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Hartz IV: Gefühlter Missbrauch und reale Einschnitte

Grundrechte-Report 2007, Seiten 129 – 133

Gesetzgebung im Hamsterrad: Zum 1. April 2006 und zum 1. August 2006 sind nach vielen punktuellen Änderungen bereits die zweite und dritte größere Novelle zum Zweiten Buch des Sozialgesetzbuches (SGB II) in Kraft getreten, das die Grundsicherung für Arbeitsuchende (Arbeitslosengeld II) regelt. Die euphemistisch als »Fortentwicklung« titulierten Änderungen verkleinern den Kreis der Leistungsberechtigten und vergrößern die Zahl derer, die für die Existenzsicherung anderer herangezogen werden, bevor der Sozialstaat eintritt. Zur Rechtfertigung der Einschnitte wird ein aus der Asylrechtsdebatte bekanntes argumentatives Schnittmuster herangezogen: Der »Missbrauch« von Leistungsrechten erfordere die Beschränkung eben derselben – ohne dass belastbare Daten zum Umfang des betrugsmäßigen Leistungsbezuges vorliegen. Nur ein Bruchteil der Neuregelungen verbessert die Überprüfung der Leistungsvoraussetzungen. Deingegenüber hat der »gefühlte Missbrauch« von Leistungen bei Parlament und Regierung zu Regelungen geführt, die für eine Vielzahl von ernsthaft Hilfebedürftigen sehr reale Einschnitte bei der Sicherung des Existenzminimums bedeuten. In einigen Fällen verstoßen diese Neuerungen gegen den Gleichheitssatz (Artikel 3 GG), das europarechtliche Diskriminierungsverbot sowie den Schutz von Ehe und Familie (Artikel 6 GG).

Diskri­mi­nierte Unions­bürger

Europarechtswidrig dürfte der neue Leistungsausschluss von Ausländern sein, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt (§ 7 Absatz 1 Satz 2 SGB II), soweit Unionsbürger betroffen sind, die ihren Aufenthalt in Deutschland legal begründet haben. Zwar wird die Regelung mit einer ausdrücklichen Ermächtigung in der sog. Unionsbürgerrichtlinie 2004/38/EG gerechtfertigt, indes bestehen erhebliche Zweifel, ob der Ausschluss mit dem Verbot der Diskriminierung von Unionsbürgern im höherrangigen EG-Vertrag (Artikel 12 und 18 EGV) vereinbar ist. Ungeachtet der Vereinbarkeit der Richtlinie mit Artikel 12 und 18 EGV müssen die nationalen Vorschriften, mit denen von der genannten Öffnungsklausel in der Richtlinie Gebrauch gemacht wird, selbstverständlich ihrerseits dem EG-Vertrag genügen. Hierzu hat sich der EuGH in der sog. Collins-Entscheidung (Rs. C-138/02) deutlich geäußert: Vom Anwendungsbereich des Diskriminierungsverbots ist eine finanzielle Leistung nicht ausgenommen, die den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern soll. Unzulässig ist es nach einer Reihe anderer EuGH-Entscheidungen, den Zugang zu sozialhilfeartigen Leistungen bei Unionsbürgern von anderen Voraussetzungen abhängig zu machen als bei Inländern, wenn die Unionsbürger ihren Aufenthalt im Mitgliedstaat legal begründet haben (z.B. Rs. C-184/99 – Grzelczyk).

Willkür­liche Verpflich­tungen zur Existenz­si­che­rung anderer?

Das Einkommen von Stiefelternteilen oder »Stiefpartnern« wurde bislang nicht auf den Bedarf der nicht-leiblichen Kinder in der Bedarfsgemeinschaft angerechnet. Überzeugend wurde diese Auslegung von der obergerichtlichen Rechtsprechung mit der Vermeidung von Wertungswidersprüchen zwischen Sozialrecht und Unterhaltsrecht begründet. Diese Widersprüche sind nunmehr gewollt: Nach der Neufassung des § 9 Absatz 2 Satz 2 SGB II ist bei Kindern das Einkommen des mit ihnen in Bedarfsgemeinschaft lebenden Stiefelternteils oder Partners des Elternteils voll zu berücksichtigen. Hinzu kommt, dass seit 1. Juli 2006 bis zu 25-jährige Kinder, die im Haushalt leben, im Falle der Bedürftigkeit auch Teil der Bedarfsgemeinschaft sind. Dies kann z. B. dazu führen, dass der vollzeitberufstätige Freund der Mutter eines 22-jährigen ledigen Arbeitslosen mit abgeschlossener Berufsausbildung durch die Einkommensanrechnung in die Hilfebedürftigkeit gedrückt wird, während der leibliche Vater Millionär sein kann, ohne Unterhaltsansprüchen ausgesetzt zu sein. Diese Ungleichbehandlung ist wohl kaum zu rechtfertigen, zumal in der Sozialhilfe (SGB XII) der Einkommenseinsatz abweichend geregelt ist. Wenn z. B. Stiefvater und Mutter verheiratet sind, ist darüber hinaus zweifelhaft, wie dies mit dem Schutzauftrag für Ehe und Familie (Artikel 6 GG) zu vereinbaren ist.

Teil einer solchen Bedarfsgemeinschaft wird man schneller als man denkt: Die schon länger diskutierte Beweislastumkehr bei eheähnlichen Lebensgemeinschaften (vgl. Udo Geiger im Grundrechte-Report 2006, S. 153) ist nun in Gestalt einer Vermutungsregelung Gesetz geworden (§ 7 Absatz 3a SGB II). So soll unter anderem ein einjähriges Zusammenleben schon ausreichen, um eine eheähnliche Lebensgemeinschaft zu vermuten. Die Betroffenen müssen dann beweisen, dass eine solche nicht vorliegt. Die Gerichte werden hier bei den Anforderungen an das Beweismaß im Einzelfall »nachjustieren« müssen, um der Schwierigkeit des Beweises einer negativen Tatsache Rechnung zu tragen und willkürliche Ergebnisse zu vermeiden. Aus verfassungsrechtlicher Sicht kann zudem nicht beliebig geregelt werden, wer für wen einstehen muss. Schließlich wurde die eheähnliche Lebensgemeinschaft als Rechtsfigur einmal »erfunden«, um Artikel 6 GG Rechnung zu tragen und in engen Grenzen eine wirklich vorhandene »Eheähnlichkeit« mit der Ehe gleich zu behandeln; daneben wirkt auch bei der gesetzlichen Ausgestaltung von Bedarfsgemeinschaften das Willkürverbot (Artikel 3 GG) als Grenze.

Verschär­fung der Sanktionen: Anspruch und Wirklich­keit von Einglie­de­rungs­ver­ein­ba­rungen

Zum 1. August 2006 wurden auch die Möglichkeiten der Behörde erweitert, Pflichtverstöße durch Leistungskürzungen zu sanktionieren (§ 31 SGB II). Derartige Sanktionen spielten bislang aus Sicht des sozialgerichtlichen Alltags eine untergeordnete Rolle. Ob dies seinen Grund darin hat, dass es schlicht wenig Verstöße durch die Hilfebedürftigen gibt, sie nicht dagegen klagen oder ob bislang die Verwaltung überfordert war, Verstöße aufzuklären und zu sanktionieren, kann hier nicht beantwortet werden. Bei der Sanktionierung von Verstößen gegen die Eingliederungsvereinbarung, in der die Maßnahmen zur Eingliederung in Arbeit individuell geregelt werden sollen, fällt aber bereits jetzt auf, dass bei der Verwaltung Anspruch und Wirklichkeit zuweilen auseinander fallen: Mal sind die Vereinbarungen so verständlich wie die Allgemeinen Geschäftsbedingungen eines Kamelhaardeckenverkäufers, mal enthalten sie Rechtswidriges. So prellt z.B. ein SGB II-Leistungsträger die Hilfebedürftigen um einen Monat Arbeitslosengeld II, indem in der Eingliederungsvereinbarung die Auszahlung des Geldes an das Monatsende verschoben wird und später im Falle einer Einkommenserzielung vor einem Monatsende die Leistung für den letzten Monat nicht mehr gezahlt werden soll. Zweifel bestehen auch häufig, ob die Verpflichtung zu einem bestimmten »Ein-Euro-Job« rechtmäßig ist. Solche Angebote dürfen nämlich nur »zusätzlich« zum regulären Arbeitsmarkt angeboten werden. Haushaltsbedingter Personalmangel des Maßnahmeträgers kann die »Zusätzlichkeit« allein nicht begründen und »Ein-Euro-Job-Missbrauch« – vor allem durch die Kommunen – wird beobachtet: Im Maler- und Lackiererhandwerk, aber auch im Gärtnereibereich sollen reguläre Arbeitsplätze tausendfach verdrängt worden sein. Wie hemdsärmelig die Frage behandelt wird, wann ein »Ein-Euro-Job« zusätzlich ist, belegt ein »Monitor«-Beitrag vom 19. Januar 2006. Auf die Frage, was an den Bau- und Recyclingleistungen des »Werkhofes Hagen«, eines kommunalen Unternehmen mit 800 Billigst-Arbeitskräften, denn zusätzlich sei, antwortet der Geschäftsführer: »Daran ist zusätzlich, dass das eine Investition des Werkhofes ist. (…) Wenn der Werkhof sie nicht getätigt hätte, hätte sie nicht stattgefunden.«

Literatur

Arbeitslosenprojekt TuWas (Hg.), Leitfaden zum Arbeitslosengeld II, 3. Aufl., Frankfurt 2006, S. 258 ff.

Frank Schreiber, Die Bedeutung des Gleichbehandlungsanspruchs aus Artikel 12 i. V. m. Artikel 18 EGV für Grundsicherungsleistungen (SGB II und SGB XII), in: ZESAR 2006, S. 428

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