Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 224: Der Osten als Vorreiter? Rechtspopulismus im Gefolge wirtschaftlicher und politischer Umbrüche

Der Verfas­sungs­schutz – (nur) ein Sicher­heits­ri­siko?

In: vorgänge Nr. 224 (4/2018), S. 105-107

Hajo Funke, Sicherheitsrisiko Verfassungsschutz. Staatsaffäre NSU: Das V-Mann-Desaster und was daraus gelernt werden muss, VSA Verlag Hamburg 2018, 238 S., ISBN 978-389965-774-6, 16,80 Euro.

Absolut unverzichtbar“ seien die V-Leute für die Ämter, beteuerte eine Vertreterin des Bundesamtes für Verfassungsschutz auf der wissenschaftlichen Konferenz zum „Nachrichtendienstrecht“ am 15. März 2018 in Berlin. Dass die dort so trotzig verteidigte V-Leute-Praxis nicht zum Schutz der demokratischen Verfassungsordnung taugt, sondern genau das Gegenteil bewirkt, wird im hier vorgestellten Buch des renommierten Berliner Sozialwissenschaftlers Hajo Funke anhand zahlreicher Beispiele minutiös nachgewiesen. So stand die neonazistische Terrorzelle „NSU“ in mehr oder weniger engem Kontakt mit zahlreichen V-Leuten; gleichwohl konnte sie ihr mörderisches Treiben über viele Jahre hinweg unbehelligt von den Strafverfolgungsbehörden fortführen. „Der Verfassungsschutz war den rechten Mördern durch V-Männer zum Greifen nah, ohne das Nötige getan zu haben.“ (S. 14)

Nach dem Tod von Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos im November 2011 behaupteten die Verfassungsschutzämter, nichts über die Existenz der Terrorzelle gewusst zu haben – dabei hatte zumindest der Thüringer Verfassungsschutz die Suche der Polizei nach dem abgetauchten Terror-Trio gezielt behindert. Aber auch in westdeutschen Bundesländern blockierten der Verfassungsschutz und sogar die Landesregierung eine konsequente Aufklärung, so im Fall des Verfassungsschutzbediensteten Andreas Temme, der sich zur Zeit des Mordes an Halit Yozgat in dessen Internetcafé in Kassel aufhielt (S. 68ff.). Als Hauptargument wird dabei stets die Notwendigkeit absoluten „Quellenschutzes“ angeführt, ohne den der V-Leute-Einsatz als angeblich unverzichtbares Mittel der Aufklärung nicht möglich sei. Zu Recht verweist Funke auf die Fragwürdigkeit dieses Instruments: „V-Leute haben oft mehrere Loyalitäten, sie belügen und betrügen nicht nur die eigenen Leute, sondern oft auch die Behörden. Unter dem Deckmantel der Geheimdienste können sie ungestört agieren, sie schützen dann nicht die Verfassung, sondern bekämpfen sie; sie profitieren vom Staat und schwächen ihn zugleich.“ (S. 33). In der Tat werden die finanziellen Zuwendungen, welche die V-Leute von den Ämtern, also aus Steuermitteln erhalten, häufig zum Aufbau und zur Förderung der neonazistischen Organisationsstrukturen eingesetzt. Der Verfassungsschutz ist somit nicht nur ein „Sicherheitsrisiko“, wie es im Buchtitel heißt, sondern trägt zur Schwächung der demokratischen Ordnung bei.

Wie Funke darlegt, ermöglichte der absolut verstandene „Quellenschutz“ nicht nur im Fall des „NSU“ eine Serie von – in diesem Fall rassistisch motivierten – Morden: Dass der den Sicherheitsbehörden durch zahlreiche Straftaten aufgefallene Weihnachtsmarktattentäter Anis Amri nicht rechtzeitig aus dem Verkehr gezogen wurde, könnte darin seine Erklärung finden, dass Amri den Ämtern als (wohl unfreiwilliger) „Nachrichtenmittler“ dienen sollte (S. 203).

Aufschlussreich ist die Aussage des für die Aktenvernichtung im Bundesamt („Aktion Konfetti“) verantwortlichen Referatsleiters mit dem Decknamen „Lothar Lingen“ bei einer Vernehmung durch das BKA im Oktober 2014: Er habe geahnt, dass die Öffentlichkeit sich sehr für die Quellenlage des Bundesamtes in Thüringen (also das dichte V-Leute-Netz um die Terrorgruppe) interessieren würde, vernichtete Akten könnten aber nicht mehr überprüft werden. Von einzelnen unerklärlichen „Pannen“ der Behörden kann also keine Rede sein, vielmehr steckt eine gezielte Vertuschungsabsicht dahinter: „Einmal aus dem Ruder gelaufen, mit Absicht oder nicht, liegt es … im Interesse des Selbsterhalts solcher Institutionen und der besonders beteiligten Personen, möglichst nicht – wegen Strafvereitelung im Amt oder gar wegen Beihilfe zu schweren Verbrechen und Mord – belangt zu werden.“ (S. 134) Aber es geht nicht nur um die Vermeidung individueller Strafverfolgung, sondern auch um die Aufrechterhaltung der Legitimation für die Praxis der Ämter, wie Funke weiter schreibt: „Die Zuständigen, vor allem im Bundesamt, gewissermaßen eine staatliche Seilschaft, waren durch die Strategie der Infiltration so in Wissen und (indirekter) Beteiligung an den Morden verstrickt, dass jede weitere Information sie näher an den Offenbarungseid bringen würde. Sie sind unter allen Umständen auf ihr Schweigekartell angewiesen. So ist es die Sorge um die Existenz einer (längst brüchig gewordenen) Säule in der Sicherheitsarchitektur, die die Zuständigen in den Verfassungsschutzorganen antreibt, die Blockade hinzunehmen oder mitzutragen.“ (S. 145/146).

Angesichts dieser Situation fordert der Autor nicht nur mehr demokratische Kontrolle der Ämter. Mit Recht geht er noch einen Schritt weiter: Ziel müsste die Auflösung des Inlandsgeheimdienstes in seiner bisherigen Form sein. Das Frühwarnsystem sei ohnehin viel besser bei entsprechend ausgestatteten wissenschaftlichen Institutionen aufgehoben (S. 214).

Mit der Forderung nach Auflösung des Verfassungsschutzes steht Funke nicht allein, sie wird auch von der Humanistischen Union und anderen Bürgerrechtsorganisationen erhoben. Die politische Entwicklung geht indessen in die andere Richtung: Die Befugnisse sowohl des BND als auch der Verfassungsschutzämter wurden in den letzten Jahren nicht etwa beschnitten, sondern Schritt für Schritt erweitert. Was aber veranlasst die Regierungsmehrheiten in Bund und Ländern, trotz der skandalösen Aktivitäten der Geheimdienste diese finanziell und personell zu stärken und ihr Überwachungsarsenal noch weiter auszubauen? Diese Frage wird in dem Buch von Hajo Funke leider kaum angesprochen, bedarf aber der Suche nach Antworten. Den Regierungsparteien kann jedenfalls kaum unterstellt werden, Sympathien für die neonazistischen Netzwerke zu hegen. Eher schon dürfte der Wunsch eine Rolle spielen, die Auseinandersetzung mit neonazistischem Gedankengut und seinen personellen Trägern an eine besondere staatliche Institution mit angeblich „bewährten“ Profis delegieren zu können. Unter dem unscharfen Begriff des „Extremismus“ werden dabei ganz unterschiedliche politische Gruppierungen nicht ohne Absicht in einen Topf geworfen: „Islamismus, Ausländerextremismus und -terrorismus, Rechtsextremismus und Linksextremismus“, während die politische „Mitte“ als Hort der Demokratie erscheint.

Funke richtet den Blick auch in die Vergangenheit des Verfassungsschutzes und verdeutlicht, dass der NSU-Skandal keineswegs alleine steht, sondern sich einreiht in eine lange Kette von Affären, die nur zum Teil aufgeklärt werden konnten (wie z.B. der Mord an Ulrich Schmücker oder das „Celler Loch“). Unter dem Stichwort „autoritäre Erbschaft“ beleuchtet der Autor auch die Rekrutierung der ersten Generation der „Verfassungsschützer“ aus einer Riege alter Nazis, die sich ihre zweifelhaften Meriten schon bei der „Feindbekämpfung“ im sog. Dritten Reich erworben hatten. Mit diesen Männern als Grundausstattung wurde das Bundesamt unter Kanzler Adenauer als „kämpfende Geheim-Verwaltung der Regierung“ etabliert. Die Stoßrichtung war eindeutig: Ihr politischer Auftrag war „nicht nur die entschiedene Bekämpfung des Kommunismus, sondern auch der Sozialdemokratie“ (S. 167). Dieses Feindbild hat seine Prägekraft – auch nach dem Abtreten der alten Garde – bis in die Gegenwart bewahren können. Dies zeigt die jahrzehntelange Überwachung von Personen wie Rolf Gössner oder Bodo Ramelow, die zwar politisch links stehen, denen aber keinerlei Bestrebungen gegen die demokratische Verfassungsordnung unterstellt werden können, wie inzwischen mehrere Gerichte festgestellt haben. Es passt denn auch durchaus ins Bild, dass der – inzwischen ins Bundesinnenministerium versetzte – langjährige Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen der AfD durchaus „wohlgesonnen“ ist, wie Frauke Petry laut der AfD-Aussteigerin Franziska Schreiber dankbar bekundete. Welchen Umfang die „Politikberatung“ durch den obersten Verfassungsschützer für die rechte Partei hatte, darüber kann mangels genauer Auskunft nur spekuliert werden.

Als Instrument zur Ausforschung und Diskreditierung politisch unbequemer, d. h. insbesondere linker Opposition dürfte der Verfassungsschutz jedenfalls auch heute noch etlichen Regierungspolitiker_innen als das rechte Mittel erscheinen.

Auch wenn das Buch von Funke nicht alle Fragen beantwortet, ist es dennoch ein wichtiger Beitrag zur – immer wieder verdrängten – Debatte um die Rolle der „Ämter“ in einer demokratisch verfassten Gesellschaft.

Martin Kutscha ist Professor i. R. für Staats- und Verwaltungsrecht an der HWR Berlin sowie Mitglied des Bundesvorstands der Humanistischen Union.

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