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Rechtsstaat oder Unrechts­s­taat?*

War die DDR ein Unrechtsstaat? In: vorgänge Nr. 230 (2/2020), S. 29-31

Im Begriff des „Unrechtsstaats“ kreuzten sich nach der Wiedervereinigung ost- und westdeutsche Befindlichkeiten. Entsprechend umkämpft war und ist dieser Begriff. In diese Debatte mischte sich auch der frühere Bundesverfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde ein. Anders als viele andere Diskutanten hat er sich mit der Frage, welche Stellung das Recht in der DDR-Gesellschaft hatte und wie es angemessen zu bewerten sei, schon lange vor der Wiedervereinigung befasst (s. die Rezension seiner Frühschrift „Die Rechtsauffassung im kommunistischen Staat“ in diesem Heft). Wir drucken hier seinen Beitrag zur deutsch-deutschen Unrechtsstaatsdebatte ab, der erstmals am 13. Mai 2015 in der FAZ erschien.

Es ist heute, ein Vierteljahrhundert nach der Wiedervereinigung, eine verbreitete Auffassung, die DDR sei ein Unrechtsstaat gewesen. Damit wird sie in begrifflichen und klanglichen Gegensatz zum Rechtsstaat gesetzt. Sie wird damit prägnant gekennzeichnet und global delegitimiert, während die Kennzeichnung als Rechtsstaat einen Staat prägnant charakterisiert und legitimiert. Aber stimmt dieser Anschein der Prägnanz? Gibt es den Unrechtsstaat DDR als klares Gegenstück zum Rechtsstaat?

Rechtsstaat ist der Staat, der die Bahnen und Grenzen seiner Wirksamkeit und die freie Sphäre seiner Bürger in der Weise des Rechts bestimmt und sichert. Die klassische Definition von Friedrich Julius Stahl aus der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts hat seitdem zwar an Gehalt gewonnen; Merkmale des Rechtsstaats sind nach heutigem Verständnis insbesondere die Verbürgung von Grundrechten, die Garantie der Gewaltenteilung, die Bindung von Verwaltung und Rechtsprechung an Gesetz und Recht und die Unabhängigkeit der Richter. Aber Ausgangs- und Kernpunkt des Rechtsstaats bleibt, dass sich alles staatliche Handeln in der Weise des Rechts vollzieht.

Erst Freiheit, dann Gerech­tig­keit

Damit ist der Rechtsstaat nicht ein Gerechtigkeitsstaat. Die berühmt gewordene Bemerkung der Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley, die im Namen derjenigen, die das SED-Regime gestürzt haben, nach der Wiedervereinigung sagte: „Wir haben Gerechtigkeit gewollt, aber den Rechtsstaat bekommen“, ist der enttäuschte Ausdruck dieser Wahrheit. Warum? Die Grenzen, die der Rechtsstaat dem staatlichen Handeln setzt, zielen primär auf Freiheitssicherung und erst in diesem Rahmen auf Verwirklichung von Gerechtigkeit. Manchmal wird im Rechtsstaat die Gerechtigkeit hintangesetzt, weil Rechtssicherheit als Grundlage für die Gestaltung der Zukunft wichtiger erscheint. Der Rechtsstaat kann Gerechtigkeit nicht umfassend gewährleisten, aber er strebt sie an.

Es gibt Staaten, die der Freiheitssicherung und dem Streben nach Gerechtigkeit nicht so nachdrücklich verpflichtet sind, wie der Rechtsstaat es ist. Ohne Grundrechte, Gewaltenteilung und unabhängige Richter hatten Recht und Gerechtigkeit in der DDR von vornherein einen schwachen Stand. Wieder und wieder gab es Unrecht, wieder und wieder Ungerechtigkeit – an der deutsch-deutschen Grenze, in der Justiz, bei der Unterdrückung freien Ausdrucks, bei der Verweigerung des Zugangs zu Schulen und Universitäten, bei der Bespitzelung und Zerstörung privaten Lebens. Die Fälle sind Legion. Die DDR wird nicht richtig wahrgenommen, wenn dieses vielfache Unrecht, diese vielfache Freiheitsverletzung und Ungerechtigkeit nicht in ihrem ganzen Gewicht anerkannt werden.

Verzerrung der Wirklich­keit

Aber war die DDR darum ein Unrechtsstaat? Ein Staat, in dem sich alles staatliche Handeln statt in der Weise des Rechts in der Weise des Unrechts vollzog, der die Ungerechtigkeit sogar anstrebte? Das entspräche dem begrifflichen und klanglichen Gegensatz zum Rechtsstaat. Aber hier gilt es zu differenzieren. Auch die DDR hat nicht darauf verzichtet, in vielen Bereichen in der Weise des Rechts zu handeln und für ihre Bürger und Bürgerinnen Gerechtigkeit anzustreben. Entsprechend haben die ostdeutschen Bürger und Bürgerinnen in vielen Bereichen ein Leben in rechtlich-ethischer Normalität geführt, in Achtung und Befolgung bestehenden Rechts und getragen von einem darauf bezogenen Ethos. Dies gehört ebenso zur Wirklichkeit der DDR wie das vielfache Unrecht, die vielfache Ungerechtigkeit.

Die globale Kennzeichnung der DDR als Unrechtsstaat schießt deshalb über die Anerkennung von Unrecht und Freiheitsverletzung, die es in der DDR vielfach gab, weit hinaus. Sie will umfassend delegitimieren und desavouieren. Sie lässt der Normalität, die es vielfach gab, keinen Eigenstand. Sie ist eine Verzerrung der Wirklichkeit in politischer Absicht. Vielleicht sogar in guter Absicht – das Zerrbild des Unrechtsstaates mag gegen eine ihrerseits verzerrende DDR-Nostalgie gerichtet sein. Aber indem der ideologische Schlagabtausch des Kalten Krieges fortgeführt wird, wird der DDR-Nostalgie nicht entgegengewirkt, sondern sie wird provoziert und verstärkt. Die globale Kennzeichnung der DDR als Unrechtsstaat ist nicht nur falsch, sie kränkt auch die Bürger und Bürgerinnen der ehemaligen DDR. Seit der Wiedervereinigung vor fünfundzwanzig Jahren wächst zusammen, was zusammengehört. Zum Zusammenwachsen gehört die sorgfältige, differenzierte und unideologische Wahrnehmung der anderen, ihrer Vergangenheit, ihrer Prägung. Die globale Abqualifizierung der DDR als Unrechtsstaat hilft dabei nicht weiter.

 

ERNST-WOLFGANG BÖCKENFÖRDE   geboren 1930, war von 1983 bis 1996 Richter am Bundesverfassungsgericht. Er ist einer der namhaftesten deutschen Juristen. 2012 sprach ihm die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung den Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa zu.

 

* Der Text erschien unter dem Titel „Rechtsstaat oder Unrechtsstaat?“ von Ernst-Wolfgang Böckenförde in der F.A.Z. vom 12.05.2015. © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv.

 

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