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Drehscheibe Hartz IV – immer in Bewegung, aber ohne Chance zum Aufstieg

in: vorgänge Nr. 219 (3/2017), S. 45-53

Derzeit beziehen rund 6 Millionen Menschen in Deutschland Arbeitslosengeld II oder Sozialgeld. Sie sind in vielen Bereichen des politischen und kulturellen Lebens von einer echten Teilhabe ausgeschlossen. Die beiden Autoren der Berliner Initiative Teilhabe e.V. konzentrieren sich darauf, die Auswirkungen auf die Wohnsituation der Betroffenen zu beschreiben und deren Erfahrungen mit den Jobcentern zu reflektieren.

„… und am Ende wohnungslos?“ Der Titel eines von der Neuköllner Bezirksgruppe der Berliner MieterGemeinschaft im Februar veranstalteten Gesprächsabends machte bereits deutlich, wie alltäglich die Drohung des Ausnahmezustands für viele Menschen in den ärmeren Bezirken der Stadt ist. Nora Freitag, Leiterin der mobilen Erwerbslosenberatung des Berliner Arbeitslosenzentrums, bezeichnete das Thema Wohnen als Hauptproblem der bei ihr Rat suchenden Menschen. Die fehlende Übernahme von Wohnkosten und abgelehnte oder verspätet bearbeitete Anträge auf Darlehen zur Begleichung von Mietschulden führten zu Kündigungen seitens der Vermieter, erläuterte die Sozialwissenschaftlerin. Betroffene berichteten auf der Veranstaltung über ihre fatale Situation: Sie sehen sich im Zangengriff von unnachgiebigen Wohnungseigentümern und diskriminierendem Verwaltungshandeln der Jobcenter.

Der aktuelle Sozialbericht des Bezirksamtes (2016) beschreibt die soziale Lage der Einwohner/innen des Stadtbezirks Neukölln: Hier leben überdurchschnittlich viele Jugendliche und junge Erwachsene. Über 42 Prozent aller Einwohner/innen weisen einen Migrationshintergrund auf, etwa 20 Prozent erhalten Leistungen nach SGB II und XII, so dass der Bezirk den berlinweit höchsten Anteil an Menschen aufweist, die zur Existenzsicherung auf staatliche Hilfen angewiesen sind. In der Beurteilung der Wohnlage und der durchschnittlichen Pro-Kopf-Wohnfläche belegt Neukölln den letzten Rang unter den Bezirken, viele Wohnungen sind überbelegt. Diese objektiven Fakten und die Äußerungen Betroffener zeigen: Erwerbslose und Leistungsbeziehende leiden eher unter materiellen Einschränkungen und Entwürdigungen durch Behörden als an fehlender Erwerbsarbeit. Sie haben in erster Linie mit dem alltäglichen Überleben zu kämpfen und sich in der Konfrontation mit der Verwaltungsrealität, die oft genug rassistisch auftritt, zu behaupten. Als staatliche Institutionen mit enormer Wirkung auf die Lebensverhältnisse bilden Jobcenter und Sozialämter dabei die Schnittstelle zwischen den finanziellen Entbehrungen, mit denen viele Menschen klarkommen müssen, und der von ihnen erlebten Behandlung als „Bürger/innen zweiter Klasse“. Wenn jemand die Miete für die eigene Wohnung nicht mehr aufbringen kann, kann sich das Verhalten der Behörden zu einem wahren Horrorszenario entwickeln: Es droht eine Zwangsräumung, die das staatliche Hilfesystem nicht verhindert, sondern eher fördert, falls die Übernahme der Wohnkosten oder Mietschulden nicht sozialverträglich geklärt wird.

Eskala­ti­ons­s­tufen der Verdrängung

Das Drama beginnt, wenn eine Mieterhöhung ansteht. In Berlin regeln seit dem (1). Juli 2015 die Ausführungsvorschriften Wohnen (AV-Wohnen) die Übernahme der Wohnkosten für ALG II- und Sozialgeldberechtigte. Sie legen Richt- und Grenzwerte fest, bestimmen welche Wohnkosten noch als angemessen anerkannt werden (getrennt berechnet für die Kosten der Bruttokaltmiete und die Kosten der Heizung). Übersteigen die tatsächlichen Wohnkosten die als angemessen angesehenen Beträge und können keine Ausnahmegründe angeführt werden, übernimmt das Jobcenter die tatsächlichen Wohnkosten nur noch vorübergehend in voller Höhe.
Im Rahmen eines Kostensenkungsverfahrens erhalten die Betroffenen zunächst in einer Anhörung Gelegenheit, gegenüber dem Jobcenter Gründe vorzutragen, welche die „überhöhten“ Wohnkosten rechtfertigen. Bleibt das Jobcenter davon unbeeindruckt, werden die Leistungsberechtigten schriftlich aufgefordert, die Kosten für die Unterkunft oder/und die Heizung zu senken (zum Beispiel durch den Versuch, den Vermieter zu einem Verzicht auf die Mieterhöhung zu bewegen; durch Untervermietung; durch Umzug in eine andere Wohnung). Die tatsächlichen Unterkunftskosten (Bruttokaltmiete) werden nach der schriftlichen Aufforderung zur Kostensenkung in der Regel noch für sechs Monate übernommen, danach auf den „angemessenen“ Umfang beschränkt. Die Mieter/innen sind in diesem Fall gezwungen, einen Teil der Wohnkosten aus dem jeweiligen Regelbedarf zu bestreiten – und damit ihr „soziokulturelles Existenzminimum“ weiter zu reduzieren. Im Ergebnis können die Vermieter ihr Mieterhöhungspotenzial ausschöpfen, die Jobcenter ihre Kosten senken.

Im Gegensatz zu erwerbstätigen Personen ist es ALG-II-Empfänger/innen nicht erlaubt, sich frei auf dem Wohnungsmarkt zu bewegen. Falls Betroffene jedoch (und in der Regel entgegen aller Erwartung) eine neue Wohnung finden, muss in Berlin zunächst das bisherige Jobcenter dem Umzug und der neuen Wohnung zustimmen. Lässt sich eine Wohnung finden, die den Vorgaben des Sozialrechts und des Jobcenters entspricht, muss die wohnungssuchende Person den Vermieter bitten, die Wohnung zu reservieren. Zudem muss sie Kennzahlen (z.B. Gebäudegröße) abfragen, die die Behörde für die Berechnung der Mietobergrenze benötigt. Gegenüber dem Vermieter „outen“ sich die Bewerber/innen als Hartz-IV-Bezieher/innen und setzen sich weiteren möglichen Diskriminierungen aus. Bevor der Mietvertrag unterschrieben werden kann, muss das Jobcenter eine Bewilligung erteilen. Die Sachbearbeiter/innen sind verpflichtet, den Betroffenen einen Termin zur Besprechung des Sachverhalts innerhalb von drei Tagen einzuräumen. Erst wenn die Zusage der Behörde vorliegt, kann die Wohnung angemietet werden. Ob die existenziell wichtige Wohnungsfrage geklärt werden kann, hängt also nicht zuletzt vom „kommunikativen Draht“ zu den Sachbearbeiter/innen ab. Im Rahmen einer wissenschaftlichen Studie[1] berichteten Betroffene über ihre individuellen Ohnmachtserfahrungen im Jobcenter und die Frustration über die als willkürlich erlebten Entscheidungen des dortigen Personals. Viele Befragte haben offensichtlich das Vertrauen in ihr Jobcenter gänzlich verloren und fühlen sich eher schikaniert und überwacht als bei der Wohnungssuche unterstützt.

Beispiel Helga und Günther Bauer: Die beiden sind 56 und 54 Jahre alt, leben in einer Erdgeschosswohnung in Neukölln. Sie müssen die hohen Nebenkosten vom Regelsatz bezahlen, ihre Suche nach einer neuen Wohnung blieb bislang erfolglos. Erschwerend kommt hinzu, dass sie eine barrierefreie Wohnung benötigen. „Sie können jetzt einen Antrag stellen. Und wenn sie Glück haben und haben einen Sachbearbeiter, der sagt: ‚Och Mensch, mir ist das doch egal, Hauptsache die Akte ist vom Tisch‘, dann kriegen sie das bewilligt. Und wenn der aber einen schlechten Tag hatte (…), dann haben Sie Pech, dann lehnt der das ab. Und so läuft das auf den JobCentern wirklich.“[2]

Beispiel Frau Hauptmann: Die Alleinstehende musste auf Grund einer Aufforderung zur Kostensenkung umziehen. Heute lebt sie in einer Wohnung unterhalb des Standards im Berliner Bezirk Prenzlauer Berg. Ihre Erfahrungen mit dem JobCenter beschreibt sie sarkastisch so: „Das JobCenter hat sich wirklich extrem Mühe gegeben, mich mit seinen Entscheidungen obdachlos zu machen.“[3]

Da die Berliner Jobcenter und Gerichte die Stadt als Gesamtheit ansehen, muss die Wohnungssuche beispielsweise berlinweit vorgenommen werden. Für Kinder bedeutet der Umzug in einen anderen Stadtteil eine Entwurzelung. Das kann sich als sehr problematisch herausstellen, wie der Bezirksstadtrat von Neukölln gegenüber den Wissenschaftlerinnen einräumt. Es überrascht deshalb nicht, dass Betroffene alles versuchen, um im angestammten Wohnraum bzw. -umfeld bleiben zu können. Der Stadtsoziologe Sigmar Gude verweist darauf, dass im Jahr 2014 12.000 Hartz-IV-Haushalte von den Berliner Jobcentern aufgefordert wurden, in eine kostengünstigere Wohnung zu ziehen. Nur 559 folgten der Vorgabe. Im darauffolgenden Jahr sank die Zahl weiter auf 450. Umzüge von Leistungsbeziehenden und anderen finden praktisch kaum noch statt, da bezahlbare Wohnungen nicht mehr zu finden sind. Mieterhöhungen werden kompensiert, indem ein Teil des Regelsatzes für die Miete verwendet wird und der Lebensstandard damit weiter sinkt. Ein weiterer Effekt zeigt sich in der Zunahme von Überbelegungen, denen die Jobcenter mit ihrer Aufforderung zur Untervermietung faktisch den Weg ebnen. Nach Gude leben etwa 30.000 Kinder in gravierend überbelegten Wohnungen (zwei Zimmer weniger als Personen). Die Quadratmeterzahl, die einer/m Hartz-IV-Empfänger/in durchschnittlich zur Verfügung steht, lag 2014 bei 28 Quadratmetern pro Person, Tendenz sinkend. Im Berliner Durchschnitt sind es dagegen 39 Quadratmeter.[4] Gude spricht deshalb von „innerer Verdrängung“, die neben der Verwendung eines Teil des Regelsatzes für die Miete und der Überbelegung lediglich die Möglichkeit offen lässt, dorthin zu ziehen, wo die Armen bereits wohnen, das heißt in die schlechtesten Wohnungsbestände.[5]

Wenn auch diese Optionen wegfallen, droht bei Mietschulden eine Räumungsklage und der unfreiwillige Auszug aus der angestammten Wohnung. In seltenen Fällen erfolgt die unter Einsatz der Polizei vollzogene Zwangsräumung. Wird geräumt und werden die Betroffenen wohnungslos, springt der Bezirk ein. Bürokratische Absurditäten tun sich auf: Ein Grundrecht auf eine Wohnung gibt es in Deutschland nicht; nach dem Ordnungsrecht der Länder sind die Kommunen jedoch gesetzlich verpflichtet, unfreiwillig Wohnungslose unterzubringen. Sind Wohnheime und Übergangseinrichtungen in Berlin ausgebucht, werden ganze Familien auch in kostenträchtige Hostels einquartiert. Da kommen schnell 1.000 Euro und mehr an Ausgaben im Monat zusammen – Beträge, für die Verdrängten ein Jahr länger in ihrer alten Wohnung bleiben könnten.[6]

Auch wenn keine Zahlen von offiziellen Stellen zur Wohnungslosigkeit, zu Räumungsklagen und Zwangsräumungen vorliegen, lässt sich festhalten, dass Neukölln mit deutlichem Abstand der Bezirk mit der höchsten Anzahl von Wohnungslosen ist.[7] Laura Berner et al. stellen in ihrer vor zwei Jahren veröffentlichten Studie über Zwangsräumungen in Berlin fest, dass in allen Bezirken Mietschulden, daraus resultierende Kündigungen, erzwungene Umzüge und Zwangsräumungen durch die Jobcenter verursacht werden.[8] Der Sozialstaat zeigt sich demnach als treibende Kraft eines fortschreitenden Verdrängungs- und Verarmungsprozesses in Bezirken wie Neukölln. Sie sprechen darum auch von einer „staatlichen Koproduktion“ bei der Entstehung von Wohnungslosigkeit und einem „Scheitern des Hilfesystems als Normalzustand“.[9]

Moral­vor­stel­lungen der Bürokratie

Viele Sachbearbeiter/innen in den Jobcentern erleben diese Situation sicherlich auch als irrational, empfinden das eigene Handeln als Versagen und kompensieren ihre Stresssituation, indem sie die systemischen „Fehler“ auf ihre „Kunden“ projizieren. Sie differenzieren zwischen den „unverschuldet“ in Not geratenen Personen und denjenigen, die scheinbar selbst für ihre Wohnungsnotsituationen verantwortlich sind. Die Studie über Zwangsräumungen in Berlin bestätigt anhand von Gesprächen mit Mitarbeiter/innen von Freien Trägern bzw. Jobcentern, dass die altbekannte stigmatisierende Unterscheidung zwischen „würdigen und unwürdigen Armen“ – hier bezogen auf die Zwangsräumungsbedrohten – nach wie vor aktuell ist. Wenn den Leistungsbezieher/innen beispielsweise unterstellt wird, sie würden Mietrückstellungen vorsätzlich in Kauf nehmen, kann das dazu führen, dass Menschen in Notlagen vom Hilfesystem enttäuscht werden und den Institutionen misstrauen.

Ebenso erleben die Betroffenen, wie die Bürokratie die Berechenbarkeit ihres alltäglichen Lebens Zug um Zug zersetzt. Das kann zur Ausbildung eines eigenen Überlebenshabitus führen. In der Untersuchung „Bewährungsproben für die Unterschicht“ von 2013 beschrieb das Team um den Jenaer Soziologen Klaus Dörre, wie Menschen de facto vom politischen System dazu gezwungen werden, sich bestimmte Verhaltensweisen anzueignen, mit denen wiederum die Stigmatisierungen selbst begründet werden.[10] Betroffene müssen sich an ungünstige Bedingungen anpassen und einen entsprechenden Lebensstil entwickeln. Die von den Sozialbehörden initiierte Überbelegung der Wohnungen bringen Politik und Medien als sogenannte Problemimmobilien in Verruf, nicht selten verbunden mit dem Vorwurf, die Mieter/innen würden diese illegal zweckentfremden. Dazu passt ein Ergebnis der seit Jahren laufenden sogenannten Unterschichtendebatte, wonach Menschen gerade auch in den Jobcentern mit der Attitüde konfrontiert werden, die eigene soziale Notsituation sei in erster Linie das Resultat ihrer angeblichen Passivität und fehlenden Aufstiegsambitionen.

Im Rahmen der Dörre-Studie ergab die Befragung von Sachbearbeiter/innen in den Jobcentern, dass diese anfangs durchaus kritisch zur Hartz-Reform standen, sich ihre Sichtweise im Laufe der Zeit jedoch veränderte: Aus der Kritik an der Unzulänglichkeit der Reform wurde die Kritik an den „Kunden“. Deren Unterteilung in „marktnahe“ und „marktferne“ Leistungsbeziehende führte zur Konzentration auf die leicht Vermittelbaren. Je „schwieriger“ die „Kunden“ für die Fallmanager/innen werden, umso schneller erfolgt eine individualisierte Verantwortungszuschreibung. Die Leistungsbeziehenden werden abgewertet („Gerecht ist, was mehr Arbeit schafft!“), die Langzeiterwerbslosen mit Moralisierungen konfrontiert („Wer will, bekommt auch Arbeit!“). Die SachbearbeiterInnen fühlen sich persönlich beleidigt, lassen sich ihre „Kunden“ nicht zeitnah vermitteln. Die Erwerbslosen mit Vermittlungshemmnissen verletzen eine implizite Vertragsbeziehung, indem sie das Prinzip von „Geben-und-Nehmen“ missachten. Sie bleiben der Fürsorge verhaftet, verweigern sich der Anforderung, ohne fremde Hilfe das eigene Überleben zu sichern. Der Vorwurf der Vertreter/innen der Jobcenter: Die „schwierigen Kunden“ verzichten auf ihre Autonomie und individuelle Emanzipation. Die Autor/innen der Studie deuten diese Orientierung auf persönliche Handlungsmaximen (Leistungsgerechtigkeit, persönliche Autonomie) als Herausbildung eines „professionellen Habitus“ auf Seiten der Angestellten der Arbeitsverwaltung, um mögliche persönliche Konflikte (Schuldgefühle), die sie im Rahmen ihrer Tätigkeit entwickeln könnten, zu vermeiden.

Schlechte Stimmung bei der Behörde

Die Verschiebung der Verantwortung auf die Leistungsbeziehenden ist politisch wie psychologisch ein geschickter Zug, um von der Misere in den Jobcentern abzulenken. In Kreisen der Erwerbslosenszene, beispielsweise beim Erwerbslosenfrühstück im „Stadteil- und Infoladen Lunte“ in Nord-Neukölln, tauschen Betroffene Erfahrungen aus, die ein realistisches Licht auf die Behörde werfen. Die Liste der Beschwerden ist lang: Viele Bescheide sind fehlerhaft, eingelegte Widersprüche werden erst nach Wochen bearbeitet, mindestens 40 Prozent aller Klagen von Hartz-IV-Betroffenen beim Sozialgericht gewonnen. Zur Erfüllung der Quoten und zur Entlastung der Statistik wurden und werden Menschen in diskriminierende Beschäftigungsverhältnisse gedrängt (z.B. gemeinnützige Arbeit auf kommunaler Ebene: befristete „Arbeitsgelegenheiten“, „Bürgerarbeit“), für die keine Beiträge zur Arbeitslosenversicherung anfallen und die direkt wieder zum Jobcenter führen. Die Erwerbslosen werden immer wieder „in Arbeit gebracht“, bewegen sich dabei aber im Kreis ohne jegliche Aufstiegschancen. Werden Sanktionen verhängt oder Teile des Regelsatzes zur Bezahlung der Miete verwendet, stehen die Betroffenen vor dem Problem, irgendwie die fehlenden finanziellen Mittel aufzubringen. Das treibt sie in die Schwarzarbeit und damit in die Illegalität, was ihnen bei Bekanntwerden den Vorwurf des „Sozialbetrugs“ einbringt und in der Öffentlichkeit das Schreckensbild der „Hartz-IV-Abhängigkeit“ bestätigt. Um die alltäglichen Kosten zu decken, führt in vielen Fällen der Weg in die private Verschuldung (ein nach wie vor wenig diskutiertes Phänomen) oder zum Flaschensammeln, einer Tätigkeit, die im öffentlichen Raum allenfalls Mitleid oder gar Verachtung hervorruft.

Aber auch bei den Beschäftigten der Jobcenter wird eine massive Unzufriedenheit sichtbar. Die Personaldecke ist dünn, unbezahlte Überstunden scheinen üblich zu sein.[11] Die ehemalige Arbeitsvermittlerin Inge Hannemann, die in den vergangenen Jahren als sogenannte Hartz-IV-Rebellin bundesweit bekannt wurde, berichtet, dass die einzelnen Jobcenter von der Bundesagentur für Arbeit und den zuständigen Regionaldirektionen restriktive Weisungen, Zielvereinbarungen und Richtlinien erhalten, für deren Umsetzung sie verantwortlich sind.

Den Versuch, soziale Arbeit in betriebswirtschaftliche Zahlen umzuwandeln, hält Hannemann für fatal, er sei ursächlich für die größten Missstände der Hartz-IV-Reform.[12] Der Arbeitsalltag der Mitarbeiter/innen werde von einzuhaltenden Vermittlungsquoten geprägt, für die Erfolgsprämien ausgeschüttet werden – allerdings nur bis zur Ebene der Teamleiter/innen. Hannemann verdeutlicht, dass besonders bei jungen Menschen (bis 25 Jahren) durch die scharfen Sanktionsregelungen der Schwerpunkt auf Maßregelung und Bestrafung liegt, die Bedürfnisse oder Nöte der Betroffenen dagegen meist unberücksichtigt bleiben.[13] Ihrer Auffassung nach sind zum Beispiel nur 20 Prozent der verordneten oder bewilligten Maßnahmen zur Weiterbildung sinnvoll, zu 80 Prozent werde „Blödsinn“ finanziert, wie sie den Geschäftsführer der BA-Regionaldirektion Berlin-Brandenburg zitiert. Die Kurse werden bei den Bildungsträgern offensichtlich bereits zu Jahresbeginn „im Paket“ geordert und bezahlt und müssen dann auch mit Teilnehmenden belegt werden, egal ob die Betreffenden die Maßnahmen brauchen oder nicht.[14] Diese irrationale Vorgehensweise erfüllt zwar den Zweck, die Erwerbslosenstatistik um diese Menschen zu bereinigen, die Qualität der konkreten Betreuungsarbeit findet im aktuellen Controlling-System dagegen kaum Berücksichtigung. Fazit: Die Zahlen müssen stimmen, der Druck auch auf die Mitarbeiter/innen wächst. Das Ergebnis sind genervte Menschen auf beiden Seiten des Schreibtisches – Frust bei Fallmanager/innen, Gereiztheit bei vielen „Kunden“.

Herrschaft der Bürokratie

Personen, die andere in möglichst gute Arbeit vermitteln sollen, arbeiten vielfach selbst zu schlechten Bedingungen. Dieser Zustand ist jedoch nicht nur das Ergebnis eines behördeninternen Kostendrucks, der dem sozialstaatlichen Ziel zuwiderläuft. Vielmehr erweisen sich die Defizite in der Arbeitsvermittlung als systemfunktional. Zu vermuten ist, dass die Jobcenter nicht zur Lösung der individuellen Krisensituation von Hartz-IV-Betroffenen beitragen, sondern der „Normalität“ eines Lebens auf Basis der Grundsicherung entgegenwirken sollen. Zumindest gilt das für die noch am Arbeitsmarkt vermittelbaren Personen, während die älteren „Kunden“ meist nur noch symbolisch betreut werden. Die Menschen werden durch überflüssige und unerwünschte „Maßnahmen“ in Bewegung gehalten, für andere wiederum ist die Agentur de facto nicht erreichbar. In jedem der Fälle entstehen persönliche Verunsicherungen.

Die Krise erweist sich damit als Bestandteil der Herrschaft der Bürokratie. Deren Ziel scheint darin zu bestehen, den Leidensdruck auf die Erwerbslosen aufrechtzuerhalten. Arbeitspsychologische Studien belegen seit vielen Jahren, dass es im längerfristigen Verlauf von Erwerbslosigkeit einen Zeitpunkt zu geben scheint, an dem betroffene Personen beginnen, sich mit der Realität abzufinden. Dieser Schritt trägt zur Stressreduzierung bei. Die Arbeitsverwaltung fordert sie dagegen permanent auf, sich zu aktivieren, was individuell krisenverschärfend wirken kann. Die eigene Erwerbsorientierung zu hinterfragen oder zu schwächen, kann dagegen zu einer psychischen Stabilisierung beitragen. Die Schockwirkungen der Arbeitslosigkeit können überwunden, neue soziale Beziehungen eingegangen werden; vielleicht kann sogar ein alternatives Milieu aufgebaut oder gestärkt werden. Das alles widerspricht den Interessen des politischen Systems und stellt eine Abwehr gegen die „fürsorgliche Belagerung“ dar, für die Detlef Scheele, der neue Mann an der Spitze der Bundesagentur für Arbeit, vor der Einführung in sein neues Amt warb.

Erwerbslose entsprechen heute in der Masse nicht (mehr) dem Klischee der resignierenden und apathischen Menschen, das die Soziologie im Anschluss an die bekannte Marienthal-Studie der 1930er Jahre wirksam verbreitete. Betroffene verarbeiten persönliche Krisensituationen sehr unterschiedlich. Einerseits, so ein Ergebnis der Studie von Dörre und Co, ist die Erwerbsneigung der meisten Erwerbslosen ungebrochen; andererseits lehnen viele Personen die geforderte Erwerbsorientierung ab – und arbeiten dennoch in verschiedenen Bereichen „ehrenamtlich“, im eigenen Haushalt für Kinder und Pflegebedürftige, ohne dass sie auf gesellschaftliche Anerkennung hoffen dürfen. Das politische System aber tut alles dafür, um die auf Kapitalverwertung beruhende „Arbeitsgesellschaft“ symbolisch und durch Verwaltungshandeln zu stärken. Für die meisten Erwerbslosen ergibt sich daraus die Konsequenz, dass sie laut Dörre-Studie in einer „zirkularen Mobilität“ gefangen sind. Das heißt, an der sozialen Situation der Betroffenen ändert sich trotz aller Aktivitäten nichts, ungeachtet aller Bemühungen und allem Engagements kommen sie nicht vom Fleck. Sie bewegen sich wie auf einer Drehscheibe, die sie nicht zur Ruhe kommen lässt, aber ebenso wenig voranbringt oder gar sozial aufsteigen lässt. Sie können schon froh sein, wenn sie nicht durch die Fliehkraft der Bewegung nach außen geschleudert werden – zum Beispiel in die akute Konfrontation mit materieller Verelendung sowie Zwangsräumung und Wohnungslosigkeit.

THILO BROSCHELL   Jahrgang 1957, Stadtteilaktivist in Berlin-Neukölln; nach Ausbildung als Elektriker Umschulung zum Sozialarbeiter; seit den 1980er Jahren u.a. in Wohnungsloseneinrichtungen beschäftigt und aktiv in Erwerbsloseninitiativen; Veröffentlichungen in „Randnotizen – Nachrichten aus Nord-Neukölln“; Mitorganisator von Diskussions-Veranstaltungen von Teilhabe e.V. zu sozialpolitischen Themen.

JOACHIM MAIWORM   Jahrgang 1961; geisteswissenschaftliches Studium; Mitglied von Teilhabe e.V., aktiv in einer Bezirksgruppe der Berliner MieterGemeinschaft e.V., Beiträge für die Zeitschriften BIG Business Crime (hrsg. v. Business Crime Control e.V.), MieterEcho, Ossietzky.

Anmerkungen:

1 Nelly Grotefend et al., Die Wohnsituation von ALG-II-Empfänger_innen in Berlin: Prozesse wenn der Umzug naht, in: Ilse Helbrecht (Hg.), Gentrifizierung in Berlin. Verdrängungsprozesse und Bleibestrategien, Bielefeld 2016, S. 185-213.

2 Grotefend 2016 (Anm. 1), S. 204.

3 Ebd.

4 „Wer es sich leisten kann, bleibt“, Interview von Dinah Riese mit dem Stadtsoziologen Sigmar Gude, tageszeitung v. 18.3.2017; Ein zynischer Einwand erfolgte von Ricarda Pätzold vom Deutschen Institut für Urbanistik. Ihrer Auffassung nach sollte der durchschnittliche Flächenverbrauch weiter auf 30 m² reduziert werden, dann könnte Berlin auf der gleichen Wohnfläche 28% mehr Einwohner aufnehmen – und das Wohnungsproblem wäre gelöst (Immobilien Zeitung, 4.5.17). Wie viele Quadratmeter blieben dann noch den Einkommensarmen?

5 Vgl. auch Sigmar Gude, „Innere Verdrängung“, MieterEcho 361, Juli 2013, S. 12f.; Gude geht für 2012 davon aus, dass in Berlin über 40 Prozent der Mehrpersonenhaushalte mit Hartz-IV-Bezug mit der Einschränkung der Überbelegung leben mussten.

6 „Im Dezember 2016 zahlten die Behörden dort für 10.200 ‚Bedarfsgemeinschaften‘ mit insgesamt rund 18.400 Personen im Hartz-IV-Bezug eine Unterkunft in einer Pension oder einem Hostel. (…) Pro Kopf und Monat berappte das Land Berlin zuletzt rund 620 Euro, für jede Bedarfsgemeinschaft gingen im Mittel 1.116 Euro an
Betreiber von Unterkünften. Zum Vergleich: Für einen Einpersonenhaushalt hat Berlin die Mietobergrenze auf 448 Euro festgelegt. Zwei Personen erhalten maximal 538 Euro bewilligt.“ (Susan Bonath, „Geförderte Verdrängung“, Junge Welt v. 4.8.2017)

7 Laura Berner/Andrej Holm/Inga Jensen, Zwangsräumungen und die Krise des Hilfesystems, Berlin 2015, S. 59.

8 Berner et al. 2015 (Anm. 7), S. 78.

9 Berner et al. 2015 (Anm. 7), S. 83.

10 Klaus Dörre/Karin Scherschel/Melanie Booth, Bewährungsproben für die Unterschicht? Soziale Folgen aktivierender Arbeitsmarktpolitik, Frankfurt/M. 2013, S. 368ff.

11 Mitte des Jahres waren allein in den Berliner Jobcentern 112 Stellen offen. Ein Anzeichen dafür, dass die Arbeit in den Jobcentern krank macht: „In Berlin sind an den zwölf Standorten 7244 Mitarbeiter tätig. 5680 in Vollzeit, 1564 in Teilzeit. Während Beschäftigte in Deutschland im Schnitt 15,2 Tage fehlen, weil sie krank sind, fallen Mitarbeiter in Berliner Jobcentern zwischen 17,9 und 25,6 Tagen im Jahr aus. So viele wie in keiner anderen Branche sonst.“ (Marie Rövekamp, „Wie verheerend die Arbeitsbedingungen in Jobcentern sind“, Der Tagesspiegel v. 7.5.2017)

12 Inge Hannemann (mit Beate Rygiert), Die Hartz-IV-Diktatur. Eine Arbeitsvermittlerin klagt an, Reinbek bei Hamburg 2015, S. 138; vgl. auch „Innenansichten aus einem Jobcenter“, RandNotizen – Stadtteilzeitung aus dem Norden Neuköllns 10/2015, S. 15f.

13 Hannemann 2015 (Anm. 12), S. 8.

14 Hannemann 2015 (Anm. 12), S. 59f.

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