Themen / Bioethik

Corona-Tri­age: Das Verbot hoheit­li­cher Maximierung geretteter Lebensjahre (statt geretteter Menschen­leben) als Menschen­wür­de­kern der Schutz­pflicht für das Leben [1]

14. Oktober 2020

in: vorgänge Nr. 230 (2/2020), S. 117-124

Mathias Hong

Die Corona-Epidemie hat gezeigt, wie schnell unser Gesundheitssystem an seine Leistungsgrenzen geraten könnte. Angesichts der drohenden Überlastung von Behandlungskapazitäten stellen sich schwierige bioethische Fragen, etwa nach der „Triage“ von COVID-19-Patienten, also ihrer Auswahl („Sortierung“) bei zu knappen Behandlungskapazitäten. Mathias Hong diskutiert die Frage, ob und ggf. wie der Staat in diese Entscheidungen eingreifen darf.

Hat die grundrechtliche Schutzpflicht des Staates für das menschliche Leben einen Menschenwürdekern? Die „Triage“ von COVID-19-Patienten wirft diese Frage auf. Sie ist zu bejahen: Es würde die staatliche Schutzpflicht für die Menschenwürde verletzen, wenn der Staat etwa anordnen würde, statt möglichst vieler nur möglichst junge Menschen zu retten.

Maximierung der geretteten Lebensjahre als ärztliches Triage-­Kri­te­rium in Italien und in anderen Staaten

Den Grundsatz, bei einer solchen Triage auch auf die Zahl der geretteten Lebensjahre abzustellen, hat etwa eine italienische Ärztegesellschaft ihren Empfehlungen vom 6. März 2020 zugrunde gelegt.[2] Ein Arzt einer Klinik in Bergamo in Norditalien beschrieb die konkrete Anwendung im Interview mit dem Nachrichten-Podcast der New York Times („The Daily“ vom 17. März 2020) so: Wenn ein Patient 85 Jahre alt sei, gebe er das Bett einem anderen, der 45 Jahre alt sei.[3] Es sei schwierig, den Patienten zu sagen, dass sie keine Aussicht auf ein Bett für die Intensivbehandlung hätten, wenn sie 80 Jahre alt seien. Aus dem Elsaß wurde Ende März 2020 berichtet, Corona-Patienten über einem bestimmten Alter (75 oder 80 Jahren) würden in den Kliniken dort nicht mehr beatmet.[4] Im Juli 2020 gab es ferner Berichte über die Notwendigkeit von Triage-Entscheidungen auch in Texas.[5]

Verletzung des Menschen­wür­de­kerns der Schutz­pflicht für das Leben bei hoheit­li­cher Anordnung oder Zugrun­de­le­gung einer solchen Auswahl­ma­xime

„nonaggregativ“

„nicht maximiert, sondern auf gerechte Weise spezifiziert werden“

„von dem wir ausgehen wollen, die absolute Schranke, die gegenüber der Staatsraison aufgerichtet ist“

„Die von niemand bestrittene notwendige Staatsraison muß an einer bestimmten Barriere halt machen. Der Staat muß gelegentlich opportunistisch handeln, aber irgendwo muß er auf seinen Vorteil verzichten können, wenn er sieht, daß er sonst bestimmte Rechte des Menschen mit Füßen treten müßte“.

„Der Staat muß bestimmte Rechte des Menschen anerkennen, einerlei, ob ihre Außerachtlassung für einen augenblicklichen staatlichen Zweck nützlich wäre oder nicht. Von diesem Staatsräson-Utilitarismus wollen wir loskommen“

„Staatsräson-Utilitarismus“

Das Verbot der Abwägung von Leben gegen Leben bei aktiver hoheit­li­cher Tötung nach dem Luftsi­cher­heits­ge­setz-­Ur­teil – und die Unter­schei­dung von Achtungs- und Schutz­pflicht

„Abwägung von Leben gegen Leben“

„vergleichbaren Fallkonstellationen“

World Trade Center

„nicht deswegen töten, weil es weniger sind, als er durch ihren Totschlag zu retten hofft“

Abwehrrecht

Schutzpflichten

Der Mindest­stan­dard gleicher Freiheit für hoheitliche Triage-Ent­schei­dungen – und offene Fragen (insbe­son­dere der straf­recht­li­chen Würdigung)

„Entscheidungen über die Zuteilung intensivmedizinischer Ressourcen“

„Menschenleben nicht gegen Menschenleben abgewogen werden“

„Solidarität und Verantwortung in der Corona-Krise“

„basalen Diskriminierungsschutz aller“

„Differenzierungen etwa aufgrund des Geschlechts oder der ethnischen Herkunft“

„eine Klassifizierung anhand des Alters, der sozialen Rolle und ihrer angenommenen ‘Wertigkeit’ oder einer prognostizierten Lebensdauer“

Die Grenzen verfas­sungs­ju­ris­ti­schen Wissens – und die Begrenzung der These zum Menschen­wür­de­kern auf hoheitliche Maßnahmen oder Vorgaben

U.S. Supreme Court

DR. MATHIAS HONG

   ist seit 2020 Prof. für Öffentliches Recht an der Hochschule für öffentliche Verwaltung Kehl. Wichtigste Veröffentlichungen: Der Menschenwürdegehalt der Grundrechte (2019); Abwägungsfeste Rechte (2019); Todesstrafenverbot und Folterverbot (2019).

Literatur

Anmerkungen

  1. Der Beitrag beruht auf: Hong 2020 (englisch: Hong 2020a).
  2. S. http://www.siaarti.it/SiteAssets/News/COVID19%20-%20documenti%20SIAARTI/SIAARTI%20-% 20Covid19%20-%20Raccomandazioni%20di%20etica%20clinica.pdf.
  3. S. https://www.nytimes.com/2020/03/17/podcasts/the-daily/italy-coronavirus.html?showTrans cript=1.
  4. S. https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/im-elsass-werden-alte-corona-patienten-nicht-me hr-beatmet-16698139.html?GEPC=s3; https://www.zdf.de/nachrichten/panorama/coronapatienten-elsass-80-jahre-ohne-beatmung-100.html.
  5. S. https://www.theguardian.com/world/2020/jul/26/covid-19-death-panels-starr-county-hospital -texas (23. Juli 2020).
  6. Merkel/Augsberg (2020: 709 f.) weisen zu Recht den Versuch einer Rechtfertigung des Alterskriteriums nach dem Rawlsschen „Schleier des Nichtwissens“ zurück. Vgl. auch Brech 2008:275-283.
  7. Vgl. Lübbe 2020b:437; Brech 2008:48 ff., 52 ff., 208 ff.
  8. Aus ethischer Sicht stärker in Richtung von Aggregationsmöglichkeiten argumentierend etwa: Schöne-Seifert 2020.
  9. Vgl. BVerfGE 115, 118 (139 ff., 157), unter Verweis auf OGHSt 1, 321 (331 ff., 335 ff.); 2, 117 (120 ff.).
  10. Vgl. dazu die Verfassungsbeschwerdeschrift zu einer von der Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) unterstützten (noch anhängigen) Verfassungsbeschwerde von 2018: https://freiheitsrechte.org/home/wp-content/uploads/2018/10/GFF_Verfassungsbeschwerde_BayPAG_anonym.pdf.
  11. Eine Heranziehung des Alters als Kriterium eines Stichentscheid (nicht für hoheitliches Handeln, sondern aus Sicht der ärztlichen Ethik) befürwortend („only as tiebreakers“) etwa: Solomon/Wynia/Gostin 2020.
  12. Vgl. erste Fassung vom 25. März 2020, https://www.divi.de/joomlatools-files/docman-files/publikationen/covid-19-dokumente/COVID-19_Ethik_Empfehlung.pdf, S. 3; zweite Fassung vom 17. April 2020, https://www.divi.de/joomlatools-files/docman-files/publikationen/covid-19-dokumen te/200416-divi-covid-19-ethik-empfehlung-version-2.pdf, S. 4 f.
  13. Vgl. https://www.ethikrat.org/fileadmin/Publikationen/Ad-hoc-Empfehlungen/deutsch/ad-hoc-empfehlung-corona-krise.pdf, S. 3.
  14. Vgl. auch BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 16. Juli 2020, 1 BvR 1541/20 (Ablehnung einstweiliger Anordnung aufgrund Interessenabwägung), Rn. 6 (Verfassungsbeschwerde „wirft die Frage auf, ob und wann gesetzgeberisches Handeln in Erfüllung einer Schutzpflicht des Staates gegenüber behinderten Menschen verfassungsrechtlich geboten ist“), sowie dazu: Brade/Müller 2020.

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