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Diener zweier Herren. DDR-Ju­risten zwischen Recht und Macht*

in: vorgänge Nr. 230 (2/2020), S. 53-59

Die Debatte um den DDR-Unrechtsstaat bezieht sich in der Regel auf die Staats- und Rechtsordnung, das geltende Recht, seine Widersprüchen und Abweichungen in der Rechtsprechung. Eine ganz andere Perspektive nimmt dagegen die Rechtswissenschaftlerin und Rechtshistorikern Inga Markovits ein, die das Verhalten der juristischen Akteure im Alltag der DDR in den Blick nimmt. Ihre Beschreibungen erhellen die Mikrobeziehungen zwischen Recht und Macht und ergeben ein differenzierteres Bild von der Bedeutung des Rechts in der DDR, das sie in ihrem jüngsten Buch wie folgt zusammenfasst: „Die DDR wurde nie zum »Rechtsstaat« im technischen Sinn des Wortes, aber sie war auch kein »Unrechtsstaat«, sondern bewegte sich im Laufe der Jahrzehnte vom »Nicht-Rechtsstaat« allmählich auf den Rechtsstaat zu.“

Die Frage nach der Rolle von Recht und Juristen bei dem Verfall einer Demokratie scheint besonders angemessen in einem Land, das in knapp 90 Jahren den Aufstieg und Untergang von zwei (sehr verschiedenen) Diktaturen erlebte. Wie verhielten sich deutsche Juristen gegenüber der einen und der anderen machtbesessenen Partei? Kooperierten sie oder versuchten sie, Unrecht zu begrenzen? Es ist einfacher für historische Sieger, dieser Frage nachzugehen, als für Besiegte. 1947 wurde sie, zum ersten Mal mit besonderem Blick auf die beteiligten Juristen, von einem amerikanischen Militärrichter in einem Nachfolgeverfahren zum Nürnberger Prozess gestellt, in dem 16 hohe Ministerialbeamte und Richter des Dritten Reichs wegen »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« angeklagt wurden, die sie durch Terrorurteile in den von Deutschland im Krieg besetzten Gebieten begangen hatten. Es gab vier Freisprüche und 14, zum Teil lebenslange, Freiheitsstrafen.

Aber schon bald nach der Gründung der Bundesrepublik 1949 wurden alle Verurteilten vorzeitig aus der Haft entlassen. Indem sie den Nürnberger Angeklagten ihre Straftaten vergaben, vergaben viele Überlebende der Hitler-Jahre auch sich selbst. 1951 wurde durch die Wiedereingliederung des Berufsbeamtentums fast der gesamte Staatsapparat des Dritten Reichs in den der Bundesrepublik übernommen.[1] Der neue Staat brauchte vor allem Juristen: Richter, Verwaltungsleute, Juraprofessoren. Kein Nazi-Richter wurde in der BRD je wegen eines Rechtsprechungsakts verurteilt.[2] Für Selbstbeschuldigungen gab es jetzt keine Zeit und Energie. Die beste Bewältigung einer verbrecherischen Vergangenheit schien in den Nachkriegsjahren das Vergessen.

Es brauchte fast 20 Jahre, bis eine neue Generation begann, zu fragen, warum Juristen so willig gewesen waren, sich dem Nazi-Regime zu unterwerfen. In den 1960er Jahren erschienen eine Reihe von Untersuchungen und Dokumentationen zur Justiz im Dritten Reich. 1968 erklärte Bernd Rüthers in seiner Habilitationsschrift Die unbegrenzte Auslegung die Anpassungsfähigkeit von Richtern und Wissenschaftlern an ein Unrechtsregime mit ihrer Fähigkeit, einen servilen Gesetzespositivismus mit der Einblendung übergesetzlicher Werte wie »Volksgemeinschaft« oder »Führerwille« zu verbinden.

Aber in den 1970er Jahren trat wieder wissenschaftliche Stille ein. Fast kein Jurist schrieb über die Justiz im Dritten Reich. Erst in den 1980er Jahren kam es zu einer wahren Flut von Veröffentlichungen, die die Unmenschlichkeit und den Rassenwahn des Nazi-Rechts bloßlegten. Das bekannteste Buch unter ihnen war Ingo Müllers Furchtbare Juristen,[3] das detaillierte Schilderungen von Unrechtsentscheidungen aller Art enthält und in viele Sprachen übersetzt wurde. Es gab Bücher über die schlimmsten Gerichte des Dritten Reichs (Volksgerichtshof und Sondergerichte), über Nazi-Rechtswissenschaftler und ihre Theorien, über den Justizalltag in den Hitler-Jahren und eine Reihe empirischer Untersuchungen zur Rechtsprechung einzelner Gerichte (in Hamburg, Celle, Oldenburg oder Köln). Niemand konnte seit diesen Enthüllungen von Nazi-Rechtsmissbräuchen mehr die Mitschuld von Juristen an den Verbrechen des Dritten Reichs bestreiten. »Juristen sind zu allem fähig«, hieß es in einem Spiegel-Interview mit dem Richter des Bundesverfassungsgerichts Martin Hirsch im Mai 1981.

Als im November 1989 die zweite deutsche Diktatur zusammenbrach, gab es in der Bundesrepublik ein Muster dafür, wie Recht und Justiz der untergegangenen DDR einzuschätzen waren. Die BRD als geschichtliche Siegerin konnte alle Fragen stellen und würde mit der Verdammung des untergegangenen Unrechtssystems nicht so lange warten wie letztes Mal. Es gab viele strukturelle Ähnlichkeiten zwischen Nationalsozialismus und Sozialismus: ein Einparteienstaat, keine freien Wahlen, keine Gewaltenteilung, keine Redefreiheit, die Unterordnung des Individuums unter die »Volksgemeinschaft« oder das »Kollektiv«. Bernd Rüthers präsentierte 1992 seine These von der besonderen »Ideologieanfälligkeit« von Juristen, die eher als Angehörige anderer Berufe bereit seien, sich einem totalitären System in die Arme zu werfen.[4] Wie ihre Vorgänger im Dritten Reich hatten auch DDR-Juristen die Politik ihrer Auftraggeber bereitwillig ausgeführt und durch ihre wissenschaftliche Arbeit unterstützt. Ihre Nähe zu einem Staat, der offensichtlich kein Rechtsstaat gewesen war, erweckte Zweifel an ihrer Fähigkeit, nach 1989 umzulernen.

So war es folgerichtig, dass nach der Wende keiner ostdeutschen Berufsgruppe so viel Abweisung und so viele politische Verdächtigungen widerfuhren wie den Juristen. Alle DDR-Richter und -Staatsanwälte mussten sich erneut um ihre Arbeitsstellen bewerben und ihre Eignung für das Amt in einer demokratischen Justiz nachweisen. Die meisten Juraprofessoren wurden »abgewickelt«. Alle DDR-Rechtsanwälte wurden automatisch auf mögliche Verbindungen zum Ministerium für Staatssicherheit (MfS) überprüft. Das plakative Bild vom »Unrechtsstaat«, das zumindest für Westdeutsche jahrzehntelang ausreichte, um das andere Deutschland angemessen zu beschreiben, ist auch 30 Jahre nach dem Fall der Mauer nur teilweise verblasst. Ein Versuch der rot-grünen Bundesregierung, durch Einsetzung einer Expertenkommission die deutsche »Erinnerungspolitik« in Sachen DDR in eine nuanciertere und nachdenklichere Richtung zu lenken, scheiterte 2005 am Widerstand westdeutscher Konservativer und ostdeutscher Opferverbände.[5] Noch 2014 kam es in Thüringen zur Bildung einer Koalition von Linken, Grünen und SPD nur unter der Bedingung, dass alle beteiligten Parteien das Wort »Unrechtsstaat« als nützliche politische Vokabel akzeptierten.

So weit der heutige Erkenntnisstand zur Vergleichbarkeit der Rolle von Juristen im Nationalsozialismus und im Sozialismus. Mir erscheint die bisherige Sicht der Dinge plakativ und selbstgerecht. DDR und Drittes Reich waren sich nicht ähnlich genug, um unter einen analytischen Hut gebracht zu werden. Die Argumentation von Wissenschaftlern wie Bernd Rüthers (der es »leichtfertig« nennt, die Vergleichbarkeit des Unrechts im Dritten Reich und im Sozialismus zu bestreiten), beruht nicht auf Archivstudien, sondern ist am Schreibtisch entwickelt worden. Sie schließt von der Theorie auf den Alltag und vom Extremen auf das Normale. Als Law-&-Society-Historikerin verspreche ich mir mehr davon, in umgekehrter Richtung vorzugehen.

So kam ich auf den Gedanken, die Rolle von Recht und Juristen in einer Diktatur nicht durch abstrakte Systemvergleiche zu ergründen, sondern durch die genaue Beobachtung einer konkreten Gruppe von Juristen in der gemäßigten und langlebigen Diktatur der DDR, die in ihren Konfrontationen mit der Partei täglich entscheiden mussten, welchem Herrn sie dienen wollten: dem Recht oder der Macht. Wir kennen die Rechtsbrüche des Dritten Reichs vor allem aus Gerichtsurteilen und aus den Veröffentlichungen ihrer Rechtswissenschaftler. Über die DDR stehen uns heute weit mehr alltägliche und persönliche Informationen zur Verfügung, aus denen wir erfahren können, wessen Geistes Kind ihre Juristen waren. »Sie sind eine Kriegsgewinnlerin«, sagte einmal ein ostdeutscher Kollege zu mir, und er hatte recht: Der Kollaps der DDR brachte mir durch die Öffnung ihrer Archive ungeahnte Forschungschancen.

Die Gruppe, die ich mir als Labor für diese Studie ausgesucht habe, ist die Juristische Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin (HUB). Den Grund für meine Wahl und die Methode, mit der ich herausfinden möchte, wie sehr sich die HUB-Juristen der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) anpassten, beschreibe ich im nächsten Abschnitt.

Das Projekt

Als es die DDR noch gab, wussten wir im Westen nicht viel darüber, was auf der anderen Seite der Mauer täglich vor sich ging. Die SED ließ sich nicht gern in die Karten schauen, und ohne Pressefreiheit, zugängliche Statistiken, verlässliche Selbstdarstellungen und dergleichen waren wir auf Spekulationen angewiesen, was drüben los war. Jetzt, wo es die DDR nicht mehr gibt, aber alle ihre Archive offen stehen, ist sie zu einem Schlaraffenland für Historiker, Soziologen, Journalisten und andere Leute geworden, die erkunden wollen, wie es dort »eigentlich gewesen ist«. Dieselbe SED, die sich vom Westen nicht in die Karten sehen ließ, schuf ein internes Informationssystem, in dem alle Amtsinhaber in der DDR auf allen Ebenen der Macht der jeweiligen über ihnen stehenden Autorität so oft berichten mussten, was in ihrem Arbeitsbereich geschah, und ihrerseits so oft von höheren Instanzen inspiziert wurden, dass die Summe all dieser Untersuchungen, Sitzungsprotokolle, Reporte, Kritiken, Fragebögen, Korrespondenzen und Meldungen fast so etwas wie ein Tagebuch des Partei- und Regierungsalltags in der DDR abgibt. In vielen Texten beschreiben die Beteiligten ihre Arbeit mit eigenen Worten, und man hat fast das Gefühl, bei der Berichterstattung mit am Tisch zu sitzen. Alle diese Quellen waren nie dafür bestimmt, von mir und meinen Lesern eingesehen zu werden. Jetzt erlauben sie jedem mit genug Zeit und Neugier für Archivbesuche, genauere Fragen an ein untergegangenes Gesellschaftssystem zu stellen, als es sich je selbst stellte, und wahrscheinlich auch als wir in einem Land mit Amtsgeheimnissen und Datenschutz an unsere eigene Gesellschaft stellen könnten.

Zwar sind noch immer die meisten Untersuchungen, die sich heute mit der plötzlich offengelegten DDR-Geschichte beschäftigen, von unseren Erinnerungen an den Kalten Krieg und dem Wunsch geprägt, mit der Verurteilung der DDR schon immer Recht gehabt zu haben. 90 Prozent der Anträge ans Bundesarchiv, DDR-Akten einzusehen, beziehen sich auf Unterlagen der SED-Spitze (Politbüro und Zentralkomitee), wo Archivbesucher die schlimmsten Machtmissbräuche des Systems vermuten. Aber ich wollte wissen, was sich in Bodennähe der Gesellschaft zutrug. Daher die Wahl meines »Labors« für diese Studie. Eine juristische Fakultät ist ein besonders geeignetes Sample für meine Zwecke: klein und überschaubar (aber mit wechselnden Mitgliedern, deren Kommen und Gehen die Veränderungen über 40 Jahre reflektieren); eine Gruppe, die viele schriftliche Spuren hinterlassen hat, die für den SED-Staat wichtig genug war, um von der Partei intensiv angeleitet und überwacht zu werden, und artikuliert genug, um auf diese Überwachung zu reagieren; gleichzeitig ein Kollektiv mit engen menschlichen Beziehungen, die auch die persönliche Bedeutung des Sozialismus im Arbeitsleben der Akteure reflektieren.

Von den juristischen Fakultäten in der DDR war die der HUB als Hauptstadtfakultät die sichtbarste. Vielleicht auch die wichtigste: Sie bildete als einzige Fakultät des Landes die Richter und Rechtsanwälte in der DDR und einen Teil der Staatsanwälte aus. HUB-Juristen waren entscheidend an der Gesetzgebungsarbeit des Ministeriums der Justiz beteiligt. Sie berieten das DDR-Außenministerium. Sie unterstützten die DDR-Regierung und die SED in vielen Angelegenheiten, die mit Recht zu tun hatten. Die SED war ihre wichtigste Auftraggeberin.

Trotzdem misstraute die Partei nicht nur den HUB-Juristen, sondern allen Juristen im Land. Glaubenssysteme, die eine nicht anzweifelbare Wahrheit verfechten, haben oft Probleme mit Juristen. »Juristen, böse Christen«, sagte Martin Luther: weil sie zu skeptisch sind, zu streitsüchtig, zu gern ihrem »einerseits« sofort ein »andererseits« folgen lassen, zu sehr an Geld interessiert, und weil sie (Luthers spezieller Vorwurf) »Werke« höher schätzen als »Glauben«.[6] Ähnliche Eigenschaften mussten Juristen in der DDR auch der Partei verdächtig machen. Die SED verlangte von ihren Untertanen Gehorsam, Linientreue, Anpassung an das Kollektiv und Glauben an die Versprechungen des Sozialismus. Das Handwerk der Juristen erfordert Skepsis, Beweise, eine eindeutige Sprache, die Verhandelbarkeit von Positionen und Kompromissbereitschaft. Kein Wunder, dass Heinrich Toeplitz, ab 1960 Präsident des Obersten Gerichts der DDR, ostdeutsche Rechtsanwälte »das schwächste Glied« in der Befehlsstruktur der DDR nannte. Es gab an der Spitze der Partei so gut wie keine Juristen, nur sehr wenige Juristen in der ostdeutschen Verwaltung und nur die nötigsten Juristen in der Justiz. 1984 /85 bildeten DDR-Universitäten pro 10.000 Einwohner nur zwei Juristen aus (kaum mehr als Kunststudenten); im Vergleich zu 15 Juristen in der Bundesrepublik und 22 in so debattierfreudigen Ländern wie Italien und Frankreich.

Wie reagierten die Angehörigen meines HUB-Labors auf das Misstrauen der Partei? Wie navigierten sie die Widersprüche zwischen einem Beruf, der von Zweifeln lebt, und der Partei, die darauf bestand, immer Recht zu haben? Waren sie eher bereit, Willkür von oben fraglos durchzusetzen, oder sie durch das Bestehen auf formalen Regeln abzumildern? Erwiesen sie sich in den 40 Jahren DDR-Geschichte womöglich (wie Luther und das Misstrauen der SED gegenüber ihren eigenen Juristen nahelegen) zwar nicht als »böse«, aber als unzuverlässige Sozialisten? Oder waren sie willige Diener des »Unrechtsstaats«?

Mir stand für die Beantwortung dieser Fragen ein sagenhafter Quellenreichtum zur Verfügung. Aber weil es mir nicht um kanonische Ereignisse und bekannte Persönlichkeiten geht, sondern um etwas, das man »historische Nebensächlichkeiten« nennen muss, sind diese Quellen weniger leicht erschließbar, als wenn ich, sagen wir, über die DDR-Außenpolitik schreiben wollte. Die Kataloge oder die digitalen Suchmaschinen von Archiven helfen mir nicht weiter. Ich konnte für dieses Buch nicht, wie Rechtswissenschaftler es sonst tun, eine These aufstellen, sie durch das Studium der einschlägigen Literatur und Rechtsprechung untermauern, meine eigenen Vorschläge für die Lösung eines Rechtsproblems entwickeln und, wie auf einem geraden Weg von A nach B, auf meine Schlussfolgerungen zustreben. Stattdessen ähnelte meine Arbeit einer Suche nach Ostereiern oder Pilzen. Ich wusste nicht, was ich finden würde: eine Moralpredigt des Dekans an seine Truppe? Einen politischen Streit zwischen Kollegen? Ein Parteiverfahren gegen einen Studenten? Ich konnte auch nicht voraussagen, wo meine Fundstücke versteckt sein würden. Um den Zwiespalt meiner Protagonisten zwischen den Anforderungen ihres Berufs und den Parteibeschlüssen der SED überhaupt zu sehen und zu interpretieren, brauchte ich aufschlussreiche Kleinigkeiten: organisatorische Veränderungen, Wortwechsel, Einwendungen, Zwischenfälle. Die Möglichkeiten schienen unbegrenzt. Ich musste mich, wie beim Pilzesuchen, auf meine Nase, meinen Instinkt und meine Vorkenntnisse des Terrains der DDR-Rechtsgeschichte verlassen. Bei meiner Arbeit konnte ich nicht auf die Hilfe eines Assistenten zurückgreifen, weil ihm nicht aufgefallen wäre, was mir auffiel. Ich wusste ja selbst nicht immer, wonach ich suchte. Aber ich wusste immer, ob ich es gefunden hatte oder nicht.

Die meisten Aufsätze und Bücher meiner Protagonisten waren nicht sehr hilfreich, weil in der juristischen Literatur der DDR zensiert und auch gelogen wurde. Auch die noch lebenden ehemaligen Mitglieder der Juristischen Fakultät der HUB konnte ich nur mit Vorsicht befragen, weil 30 Jahre nach dem Fall der Mauer ihre Erinnerungen durch die vielen Veränderungen in ihrem Leben wie durch Prismen so oft gebrochen sind, dass sie sich nicht mehr zuverlässig beschreiben lassen. Ich suchte nach den Reaktionen der HUB-Juristen auf ihre Alltagskonfrontationen mit der Macht und nach den Strategien, mit denen sie sich an die Macht anpassten, ihr auswichen, sich ihr vielleicht widersetzten, um so mit sich selbst im Reinen zu bleiben. Im Laufe der DDR-Geschichte gab es viele Ereignisse an der Humboldt-Universität, auf die meine Protagonisten reagieren mussten: drei Hochschulreformen; das Kommen und Gehen an ihrer Fakultät; Änderungen der Lehrpläne und der Reaktionen ihrer Studenten; politische Krisen wie den 17. Juni 1953, das Tauwetter nach Stalins Tod, den Mauerbau, der »Prager Frühling«; die Biermann-Ausbürgerung 1976 und fakultätsinterne Skandale aller Art. Diese Ereignisse benutzte ich als Lackmus-Tests, mit deren Hilfe ich die zwiespältige Position von Juristen in der Zwickmühle zwischen Recht und Macht untersuchen konnte.

So hatte sich am Ende meiner Archivarbeit auf meinem Schreibtisch ein Riesenhaufen von Puzzleteilen angesammelt, die ich nun zu einem sinnvollen Bild zusammensetzen sollte. Wie setzt man ein gigantisches Puzzle zusammen? Man starrt die Teile an und hofft, Gemeinsamkeiten zu entdecken. Man sortiert sie nach Farbe, Material, Alter und Provenienz, um zu sehen, was zusammenpasst. Man hält die Teile aneinander – mal so, mal so –, um wie ein Archäologe aus ein paar Scherben zu erraten, wie die Wölbung eines Ölkrugs verlaufen sein mag. Aber bei gründlicher Betrachtung erwiesen sich meine Fundstücke als so widersprüchlich, dass es unmöglich schien, aus ihnen ein in sich geschlossenes Bild zusammenzusetzen. Ich hätte jede Behauptung in diesem Buch sofort durch Gegenbeispiele qualifizieren müssen – so war es, aber so war es auch wieder nicht. »Was meint sie denn nun eigentlich?«, hätten irritierte Leser gefragt. Das Problem liegt nicht darin, dass ich mit fragwürdigem Material arbeitete. Im Gegenteil: Meine Archivfundstücke sind authentischer als abstrakte Schreibtischspekulationen über das Geschehene. Geschichte ist immer dreidimensional. Zu geradlinige Storylines lassen oft wichtige Abweichungen aus.

Daher mein Entschluss, das Material nicht zu einem Bild, sondern – in Rashomon-Manier – zu drei Bildern zusammenzusetzen. Ich will um die Geschichte der Juristischen Fakultät der Humboldt-Universität wie um eine Litfaßsäule herumgehen und die Erfahrungen meiner Protagonisten in den 40 Jahren der DDR aus drei verschiedenen Perspektiven beschreiben. Jede Geschichte beginnt mit demselben banalen Anfangssatz, jede folgt demselben Kalender der DDR-Geschichte, und jede endet mit ihrem Untergang. Aber ich benutze unterschiedliche Details für meine drei Geschichten, die ich nach der jeweiligen Perspektive ausgewählt habe, aus der sie die Erfahrungen der Fakultät beleuchten.

Die erste Geschichte ist die Geschichte der willigen und fraglosen Unterwerfung der HUB-Juristen unter die SED. »Natürlich. So war es«, werden die meisten Leser bei der Lektüre denken. Die zweite Geschichte verfolgt den mürrischen juristischen Eigensinn meiner Protagonisten und ihre Techniken, Parteibeschlüsse durch Weghören, Missverständnisse und dergleichen zu unterwandern und ihren eigenen Interessen zu folgen. Sie wird manche Leser verunsichern: »War es wirklich so?« Die dritte Geschichte beschreibt (jedenfalls was meine Juristen anbetrifft) den Verschleiß ihres politischen Glaubens und soll uns an der gängigen These von der »Ideologieanfälligkeit« von Juristen zweifeln lassen. Eine Vorwarnung: Manchmal benutze ich dasselbe Ereignis als Material für zwei Geschichten. »Davon hat sie doch schon einmal erzählt«, mag eine aufmerksame Leserin dann denken. Das stimmt. Aber ich will dasselbe Ereignis für meine Zwecke zweimal nutzen, um zu zeigen, dass man – je nach Perspektive – denselben Sachverhalt unterschiedlich sehen kann. Ich möchte meine Leser nicht nur informieren, sondern auch Zweifel in ihnen wecken: Ist das, was wir über Geschichte zu wissen glauben, die Widerspiegelung einer Realität oder das Produkt unserer eigenen Vorurteile?

Am Ende dieses Buches werde ich aus den drei Geschichten Schlussfolgerungen für die Rolle der HUB-Juristen in der SED-Diktatur ziehen und, darüber hinaus, über den Einfluss von Recht und Juristen einer so viel brutaleren Diktatur wie der des Dritten Reichs spekulieren.

 

PROF. DR. INGA MARKOVITS   Jahrgang 1937, ist Rechtswissenschaftlerin und Emeritus der University of Austin (Texas). Sie promovierte 1969 an der FU Berlin über das Zivilrecht in der DDR, bevor sie in die USA auswanderte. Sie gilt als Expertin für vergleichende, sozialgeschichtliche Rechtswissenschaften. Webseite: https://law.utexas.edu/faculty/inga-markovits.

 

* Bei dem Text handelt es sich um einen Auszug aus: Inga Markovits, Diener zweier Herren. DDR-Juristen zwischen Recht und Macht (S. 11-20). Ch. Links Verlag: Berlin, Juni 2020. ISBN: 978-3-96289-085-8. Wir danken dem Verlag für die Genehmigung zum Wiederabdruck.

Anmerkungen:

[1] Dazu Joachim Perels: Die Übernahme der Beamtenschaft des Hitler-Regimes, in: Kritische Justiz 37 (2004), 2, S. 186–193, hier S. 186.

[2] Rainer Schröder: … aber im Zivilrecht sind die Richter standhaft geblieben. Die Urteile des OLG Celle aus dem Dritten Reich, Baden-Baden 1988, S. 18.

[3] Ingo Müller: Furchtbare Juristen. Die unbewältigte Vergangenheit unserer Justiz, München 1987.

[4] Bernd Rüthers: Ideologie und Recht im Systemwechsel. Ein Beitrag zur Ideologieanfälligkeit geistiger Berufe, München 1992.

[5] Inga Markovits: Besichtigung eines Minenfeldes: Zum deutschen Streit über die DDR-Erinnerung, in: Neue Politische Literatur 52 (2007), Heft 3, S. 375–385.

[6] Vgl. Michael Stolleis: Juristenbeschimpfung, oder: Juristen, böse Christen, in: Theo Stammen/ Heinrich Oberreuter/Paul Mikat (Hg.): Politik – Bildung – Religion. Hans Maier zum 65. Geburtstag, Paderborn 1996, S. 163–170.

 

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