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Ein Beitrag zur Erkenntnis von etwas, das ist

in: vorgänge Nr. 230 (2/2020), S. 89-93

Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Rechtsauffassung im kommunistischen Staat. Kösel-Verlag, München 1967, 109 S., 14 €

Im Jahre 1961 erschien in der Zeitschrift „Hochland“ (53 (1961), S. 215ff.) ein Aufsatz eines jungen Wissenschaftlers mit dem Titel: „Der deutsche Katholizismus im Jahre 1933. Eine kritische Betrachtung“[1], der einen Sturm der Entrüstung auslöste. Der Autor zeigte zum ersten Mal auf, wie die katholische Kirche ab dem 6. März 1933 (dem Tag nach der Reichstagswahl vom 5. März) nachdrücklich zur positiven Mitarbeit und zur Unterstützung des NS-Regimes aufrief. Ihm schlug eine gewaltige Welle von Widersprüchen entgegen.[2] Doch Ernst-Wolfgang Böckenförde, der Autor dieses Aufsatzes, konterte und wies die Kritik gelassen zurück.

Einige Jahre später (1967) – inzwischen war er als Professor an die Universität Heidelberg berufen – schrieb er ein schmales Buch, dessen Resonanz nicht so groß war wie die des Hochland-Aufsatzes, das aber ebenso wie der Aufsatz Punkte ansprach, die bisher in der BRD nicht angesprochen waren. Es behandelte „Die Rechtsauffassung im kommunistischen Staat“. Beide Arbeiten bringen die Haltung zum Ausdruck, die Ernst-Wolfgang Böckenförde gegenüber seinem Beruf empfand. Es ging ihm um die „Erkenntnis von etwas, das ist“. Seiner Meinung nach muss jeder wissenschaftlichen und sollte jeder politischen Auseinandersetzung eine solche Erkenntnis vorausgehen. „Die Rechtsauffassung im kommunistischen Staat“ sollte dem entgegen wirken, dass die Verhältnisse in der (ehemaligen) DDR mit dem Schlagwort „Unrechtsstaat“ abgetan werden, um sich eine weitere Auseinandersetzung zu ersparen oder aber in ihrer prinzipiellen Andersartigkeit und Abkehr vom Freiheitsbegriff der BRD verharmlost werden.

Der I. Teil behandelt die Grundlagen und Wesensmerkmale des kommunistischen Rechtsbegriffs: Da die Rechtstheorie und Rechtspraxis in einem kommunistischen Staat sich immer als Anwendung des Marxismus-Leninismus verstehen, wendet der Autor sich zunächst den Aussagen des Marxismus-Leninismus über das Recht zu. Grundlage ist die Theorie des dialektischen und historischen Materialismus. Dieser besteht in der Verbindung einer philosophischen Seinslehre, einer darauf aufbauenden Sozialtheorie und einer Geschichtsphilosophie. Das eigentlich Seiende ist nur das materielle Sein. Kernstück der Sozialtheorie ist die Lehre von Basis und Überbau, wobei der Überbau eine juristisch-politische und eine ideologische Seite hat. Die Geschichtsphilosophie schließlich beschreibt die innere Bewegung, der das zunächst statische Modell von Basis und Überbau unterliegt. Diese Grundaussagen finden sich schon bei Karl Marx: Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt.

Der Autor zeigt dann den Wandel des Verhältnisses von Basis und Überbau in Bezug auf das Recht auf. Während das Recht ursprünglich keinen Eigenstand hatte, sondern eine unmittelbare Funktion der gesellschaftlichen Produktions- und Machverhältnisse war, entwickelte es sich nach der russischen Oktoberrevolution als ein Mittel zur Veränderung der ökonomischen Basis. Die revolutionäre Praxis trat in Widerspruch zur überkommenen Theorie. Nach 1945 kam es innerhalb des Marxismus zu einer Diskussion über das Recht. Dabei vertrat Stalin die Auffassung, der Überbau sei nur der Entstehung nach basisabhängig, nicht aber in seinem fortdauernden Inhalt. Diese Neubestimmung wurde von der Rechtstheorie allgemein angenommen. Nach diesen Feststellungen stellt der Autor die spezifischen Merkmale des kommunistischen Rechtsbegriffs, wie er die Rechtsauffassung der DDR bestimmte, zusammen. Zunächst: Der kommunistische Rechtsbegriff kennt keinerlei überzeitlichen Maßstab für den Rechtsinhalt. Das Recht ist insgesamt einbezogen in die Gesellschaft und eine bestimmte gesellschaftliche Funktion. Das Recht ist aber nicht lediglich die juristische Form des ökonomischen Inhalts der Gesellschaft, sondern es ist selbst gestaltendes Element. Daraus folgt, dass das Recht seinem Wesen nach Mittel und Moment der Politik ist. Aber es ist nicht der individuellen Willkür preisgegeben, sondern es ist rückgebunden an die kommunistische Ideologie. Das Recht ist ferner in hohem Maße materiales Recht. Formale Elemente (Bindung an im Voraus festliegende Formen und rechtlich geordnete Verfahren) fehlen dem Recht zwar nicht völlig, aber sie dürfen keine Hindernisse für die jederzeitige und volle Verwirklichung der materialen gesellschaftlichen Inhalte des Rechts werden. Daraus folgt das Fehlen von Beständigkeit, Dauer, Gewissheit und Vorhersehbarkeit für das sozialistische Recht. Folge war eine Diskussion über das Verhältnis von Recht und Gesetz in der DDR. Ergebnis dieser Diskussion war, dass das Recht sich fortwährend verändern und an die erreichte gesellschaftliche Entwicklung und deren von der Partei festgestellte Entwicklungslage angleichen muss. Das Gesetz mit seinem Anspruch auf Dauergeltung ist demgegenüber eine starre Fixierung. Aber als solche starre Fixierung kann es nicht mehr gelten. Es ist ein Rahmen und offen für das Einfließen wechselnder ideologischer Inhalte. Dies erfolgt unter dem Deckmantel der Interpretation. Dem Recht sind somit keine Grenzen gesetzt.  

Anschließend legt Böckenförde die Folgen der dargelegten Rechtsauffassung und dieses Rechtsbegriffs an drei Beispielen dar: Grundrechte, Wahlen und Aufgabe der Rechtspflege. Grundrechte wurden in der DDR nicht als bürgerliche Rechte abgelehnt. Sie wurden aufgenommen und anerkannt. Aber sie erhielten eine neue Sinn- und Inhaltsbestimmung. Nicht mehr der normative Inhalt der einzelnen Grundrechte bestimmte das Grundverhältnis von Bürger und Staat, sondern umgekehrt bestimmt das neue Grundverhältnis von Bürger und Staat den normativen Inhalt der Grundrechte. Die Grundrechte sind demnach nicht mehr individuelle Freiheitsrechte gegenüber dem Staat und bestimmten gesellschaftlichen Entwicklungen, sondern Mitwirkungs-, Beteiligungs- und Anteilsrechte. Insofern sind die sozialistischen Grundrechte als Mitwirkungs- und Gestaltungsrechte einbezogen in die sozialistische Gesellschaft. Sie werden Wegbereiter zur vollen Einbeziehung des Einzelnen in die Gesellschaft und die sozialistische Entwicklung. Sie garantieren keine Freiheit vom Staat, sondern sie gewähren die sozialistische Freiheit zur Gesellschaft innerhalb des Sozialismus und der sozialistischen Ordnung. Dieser Freiheitsbegriff enthält demnach neben den Grundrechten auch Grundpflichten. Böckenförde weist daraufhin, dass es falsch wäre, der kommunistischen Rechtspraxis und Rechtslehre einen logischen Widerspruch oder eine dialektische Rechtsverdrehung vorzuwerfen. Denn der Umschlag bürgerlicher Freiheitsrechte in sozialistische Mitwirkungsrechte bei Kontinuität ihres Wortlauts entspreche genau dem kommunistischen Rechtsbegriff.

Auch bei den sozialistischen Wahlen besteht ein Bedeutungsunterschied zu den Wahlen in der BRD, der sich aus den weltanschaulichen Prämissen des Marxismus-Leninismus und der von daher bestimmten Ideologie ergibt. Da das Gegensatzdenken zwischen Individuum und Gemeinschaft in einer sozialistischen Gesellschaft überwunden ist, nehmen die Wahlen einen aktiv gestaltenden Charakter im Hinblick auf die objektive Fortentwicklung der Gesellschaft an. Der Vorgang der Wahlen bedeutet eine Aktivierung oder Inpflichtnahme der von der Partei festgelegten politischen und gesellschaftlichen Aufbauziele. Der Wahl voraus geht eine Wahlbewegung, in der die Bevölkerung von der produktiven Tätigkeit der staatlichen Organe überzeugt und zu verstärkter Aktivität angeleitet wird. In diesem Prozess kann auch Kritik angebracht und können Verbesserungen vorgeschlagen werden. Ferner findet im Rahmen dieses Prozesses die Kandidatenaufstellung und Kandidatenauswahl statt, wobei die SED als Partei der Arbeiterklasse gegenüber den anderen Parteien und Massenorganisationen die Zügel fest in der Hand hat. Böckenförde schildert die einzelnen Stufen des Auswahl- und Vorschlagverfahrens und veranschaulicht sie durch zwei Beispiele aus der DDR-Presse. Der Wahlakt ist dann der Abschluss dieses Prozesses. Da es keine Auswahl zwischen verschiedenen Programmen oder Parteien gibt („Einheitsliste“), hat er die Form der Akklamation.

Auch die Stellung der Rechtspflege ist im kommunistischen Staat grundsätzlich verschieden von der in der BRD. Hier erfolgt eine objektive Rechtswahrung und Rechtsanwendung durch unabhängige Richter, die an das Gesetz gebunden sind. Rechtsanwendung und Rechtsprechung nach kommunistischer Auffassung hingegen sind ein Mittel bewusster politisch-sozialer Gestaltung und Umgestaltung. Demnach wird das Prinzip der Gewaltengliederung abgelehnt. Die Rechtspflege ist vollständig Funktion der einheitlichen sozialistischen Staatsmacht. Verpflichtend für die Gerichte sind die Prinzipien der sozialistischen Gesetzlichkeit und der Parteilichkeit der Rechtsprechung. Böckenförde beschreibt sodann, welche konkreten Aufgaben sich für die verschiedenen Stufen des sozialistischen Umbaus und Aufbaus der Gesellschaft aus dieser allgemeinen Ausrichtung ergaben. Diese Stufen erfassten von 1950 bis 1957 die Errichtung der Volksdemokratie, von 1958 bis 1962 den Übergang von der Volksdemokratie zur sozialistischen Demokratie und seit 1962 den umfassenden Aufbau des Sozialismus. Hierbei geht es auch um die Verlagerung der Rechtspflege auf gesellschaftliche Organe und Instanzen, verstärkt seit 1963: Die Errichtung von Konfliktkommissionen („Betriebsgerichte“) und Schiedskommissionen (als „Nachbarschaftsgerichte“). Zu den Aufgaben dieser Kommissionen gehörten die gegenseitige Erziehung der Werktätigen im Sinne der Gebote sozialistischer Moral, die Anleitung zur Einhaltung des sozialistischen Rechts sowie die Förderung der neuen auf kameradschaftlicher Hilfe und Zusammenarbeit beruhender sozialistischer Beziehungen. Die Wirksamkeit dieser „gesellschaftlichen Gerichtsbarkeit“ dürfe nicht unterschätzt werden, so der Autor, denn die Konfliktkommissionen hätten bereits 1963 84 % aller arbeitsrechtlichen Streitigkeiten entschieden.

Zum Abschluss vergleicht der Autor die kommunistische Rechtsauffassung mit der der BRD. Seine erste Feststellung: Für die kommunistische Rechtsauffassung geht das Recht ganz in seiner politischen Funktion auf, während es nach Auffassung der BRD zugleich auch ein eigenständiges, gegenüber der Politik selbständiges und sie begrenzendes Element aufweist. Zwar ist auch in der BRD das Recht ein Mittel der Politik, aber es ist auch immer ein Mittel, die Politik zu begrenzen. Daneben ist das kommunistische Recht in hohem Maße materiales Recht, während das Recht der BRD wesentlich auch formales Recht ist. Schließlich: Das kommunistische Recht ist in hohem Maße moralisches Recht, während das Recht der BRD in hohem Maße ein neutrales Recht ist.

Nimmt man diese Unterschiede in den Blick, könnte sich die Frage stellen, ob die kommunistische Rechtsauffassung nicht bestimmte Wesensmerkmale verleugnet und das Recht in totaler Weise politisiert, so dass von Recht nicht mehr gesprochen werden kann. Ein solches Urteil – so Böckenförde – wäre vorschnell. Ohne die rechtsphilosophische Frage nach dem Wesen des Rechts im Rahmen seiner Arbeit austragen zu wollen/können, stellt er jedoch fest, dass das Recht als Wirklichkeit der Freiheit nicht von selbst kommt und sich nicht von selbst erhält; es vielmehr des tätigen Wirkens der für die Gestaltung und Handhabung des Rechts Verantwortlichen bedarf. Deshalb ist das Recht auch ein Mittel politisch-sozialer Gestaltung und die politische Funktionalisierung des Rechts ist im Grunde eine fortwährende Gefahr, die sich durch einmalige Festlegungen gar nicht ausschließen lässt.

Zum Abschluss zeigt der Autor ein Beispiel dafür, wie auch die Rechtsauffassung der BRD dieser Gefahr erliegen kann. Es geht um die Frage, inwieweit Einwohner der DDR der bundesrepublikanischen Gerichtsbarkeit und insbesondere der Strafgerichtsbarkeit unterliegen. Konkret geht es um die Verurteilung Angehöriger der Volkspolizei bzw. Volksarmee durch bundesrepublikanische Gerichte wegen der Ausführung des Schießbefehls an der Staatsgrenze der DDR. Dabei geht es Böckenförde nicht darum, wie der Schießbefehl unter humanitären Gesichtspunkten zu beurteilen ist. Insofern hat er eine klare Meinung. Es geht jedoch darum, woher die Gerichte der BRD die Befugnis herleiten, über Einwohner der DDR Strafgerichtsbarkeit auszuüben. Er legt im Einzelnen dar, dass die Argumente, die hierfür angeführt werden, nicht greifen und bringt es dann auf den Punkt: Die BRD verlangt von den Einwohnern der DDR Gehorsam gegenüber der bundesrepublikanischen Rechtsordnung, ohne im geringsten in der Lage zu sein, sie gegenüber dem Herrschaftsanspruch der DDR zu schützen. Das Grundprinzip, das am Anfang des modernen Staates steht und eine Grundbedingung jeder humanen Staatsordnung ist: die wechselseitige Beziehung von Schutz und Gehorsam wird aufgegeben. Begründet wird dies mit der sog. Identitätstheorie, wonach die Gerichtsbarkeit der BRD als die deutsche Gerichtsbarkeit vorausgesetzt wird, die sich auf alle deutschen Staatsangehörigen erstreckt, gleichgültig, ob sie der BRD angehören oder nicht. Diese Theorie hat zur Folge, dass der rechtliche Status der DDR nicht anders als der eines Rebellengebietes erklärt werden kann, das sich widerrechtlich dem Herrschaftsanspruch der BRD entzieht. Böckenförde kommt zu dem Ergebnis, dass dann, wenn die Gegenseitigkeit von Schutz und Gehorsam aufgegeben wird, der Weg für die Umprägung beliebiger Ansprüche in Rechtsgebote offen ist. Die politische Wirklichkeit der Teilung Deutschlands kann verdrängt bzw. als nicht existent behandelt werden. Dies bezeichnet er als die Lebenslüge der BRD.

Zum Schluss: Die schmale Arbeit, die nicht die Aufmerksamkeit erhielt, die ihr zustand, legt den Finger auf die Verfehlungen der BRD in der Politik gegenüber der DDR. Das, was ist, wurde nicht objektiv wahrgenommen. Böckenförde legt demgegenüber die wesentlichen Inhalte der kommunistischen Rechtsauffassung erstmals dar. Dies im Jahre 1967 deutlich zu kritisieren, erforderte Mut, den Böckenförde bereits 1961 bewiesen hatte. Was allerdings wundert ist, dass er die Babelsberger Konferenz von 1958 mit keinem Wort erwähnt. Seine Aussagen hätten eine Leitlinie für den Vereinigungsprozess sein können und müssen, aber sie wurden missachtet. Die BRD behandelte die DDR in diesem Prozess nicht nur wie eine Kolonie, sondern gab von höchster Stelle aus an, die DDR zu delegitimieren. Das ist das Gegenteil von dem zu fragen, was ist. Hier schließt sich der Kreis von 1967 zur Vereinigung. Und es wird ein Versäumnis deutlich, das bis heute fort gilt. Ernst-Wolfgang Böckenförde hält uns den Spiegel immer wieder vor.

Anmerkungen:

1. Wiederabdruck in: „Kirchlicher Auftrag und politische Entscheidung“, 1973, S. 30ff.

2. S. „Der deutsche Katholizismus 1933. Stellungnahme zu einer Diskussion“, Hochland 54 (1962), S. 217Ff sowie in: „Kirchlicher Auftrag“, a.a.O., S. 66ff.

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