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Judith und Reiner Bernstein - Antise­mi­ten?

Mitteilungen24208/2020Seite 22 - 25

In: Mitteilungen 242 (12/2020), S. 22 – 25

Anmerkungen von Prof. Dr. Johannes Feest, Bremen

Im Januar 2018 wurde dem Ehepaar Judith und Reiner Bernstein der Preis „Aufrechter Gang“ verliehen. Und zwar für ihr jahrelanges Engagement im Nahost-Friedensprozess („Genfer Initiative“) und für den Dialog zwischen Israelis und Palästinensern. Aber auch für den Kampf gegen das Verbot der Stolpersteine in München.

Die Verleihung dieses Preises hat regelmäßig im Kulturzentrum Gasteig stattgefunden, einer GmbH, die zu 100% der Stadtgemeinde München gehört. Diesmal musste sie in einem Kino stattfinden, weil die Stadt den Raum verweigerte. „Tolldreist“ nannte der Laudator die Begründung, wonach die Preisträger Antisemiten seien (HU-Mitteilungen #236). Dass zwei über jeden Antisemitismusverdacht erhabene Personen dennoch so bezeichnet werden können, beruht auf der Erfindung des „israelbezogenen Antisemitismus“ und einem darauf gestützten Stadtratsbeschluss (vgl. Johannes Feest in VORGÄNGE #220, 121 ff). Dagegen läuft eine Klage vor den Verwaltungsgerichten. Es besteht Hoffnung, dass das OVG München diesem Spuk ein Ende macht.

Leider hat es damit nicht sein Bewenden gehabt. In einem seither erschienenen Buch wird Reiner Bernstein als „neu-deutscher Antisemit“ und als „Judenhasser“ bezeichnet (Arye Sharuz Shalicar: Der neu-deutsche Antisemit. Berlin/Leipzig 2018). Man möchte meinen, dass man gegen derart grobe Beleidigungen und üble Nachreden gerichtlichen Rechtsschutz erhalten kann. Nein, sagt die Berliner Justiz, in Gestalt ihrer höchsten Instanz: es handle sich „um zulässige Meinungsäußerungen, die ungeachtet ihrer teilweise scharfen Polemik die Grenze zur Schmähkritik nicht überschreiten“( Kammergericht Berlin, 10. Zivilsenat, 19.05.2020 – 10 W 94/19). Das erinnert an den Fall Renate Künast, wo erst die öffentliche Diskussion die Berliner Justiz dazu brachte, ihre Einschätzung zu ändern. Die öffentliche Diskussion über Reiner Bernsteins angeblichen Antisemitismus hat mit dem hier abgedruckten Offenen Brief gerade erst begonnen.

Offener Brief an Bundeskanzlerin Angela Merkel.

Berlin24.Juli 2020

Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin Merkel,

 mit diesem Schreiben wenden sich besorgte deutsche und israelische Bürgerinnen und Bürger an Sie. Unsere Sorge gilt der drohenden Annexion palästinensischer Gebiete durch Israel sowie dem inflationären, sachlich unbegründeten und gesetzlich unfundierten Gebrauch des Antisemitismus-Begriffs, der auf die Unterdrückung legitimer Kritik an der israelischen Regierungspolitik zielt. Unsere Sorge ist besonders groß da, wo diese Tendenz mit politischer und finanzieller Unterstützung des Antisemitismusbeauftragten gefördert wird. Ein Beispiel, welches menschenverachtende Ausmaß solche Aktivitäten annehmen können, ist die Förderung der Publikation »Der neu-deutsche Antisemit« von Arye Sharuz Shalicar, laut Angaben des Verlags seit 2017 Direktor für Auswärtige Angelegenheiten im Ministerium für Nachrichtendienste im Büro des israelischen Ministerpräsidenten, und dessen anschließende Vortragsreise durch deutsche Städte. In diesem 2018 im Verlag Hentrich &Hentrich erschienenen Buch wird der Historiker und Publizist Dr. Reiner Bernstein als Antisemit geschmäht. Seit Jahrzehnten setzt sich Reiner Bernstein unermüdlich für eine gerechte und gewaltfreie Lösung des Israel-Palästina Konflikts ein, z. B. im Rahmen der Genfer Friedensinitiative(2003). Dass gerade ein sorgfältig differenzierender Historiker auf diese Weise verunglimpft wird, zeigt paradigmatisch die zunehmend auch in Deutschland wirksame Strategie der israelischen Regierung, jegliche Kritik der völkerrechtswidrigen Besatzungs- und Siedlungspolitik als antiisraelisch und antisemitisch zu brandmarken. Reiner Bernsteins Engagement, der, anders als von Shalicar behauptet, kein Jude ist, gründet in seiner historischen Verantwortung als Deutscher. Mit seiner ethischen Haltung steht er darüber hinaus in einer knapp hundertjährigen Tradition der Bemühungen um eine gerechte Lösung für den jüdisch-arabischen bzw. israelisch-palästinensischen Konflikt, wie sie bereits in den 1920er Jahren von Mitgliedern von Brit-Shalom (Friedensbund) entworfen wurde. Zu den Mitgliedern von Brit-Shalom gehörten auch Martin Buber und Gershom S cholem. Die Hoffnung auf Frieden blieb bis zur Ermordung Jitzchak Rabins ein zentrales Anliegen der israelischen Gesellschaft und Politik. Ermordet wurde Rabin von einem Einzeltäter, dessen politische Haltung seither immer wirkungsmächtiger geworden ist und heute wesentliche Züge der israelischen Regierungspolitik zu bestimmen scheint. Wir fragen uns, welchen Kräften im heutigen Israel die Unterstützung der Bundesregierung gilt. Mit der Förderung zweifelhafter Publikationen, deren aggressiv-populistische Machart nicht faktengestützt ist, wird jedenfalls geduldet, dass Stimmen des Friedens und des Dialogs diffamiert und mundtot gemacht werden sollen. Frieden kann nur durch gegenseitigen Respekt erreicht werden. Wo kritischer Dialog notwendiger denn je ist, schafft die missbräuchliche Verwendung des Antisemitismusvorwurfs zunehmend auch in Deutschland eine Stimmung der Brandmarkung, Einschüchterung und Angst. In dieser Atmosphäre wundert es nicht, dass das Berliner Kammergericht Bernsteins Klage gegen seine Verleumdung zurückgewiesen hat. Mit der Unterstützung rechtspopulistischer israelischer Stimmen lenkt der Beauftragte der Bundesregierung gegen Antisemitismus die Aufmerksamkeit von realen antisemitischen Gesinnungen und Ausschreitungen ab, die jüdisches Leben in Deutschland tatsächlich gefährden. Mit der EU-Ratspräsidentschaft und dem Vorsitz im UN-Sicherheitsrat der Vereinten Nationen kommt Deutschland aktuell eine besondere Verantwortung zu. Wesenskern deutscher Staatsraison ist auch und vor allem die Verpflichtung gegenüber den universellen Menschenrechten und dem Völkerrecht. Die Sicherheit Israels kann nur im Einklang mit diesen dauerhaft sein. Wir erwarten, dass die Bundesregierung ihre Verantwortung im Sinn der Friedenskräfte wahrnehmen wird, die immer schon Teil der jüdischen Gemeinschaft waren und sind. Wir erwarten eine entschiedene Bekämpfung des Antisemitismus dort, wo er sich tatsächlich manifestiert. Wir erwarten den konsequenten Schutz der Meinungs- und Versammlungsfreiheit, um im öffentlichen Diskurs kontrovers über die Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts diskutieren zu können. Und Wir erwarten nicht zuletzt eine entschlossene Initiative der Bundesregierung und der Europäischen Union, um die drohende, völkerrechtswidrige Annexion palästinensischer Gebiete durch Israel zu verhindern und der israelischen und der palästinensischen Seite die Rückkehr an den Verhandlungstisch zu ermöglichen. Mit freundlichen Grüßen

Prof. Dr. Katajun Amirpur, Köln; Dr. Gabriele von Arnim, Berlin; Prof. Dr. Dieter Becker, Bielefeld; PD Dr. Johannes M. Becker, Marburg; Katja Behrens, Darmstadt; Prof. Dr. Wolfgang Benz, Berlin; Jörn Böhme, Berlin; Prof. Dr. Lorenz Böllinger, Bremen; Fred Breinersdorfer, Berlin; Prof. Dr. Micha Brumlik, Berlin; Prof. Dr. Jose Brunner, Tel Aviv; Prof. Dr. Naomi Chazan, Jerusalem; Prof. Dr. Johannes Feest, Bremen; Prof. Dr. Rivka Feldhay, Jerusalem; Prof. Dr. Josef Freise, Neuwied; Prof. Dr. Gideon Freudenthal, Jerusalem; Prof. Dr. Efrat Gal-Ed, Köln; Prof. Dr. Amos Goldberg, Jerusalem; Ran HaCohen, Tel Aviv; Dr. Illana Hammerman, Jerusalem; Gert Heidenreich, Seefeld; Christoph Hein, Havelberg; Michal Kaiser-Livne, Berlin; Wolfgang Killinger, Gauting; Dr. Tanja Kinkel, München; Prof. Dr. Menachem Klein, Jerusalem; Dr. Annelen Kranefuss, Köln; Ursula Krechel, Berlin; Michael Krüger, München; Prof. Dr. Karin Kulow, Berlin; Dr. Ulrich Kusche, Göttingen; Andreas Lesser, München; Dr. Meir Margalit, Jerusalem; Prof. Dr. Thomas Metzinger, Mainz; Brian Michaels, Bonn; Edith Müller, Berlin; Sten Nadolny, Berlin; Norbert Niemann, München; Prof. Dr. Fania Oz-Salzberger, Haifa; Rainer Ratmann, Hünstetten; Prof. Dr. Klaus Reichert, Frankfurt; Edgar Reitz, München; Prof. Dr. Luise Reddemann, Köln; Anatol Regnier, München; Prof. Dr. Sebastian Scheerer, Hamburg; Dr. phil. habil. Claudia Schmölders, Berlin; Ingo Schulze, Berlin; Alexandra Senfft, Fuchstal; Prof. Dr. Galili Shahar, Tel Aviv; Volker Skierka, Hamburg; Dr. Tilman Spengler, München; Prof. Klaus Staeck, Heidelberg; Christian Sterzing, Edenkoben; Johano Strasser, Berg (Starnberger See); Barbara Unmüssig, Berlin; Prof. Dr. Rolf Verleger, Lübeck; Prof. Dr. Wilhelm Voßkamp, Köln; Dr. Ofer Waldman, Berlin / Kiryat; TivonHans Well, „Wellbappn“, Türkenfeld; Friedrich Wolf, Köln; Prof. Dr. Moshe Zimmermann, Jerusalem; Rainer Zimmer-Winkel, Berlin; Prof. Dr. Moshe Zuckermann, Tel Aviv; Nachträglich haben unterzeichnet: Prof. Dr. Aleida Assmann, Konstanz; Prof. Dr. Jan Assmann, Konstanz; Prof. Dr. Gert Krell, Hofheim / Ts. (Stand 26. Juli 2020).

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