweren Unglücksfalls“. Dieser erfasse nur „Ereignisse von katastrophischen Dimensionen“, aber nicht schon jede Gefahrensituation, die ein Bundesland mittels seiner eigenen Polizei nicht zu beherrschen imstande ist.[32]

Im „Weißbuch“ wird hingegen die Auffassung vertreten, ein solcher „besonders schwerer Unglücksfall, bei dem die Bundeswehr eingesetzt werden dürfe, komme auch bei „terroristischen Großlagen“ in Betracht.[33] Es sei wichtig, insoweit die „gute Zusammenarbeit“ der Sicherheitsbehörden des Bundes und der Länder „im Rahmen von Übungen vorzubereiten“. Die ersten Übungen fanden im März 2017 statt. Die Verwirklichung des alten Traums von Politikern der CDU/CSU, die Bundeswehr über die unbewaffnete Katastrophenhilfe bei Hochwasser u. ä. hinaus im Inneren Deutschlands einzusetzen, rückt damit Schritt für Schritt näher. Gezielt übergangen wird dabei die bewusste Entscheidung unserer Verfassung, den Streitkräfteeinsatz im Inneren auf äußerste Ausnahmefälle zu begrenzen.[34] So wird denn der schleichende Verfassungsstreich auch in diesem Fall hoffähig gemacht. Dies sollte gleichwohl kein Anlass zu Resignation sein, sondern Ansporn, mit der Aufklärung „im Lichte des Verfassungsrechts“ nicht nachzulassen.

PROF. DR. MARTIN KUTSCHA   lehrte Staats- und Verwaltungsrecht, zuletzt an der Berliner Hochschule für Wirtschaft und Recht, und ist jetzt Mitglied im Bundesvorstand der Humanistischen Union sowie der deutschen Sektion der IALANA.

Anmerkungen:

1 Bundesministerium der Verteidigung (Hrsg.), Weißbuch 2016 zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr, 2016, S. 15.

2 So der „Wunsiedel-Beschluss“ des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) v. 4. 11. 2009, BVerfGE 124, 300 (328).

3 Einzelheiten hierzu bei Kutscha, „Verteidigung“ – Vom Wandel eines Verfassungsbegriffs, Kritische Justiz 2004, 228 (229 ff.); zum politischen Hintergrund Bald, Die Bundeswehr, 2005, S. 37 ff.

4 Bundesverwaltungsgericht, Neue Juristische Wochenschrift (NJW) 2006, 77 (81).

5 Arndt, Bundeswehreinsatz für die UNO, Die Öffentliche Verwaltung 1992, 618 (619).

6 Vgl. die Nachweise bei Deiseroth, Die Beteiligung Deutschlands am kollektiven Sicherheitssystem der Vereinten Nationen aus verfassungsrechtlicher Sicht, Neue Justiz 1993, 145 (151 Fn. 33)

7 Ausführlich hierzu Rosa-Luxemburg-Stiftung/Fraktion Die Linke im Bundestag (Hrsg.), Schwarzbuch. Kritisches Handbuch zur Aufrüstung und Einsatzorientierung der Bundeswehr, 2016, S. 8 ff.

8 Vgl. die Antragsschriften der Prozessbevollmächtigten Bothe und Becker, dokumentiert in: Dau/Wöhrmann (Hrsg.), Der Auslandseinsatz deutscher Streitkräfte, 1996, S. 377 (388) u. S. 405 (414 ff.).

9 Vgl. Epping, Wehrverfassung, in: Pieroth (Hrsg.), Verfassungsrecht und soziale Wirklichkeit in Wechselwirkung, 2000, S. 183 (199).

10 BVerfGE 90, 286 (357); hierzu Van Ooyen, Vom Parlamentsheer zum unilateral einsetzbaren Regierungsheer? in: Recht und Politik 2016, 202ff.

11 Vgl. z. B. Sauer, Das Verfassungsrecht der kollektiven Sicherheit, in: Rensen/Brink (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, 2009, S. 585 (589 Fn. 19).

12 BVerfGE 90, 286 (Leitsatz 3 a).

13 BVerfGE 121, 135 u. BVerfGE 123, 267; hierzu van Ooyen, Parlamentsheer (Fn. 10), 205

14 Dazu im Einzelnen Kutscha, Das Parlament als Friedenswächter? In: Becker/Braun/Deiseroth (Hrsg.), Frieden durch Recht? 2010, S. 137.

15 Vgl. „Berliner Zeitung“ v. 15. 6. 2015.

16 BVerfGE 90, 286 (Leitsatz 1) und S. 345.

17 Vgl. z. B. Paech/ Stuby, Völkerrecht und Machtpolitik in den internationalen Beziehungen, 2001, S. 557 f.; vgl. auch die unterschiedlichen Positionen in: Lutz (Hrsg.), Der Kosovo-Krieg, 2000.

18 Vgl. z. B. Deiseroth, „Humanitäre Intervention“ und Völkerrecht, NJW 1999, 3084 ff.; s. dazu auch den Beitrag von Neu in diesem Heft.

19 BVerfGE 100, 266.

20 BVerfGE 104, 151; hierzu van Ooyen, Parlamentsheer (Fn. 10), 203f.

21 BVerfGE 104, 151 (211); hierzu van Ooyen, Parlamentsheer (Fn. 10), 204.

22 BVerfGE 104, 151 (213).

23 Weißbuch (Anm. 1), S. 90.

24 Vgl. dazu den Beitrag von Hahnfeld in diesem Heft.

25 BVerfGE 118, 244; anders z. B. Deiseroth, Jenseits des Rechts. Deutschlands „Kampfeinsatz“ am Hindukusch, Blätter f. dt. u. intern. Politik 12/2009, 45; van Ooyen, Parlamentsheer (Fn. 10), 204f.

26 BVerfGE 118, 244 (271).

27 BVerfGE 118, 244 (272).

28 Nach den §§ 6 u. 7 Bundesverfassungsgerichtsgesetz werden die Verfassungsrichter und -richterinnen mit Zweidrittelmehrheit von einem Wahlausschuss des Bundestages sowie vom Bundesrat gewählt.

29 So Preuß, Politik aus dem Geiste des Konsenses. Zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, Merkur 1/1987, 1 (12).

30 Van Ooyen, Das Bundesverfassungsgericht als außenpolitischer Akteur: von der „Out-of-Area-Entscheidung“ zum „Tornado-Einsatz“, Recht und Politik 2/2008, 75 (83); ders. Parlamentsheer (Fn. 10), 208.

31 Weißbuch (Anm. 1), S. 109.

32 BVerfG, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht (NVwZ) 2012, 1239 Rn. 43.

33 Weißbuch (Anm. 1), S. 110.

34 Vgl. BVerfG, NVwZ 2012, 1239 Rn. 26; ausführlich zu den historischen Hintergründen das Sondervotum des Richters Gaier a. a. O., Rn. 62 ff.; vgl. auch die kontroversen Positionen von Ullrich und Roggan, Bundeswehreinsatz im Inneren? Zeitschrift für Rechtspolitik 2016, 126.

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