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Späte Erkenntnis: Brech­mit­te­le­in­sätze sind menschen­rechts­widrig

Grundrechte-Report 2007, Seiten 31 – 34

Im Juli 2006 verurteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) die Bundesrepublik Deutschland (Urteil v. 11. 7. 2006, 54810/00). Er stellte fest, was die Mehrheit der deutschen Gerichte nicht anzuerkennen bereit war: Die zwangsweise Verabreichung von Brechmitteln verstößt als unmenschliche und erniedrigende Behandlung gegen Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK).

Der Entscheidung lag ein Fall aus dem Jahr 1993 zugrunde. Damals beobachteten vier Polizisten den Kläger, Abu B. Jalloh, beim Verkauf zweier Päckchen Kokain. Als sie ihn festnehmen wollten, verschluckte er ein drittes Päckchen, das er im Mund versteckt gehalten hatte. Die Beamten brachten ihn in ein Krankenhaus, wo sie ihn aufforderten, ein Brechmittel einzunehmen. Als er sich weigerte, fixierten sie ihn zu viert. So konnte ein Arzt zwangsweise einen Schlauch über die Nase in den Magen einführen, uni ihm zusammen mit einer Salzlösung zwei verschiedene Brechmittel nacheinander zu verabreichen. Anschließend blieb er fixiert, bis er sich erbrach. Im Erbrochenen wurde ein Päckchen mit 0,2182g Kokain gefunden.

Unbewiesen blieb seine Behauptung, er habe über drei Tage nur Suppe essen können und unter mehrfachem Nasenbluten sowie langfristigen Magenirritationen gelitten. Auch blieb strittig, ob er vorher im Rahmen einer Anamnese über seinen Gesundheitszustand befragt worden war. Selbst wenn dies der Fall war – unstrittig ist, dass er kein Deutsch und nur gebrochen Englisch sprach.

Erniedrigt und unmenschlich behandelt, fällt es schwer, dem Kläger Glück im staatlich verordneten Unglück zu bescheinigen. Zumindest aber blieb ihm erspart, was zwei andere Opfer der zwangsweisen Brechmittelvergabe ereilte – der Tod. Nachdem die umstrittene Praxis 1993 von Berlin, Bremen, Hamburg, Hessen und Niedersachen aufgenommen worden war, forderte sie 2001 ein erstes Todesopfer in Hamburg. Ende 2004 folgte ein zweites in Bremen. Im ersten Fall erlag das Opfer einem Herzstillstand, im zweiten wurde Tod durch Ertrinken als Folge der Magenspülung diagnostiziert.

EGMR: Unmensch­lich und ernied­ri­gend

Der EGMR bezieht sich auf Grundsätze, die er in langjähriger Rechtsprechung entwickelt hat. Eine Verletzung von Artikel 3 EMRK fordert eine gewisse Intensität. Dabei kann wichtig sein, wie sich die Maßnahme körperlich und psychisch auswirkt. Löst sie Gefühle der Angst, Qual und Unterlegenheit aus? Ist sie geeignet, den Betroffenen zu erniedrigen herabzusetzen und seinen Widerstand zu brechen? Soll er bewogen werden, gegen seinen Willen zu handeln?

Daneben trägt der Gerichtshof seine bisherige Rechtsprechung zu medizinischen Eingriffen zusammen, die Ermittlungszielen dienen. Hier setzt er besonders hohe Maßstäbe. Und noch einmal höhere, wenn Beweise aus dem Körper entnommen werden: Das Verfahren dürfe keinerlei Risiko eines Gesundheitsschadens beinhalten und weder zu schweren Schmerzen noch zu einer Verschlechterung des Gesundheitszustandes führen. Insbesondere müsse mit strengster Genauigkeit geprüft werden, ob der Beweis mit anderen Mitteln erlangt werden kann.

Strengste Genauigkeit also – deutsche Behörden und Gerichte zogen jedoch die Strenge der Genauigkeit vor. Also oblag es dem EGMR, ihnen die Prüfung abzunehmen und ein Ergebnis zu formulieren, das kaum eindeutiger hätte ausfallen können.

Einleitend betont er, dass man auf die natürliche Ausscheidung der Päckchen hätte warten können. Stattdessen wurde eine Methode gewählt, die der EGMR als »Zwang am Rande der Brutalität« bezeichnet: Bereits als der Schlauch zwangsweise eingeführt worden sei, müsse der Betroffene Angst und Schmerz erlitten haben. Anschließend müsse er, fixiert und beaufsichtigt von vier Polizisten und einem Arzt, seelisch darunter gelitten haben, auf die Wirkung des Brechmittels zu warten, um abschließend die erniedrigende Erfahrung zu machen, unter diesen Umständen zu erbrechen.

Den Einwand, der Kläger habe keine Gesundheitsschäden beweisen können, lässt der Gerichtshof nicht gelten. Ihm reicht, dass ein Risiko bestanden hat. Das gelte erst recht, weil eine Anamnese vorher nicht stattgefunden haben könne – die Weigerung des Betroffenen und seine schlechten Sprachkenntnisse ließen den Schluss zu, dass er potenzielle Fragen weder beantworten konnte noch wollte. Auch dass sich Mediziner über die Risiken des Eingriffs streiten, interessiert den Gerichtshof nicht. Stattdessen zieht er den einzigen Schluss, den die bisherige Bilanz zulässt: Zwei Tote sind genug, um ein Gesundheitsrisiko zu bejahen.

Zuletzt prüft der Gerichtshof eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren gern. Artikel 6 EMRK. Er sieht es zweifach verletzt: Zum einen sei der Prozess unfair, wenn das entscheidende Beweismittel unter Verstoß gegen Artikel 3 EMRK gewonnen worden sei. Zum anderen sei die Selbstbelastungsfreiheit verletzt.

Deutsche Praxis: Dreifache Ignoranz

In Deutschland fiel die Beurteilung weniger klar aus. Das BVerfG wies den Fall aus Zulässigkeitsgründen ab. Von den Instanzgerichten beurteilte allein das OLG Frankfurt a. M. die Praxis als rechtswidrig. Die Mehrzahl der Gerichte sah sie nach § 81 a Absatz 1 Strafprozessordnung (StPO) als gerechtfertigt an. Das war eine beachtliche Leistung, galt es doch, sich gleich dreifach ignorant zu zeigen: Gegenüber den Vorgaben des einfachen Rechts, des Verfassungsrechts und des Völkerrechts.

§ 81 a Absatz 1 StPO wäre einschlägig, wenn Gesundheitsgefahren mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen wären. Dies zu bejahen, war spätestens seit dem ersten Todesfall nicht mehr nachvollziehbar.

Verfassungsrechtlich ist die Maßnahme nicht erforderlich. Sie wäre es, wenn es kein ebenso geeignetes, milderes Mittel gäbe. Kritiker verwiesen stets darauf, dass man den natürlichen Ausscheidungsvorgang abwarten könne. Sie ist auch nicht angemessen. Sie wäre es, wenn der Eingriff nicht außer Verhältnis zum verfolgten Ziel stünde. Hier aber wurde mit größter Intensität gegen Kleindealer vorgegangen, um kleinste Mengen von Drogen sicherzustellen. Zuletzt bliebe die Menschenwürde zu diskutieren. Verdächtige wurden auf willenlos brechende Bündel von Muskelkontraktionen reduziert, um einen Beitrag zur eigenen Strafverfolgung zu leisten.

Völkerrechtlich ist bemerkenswert, dass der EGMR weitgehend anhand bestehender Rechtsprechungsgrundsätze entschieden hat. Deutsche Gerichte müssen verfassungsrechtliche Normen völkerrechtskonform auslegen. Sie hätten daher bei der Grundrechtsauslegung die EMRK und die bisherige Recht sprechung des EGMR berücksichtigen müssen. Während jedoch den einfachgesetzlichen und verfassungsrechtlichen Bedenken mit Argumenten begegnet wurde, schweigen die Urteile zur EMRK. Der Blick über den nationalen Tellerrand aber hätte die deutsche Praxis endgültig unhaltbar gemacht.

Rechtlich unhaltbar, lässt sich das Beharren auf einer menschenrechtswidrigen Praxis allein mit dem politischen Interesse an kompromissloser Strafverfolgung und der Instrumentalisierung von Ermittlungsmaßnahmen zur Abschreckung erklären. Gut, dass dem ein Ende gesetzt wurde – schlecht, dass der dritte Todesfall ohne das Machtwort aus Straßburg mit Billigung deutscher Gerichte nur eine Frage der Zeit gewesen wäre.

Literatur

ECHR, Judgment of 11 July 2006, Case of Jalloh v. Germany (Application no. 54810/00)

Gaede, Karsten, Deutscher Brechmitteleinsatz menschenrechtswidrig: Begründungsgang und Konsequenzen der Grundsatzentscheidung des EGMR im Fall Jalloh, in: HRRS 2006, S. 241-249

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