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Größte Hürde im »Kampf gegen den Terror« wird umgangen

Grundrechte-Report 2007, Seiten 108 – 111

Seit den 1990er Jahren und insbesondere nach dem 11. September 2001 hat der Gesetzgeber die Befugnisse von Polizei und Geheimdiensten zur heimlichen Überwachung massiv ausgeweitet. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) sah sich daraufhin veranlasst, in mehreren Entscheidungen die diesbezüglichen verfassungsrechtlichen Vorgaben deutlich zu machen. Eine nicht zu überschreitende Grenze hat das Gericht zunächst in seiner Entscheidung zum »Großen Lauschangriff« (NJW 2004, S. 999 ff.) herausgearbeitet. Danach schützt Artikel 1 Absatz 1 GG den »Kernbereich privater Lebensgestaltung« absolut, sodass hier jeder Eingriff verboten ist. In ihrer Entscheidung zur präventiven Telekommunikationsüberwachung (NJW 2005, S. 2603 ff.) haben die obersten Richter sodann auch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und das Bestimmtheitsgebot betont.

Zwar betreffen die Urteile unmittelbar nur die in dem jeweiligen Verfahren angegriffenen Gesetze. Ihre Wirkung geht jedoch weit darüber hinaus. Denn die Entscheidungen legen die Grundrechte aus und konkretisieren den Schutzgehalt, den die Verfassung allgemein im Bereich heimlicher staatlicher Überwachung vermittelt. Damit gehen sie einen Maßstab vor, der von Gesetzgebung und Praxis stets zu beachten ist – bei der Strafverfolgung wie auch bei den präventiv ausgerichteten Regelungen der Polizeigesetze. Konkret ergeben sich hieraus vor allem drei Vorgaben: Erstens müssen die Länder mangels Gesetzgebungskompetenz die »Strafverfolgungsvorsorge« als Aufgabe aus den Polizeigesetzen entfernen. Zweitens muss bei allen Überwachungsmaßnahmen, die in Grundrechte mit einem engen Bezug zur Menschenwürde eingreifen, der absolute Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung sichergestellt werden. Drittens sind bei Maßnahmen im Vorfeld eines Verdachts oder einer konkreten Gefahr ganz besondere Anforderungen an Bestimmtheit und Verhältnismäßigkeit zu beachten: Je früher ein Eingriff erfolgt, umso bestimmter muss die gesetzlicher Regelung und umso gewichtiger müssen die Gründe hierfür sein.

Mangelnder Vollzug und Umgehungen

Die Erwartung, dass sich der Gesetzgeber sozusagen »von Amts wegen« an diese vom BVerfG konkretisierten verfassungsrechtlichen Grenzen staatlicher Eingriffe hält, anstatt dass sie für jede einzelne gesetzliche Regelung gerichtlich durchgesetzt werden müssen, scheint indes zu hoch gegriffen. Weder ist fast zwei bzw. drei Jahre nach den Urteilen die Strafverfolgungsvorsorge aus allen Landespolizeigesetzen gestrichen worden, noch sind dort immer die Anforderungen an Verhältnismäßigkeit und Bestimmtheit gewahrt bzw. finden sich ausreichende Bestimmungen zum Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung. Dabei wäre gerade hinsichtlich letzterem eine allgemeine, für alle heimlichen Überwachungsmaßnahmen geltende Regelung in den Gesetzen zu wünschen.

Diese Mängel sind nicht allein bei Gesetzen zu beobachten, die bereits vor den in Rede stehenden Urteilen in Kraft getreten sind, sondern auch für solche aus dem Berichtszeitraum. So sieht beispielsweise das noch 2006 geänderte Polizeigesetz von Mecklenburg-Vorpommern weiterhin die Strafverfolgungsvorsorge als präventiv-polizeiliche Aufgabe vor. Das hessische Polizeigesetz vorn Januar 2005 lässt es darüber hinaus auch an hinreichenden Regelungen zum Schutz des Kernbereichs fehlen. Dem 2006 eingebrachten Gesetzentwurf für eine Änderung des schleswig-holsteinischen Polizeirechts zufolge soll die Telekommunikationsüberwachung im Vorfeld konkreter Gefahren einsetzbar sein, ohne dass dies ausreichend klar auf besondere, schwerwiegende Ausnahmefälle begrenzt wäre. Darüber hinaus wird auch der Kernbereichsschutz nicht hinreichend sichergestellt, da er nicht alle Maßnahmen erfasst und teilweise erst zu spät eingreift. Ähnliches gilt für den im September 2006 vom brandenburgischen Kabinett beschlossenen Gesetzentwurf für ein neues Polizeigesetz. Hier ist zwar die Strafverfolgungsvorsorge gestrichen. Dafür sieht der Entwurf ebenfalls eine kaum hinreichend bestimmte und begrenzte Telekommunikationsüberwachung im Vorfeldbereich vor.

Indes wären möglichst konkrete gesetzliche Umsetzungen der verfassungsrechtlichen Vorgaben auch über das absolut notwendige Maß hinaus umso wichtiger, als die Bindungswirkung von Urteilen des BVerfG in der Praxis der Sicherheitsinstitutionen noch geringer ist als auf Seiten des Gesetzgebers. So werden zwar die Festlegungen hinsichtlich des Kernbereichsschutzes beim ”Großen Lauschangriff« in der polizeilichen Praxis offenbar beachtet. Dass dieser Schutz aber etwa auch hei der Telekommunikationsüberwachung relevant ist, hat sich bei den Dienststellen nicht wirklich herumgesprochen. Noch problematischer stellen sich die Begrenzungen durch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit dar, der in der Praxis angesichts der wenig festen Kriterien vergleichsweise breite Bewertungsspielräume eröffnet.

Politik versus Rechtsstaat

Die damit beschriebene mangelnde Umsetzung der verfassungsrechtlichen Vorgaben im Bereich heimlicher Überwachung verstößt gegen Artikel 20 Absatz 3 GG, der den Gesetzgeber an die Verfassung und die Exekutive an das Gesetz bindet. Diese Missachtung kann nur bedingt auf Überlastungen des Gesetzgebers zurückgeführt werden. Vielmehr lässt sich hier eine grundsätzliche politische Auseinandersetzung um die Zukunft des Rechtsstaats beobachten. Während Bürgerrechtsorganisationen, liberale Öffentlichkeit und immer wieder auch das BVerfG dessen Grundsätze betonen, stellen auf der anderen Seite wesentliche Teile der Politik die Effektivität von Strafverfolgung und Gefahrenabwehr in den Mittelpunkt. Zu diesem Zweck wird versucht, die vom BVerfG belassenen rechtlichen Spielräume möglichst umfassend zu nutzen. Wenn es notwendig erscheint, werden die gemachten Vorgaben mitunter aber auch umgangen.

Eine solche Politik kann sich auf die Unterstützung durch einen erheblichen Teil der Allgemeinheit sowie durch verschiedene Medien verlassen. Der Spiegel schrieb dem BVerfG gar vorwurfsvoll zu, die »größten Hürden im Kampf gegen den Terror« errichtet zu haben (Heft 35/2006, »Angriff auf Karlsruhe«). Und übersah dabei offenbar, dass nicht das Gericht, sondern die Grundrechte und die Verfassung die Grenzen ziehen. Unabhängig von der Frage, in welchem Maße das Gericht diesem öffentlichen Druck langfristig standhalten kann, ist infolge dieser Auseinandersetzung bereits heute ein erschreckender inhaltlicher Wandel im Verständnis des Rechtsstaates zu beobachten, der auch vor den Grundrechten nicht halt macht.

Literatur

Fredrik Roggan (Hg.), Lauschen im Rechtsstaat. Zu den Konsequenzen des Urteils des Bundesverfassungsgerichts zum großen Lauschangriff, Berliner Wissenschafts-Verlag, 2004

Martin Kutscha, Unerwünschte Hausaufgaben — Die Gesetzgeber ignorieren die Vorgaben aus Karlsruhe, in: Bürgerrechte & Polizei/CILIP 82, 3/2005, S. 16 ff.

Jens Puschke/Tobias Singelnstein, Verfassungsrechtliche Vorgaben für heimliche Informationsbeschaffungsmaßnahmen, in: Neue Juristische Wochenschrift (NJW) 2005, S. 3534 ff.

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