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Staatliches Vorgehen gegen Hate Speech im Konflikt mit der Meinungs­frei­heit*

in: vorgänge Nr. 225/226 (1-2/2019), S. 135-139

Jüngste  Verfahren beim Bundes­ver­fas­sungs­ge­richt und US-ame­ri­ka­ni­sche Perspek­tiven

Der Bedeutungsgewinn populistischer Parteien und Gruppierungen sowie neue technische Möglichkeiten für die Verbreitung rassistischer, diskriminierender oder hasserfüllter Positionen im Internet haben in vielen Ländern neue Fragen zum Spannungsfeld zwischen erlaubten Meinungsäußerungen und staatlichen Verboten aufgeworfen.[2] Debatten, die früher an Stammtischen geführt wurden, haben sich heute in Social Media-Plattformen wie Facebook oder die Leser*innen-Kommentare mehr oder minder seriöser Websites verlagert. Oft handelt es sich um spontane Reaktionen; das schnell Geschriebene und Veröffentlichte bleibt aber meist für lange Zeit einsehbar.

Das Spannungsfeld zwischen berechtigtem Vorgehen gegen Hate Speech (wörtlich: Hassrede) und Meinungsfreiheit hat sich in den letzten Jahren zu einem Dauerthema kontroverser öffentlicher Debatten entwickelt. In Deutschland geht es bei diesen Diskussionen häufig um die Frage, ob Äußerungen den Straftatbestand der Volksverhetzung (§ 130 Strafgesetzbuch, StGB) erfüllen. Auch die Frage, welche Inhalte private Social-Media-Anbieter (z. B. Facebook) aufgrund von Regelungen zur Hate- Speech-Bekämpfung sperren oder löschen dürfen oder müssen, hat sich international zu einer zentralen Achse dieser Diskussion entwickelt, in Deutschland auch im Zusammenhang mit dem 2017 verabschiedeten Gesetz zur Verbesserung der Rechtsdurchsetzung in sozialen Netzwerken (Netzwerkdurchsetzungsgesetz – NetzDG).[3]

Verfas­sungs­ge­richt­liche Inter­ven­ti­onen für die Meinungs­frei­heit vor der Europawahl

Vor der Europawahl 2019 musste sich das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) innerhalb von wenigen Tagen in gleich drei Eilentscheidungen zu der Frage äußern, inwieweit Rundfunkanstalten, Stadtverwaltungen oder die Social Media-Plattform Facebook gegen Wahlwerbung oder andere Äußerungen vorgehen dürfen, deren Inhalte sie als strafbare Volksverhetzung einstufen. Am 15. Mai 2019 hatte die 2. Kammer des Ersten BVerfG-Senats über den Antrag der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD) auf einstweilige Anordnung zur Ausstrahlung eines Wahlwerbespots durch den Rundfunk Berlin-Brandenburg zu entscheiden.[4] Verwaltungsgericht und Oberverwaltungsgericht waren zu dem Schluss gekommen, der Wahlwerbespot enthalte in seiner Gesamtschau einen evidenten und schwerwiegenden Verstoß gegen § 130 Abs. 1 Nr. 2 StGB, da er Migrantinnen und Migranten pauschal als Kriminelle diffamiere und eine Zweiteilung der Gesellschaft in Deutsche und (kriminelle) Ausländer propagiere. Eine andere Auslegungsmöglichkeit zu Gunsten der Antragstellerin sei ausgeschlossen. Das BVerfG gab dem NPD-Antrag dagegen statt. Zur Begründung führte es an, aus den Entscheidungen der Verwaltungsgerichte ergebe sich nicht mit hinreichender Gewissheit, dass dem Wahlwerbespot ein solcher volksverhetzender Inhalt entnommen werden müsse.[5]

Am 22. Mai hatte dieselbe Kammer über einen Eilantrag der Partei „Der III. Weg“ zu entscheiden,[6] die mit einer Liste für die Europawahl kandidierte. Im Januar 2019 hatte die Partei auf ihrer Facebook-Seite einen Link zu einem Text veröffentlicht, den Facebook als Hassrede einstufte. Facebook sperrte zunächst das Nutzerkonto und löschte es später. Ein Antrag der Partei bei dem zuständigen Landgericht auf Erlass einer einstweiligen Verfügung gegen Facebook blieb ebenso erfolglos wie die anschließende Beschwerde beim Oberlandesgericht. Das BVerfG verpflichtete Facebook hingegen dazu, das Nutzerkonto der Partei zumindest bis zum Abschluss der Wahl wieder bereitzustellen. In seiner Entscheidung beschränkte sich das Gericht auf die Folgenabwägung im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes (§ 32 Abs. 1 BVerfGG). Der Fall werfe schwierige Rechtsfragen auf, die im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nicht entschieden werden könnten. Neben der Meinungsfreiheit berücksichtigte das Gericht in diesem Fall auch den Umstand, dass die Partei für die Europawahl kandidierte. Die BVerfG-Ausführungen zur Bedeutung von Facebook dürften auch über den Fall hinaus von Bedeutung sein: „Die Antragstellerin bedient sich des Angebots der Antragsgegnerin [Facebook], das nach deren Werbeangaben von über 30 Millionen Menschen in Deutschland monatlich genutzt wird, um ihre politischen Auffassungen darzulegen und zu Ereignissen der Tagespolitik Stellung zu nehmen. Die Nutzung dieses von der Antragsgegnerin zum Zweck des gegenseitigen Austausches und der Meinungsäußerung eröffneten Forums ist für die Antragstellerin von besonderer Bedeutung, da es sich um das von der Nutzerzahl her mit Abstand bedeutsamste soziale Netzwerk handelt. Gerade für die Verbreitung von politischen Programmen und Ideen ist der Zugang zu diesem nicht ohne weiteres austauschbaren Medium von überragender Bedeutung. Durch den Ausschluss wird der Antragstellerin eine wesentliche Möglichkeit versagt, ihre politischen Botschaften zu verbreiten und mit Nutzern des von der Antragsgegnerin des Ausgangsverfahrens betriebenen sozialen Netzwerks aktiv in Diskurs zu treten.“[7] Das BVerfG stützt seine Erwägungen somit maßgeblich auf die Marktmacht von Facebook als privates Unternehmen, das mit seiner Entscheidung über die weitere Verbreitung oder Löschung von Inhalten auf Wahlentscheidungen Einfluss nehmen kann.

Zwei Tage später ging es schließlich erneut um einen Eilantrag der Partei „Der III. Weg“, diesmal gegen die Entscheidung der Stadt Chemnitz, Wahlplakate der Partei mit der Aufschrift „Multikulti tötet“ abzuhängen. Diesen Antrag lehnte dieselbe BVerfG-Kammer allerdings ab. Die vorgebrachte Begründung genüge nicht den Anforderungen an ein Eilrechtsschutzbegehren.[8]

US-ame­ri­ka­ni­sches Plädoyer für eine hohe Gewichtung der Meinungs­frei­heit

Hate. Why We Should Resist It with Free Speech, Not Censorship ist der programmatische Titel einer 2018 erschienenen engagierten Streitschrift zu diesem Thema, vorwiegend aus US-amerikanischer Perspektive, aber mit zahlreichen international vergleichenden Einsichten. Hass sei nicht mit Zensur, sondern mit dem Recht auf freie Meinungsäußerung zu begegnen. Nadine Strossen, Professorin für Verfassungsrecht an der New York University Law School und von 1991 bis 2008 Vorsitzende der Bürger*innenrechtsorganisation American Civil Liberties Union (ACLU), bearbeitet dieses Thema aus der Perspektive des US-Verfassungsrechts. Die dahinter stehenden Grundsatzfragen und Konfliktlinien sind aber auch im europäischen Kontext interessant.

Obwohl das Buch in einem renommierten Wissenschaftsverlag erschienen ist, handelt es sich nicht um eine wissenschaftliche Veröffentlichung im klassischen Stil. So verzichtet das Buch vollständig auf genauere Quellenangaben. Wer diese nachlesen möchte, findet sie immerhin auf der Website der Autorin.[9]

Im Vergleich zu Deutschland hat die Meinungsfreiheit im Verhältnis zur Bekämpfung rassistischer oder extremistischer Äußerungen in den USA seit langem ein höheres Gewicht. Nadine Strossen kann ihr Plädoyer für eine höhere Gewichtung der Meinungsfreiheit auf seit Jahrzehnten etablierte Rechtsprechung des Supreme Courts, des US-Verfassungsgerichts, stützen. Zentraler Anknüpfungspunkt ist der Erste Verfassungszusatz (First Amendmend) aus dem Jahr 1791: „Congress shall make no law respecting an establishment of religion, or prohibiting the free exercise thereof; or abridging the freedom of speech, or of the press; or the right of the people peaceably to assemble, and to petition the government for a redress of grievances.”
Eckpunkte der Interpretation der Meinungsfreiheit aus dem First Amendment sind in der Analyse von Strossen die Viewpoint Neutrality und der Emergency Test. Nach dem Prinzip der Viewpoint Neutrality haben staatliche Beschränkungen für die freie Rede inhaltlich neutral zu sein. In einer Reihe von Entscheidungen hat der Supreme Court in den letzten Jahrzehnten Differenzierungen für unzulässig erklärt, die nicht auf zwingenden Gründen basieren.[10] Diese Rechtsprechung weist einige Ähnlichkeiten mit den Anforderungen an die Einschränkung der Meinungsfreiheit auf, wie sie in Deutschland das Bundesverfassungsgericht entwickelt hat. Einschränkende Regelungen müssen meinungsneutral sein. Bestimmte Meinungen dürfen dabei nicht gegenüber anderen bevorzugt werden. Eine stark umstrittene Ausnahme machte das BVerfG allerdings gerade für die Bestimmung des Strafgesetzbuches, nach der eine (Hass-)Rede, die die „nationalsozialistische Gewalt- und Willkürherrschaft billigt, verherrlicht oder rechtfertigt“,  als strafbare Volksverhetzung eingestuft wird.[11] Das BVerfG argumentierte in seiner Entscheidung aus dem Jahr 2009: „Angesichts des sich allgemeinen Kategorien entziehenden Unrechts und des Schreckens, die die nationalsozialistische Herrschaft über Europa und weite Teile der Welt gebracht hat, und der als Gegenentwurf hierzu verstandenen Entstehung der Bundesrepublik Deutschland ist Art. 5 Abs. 1 und 2 GG für Bestimmungen, die der propagandistischen Gutheißung der nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft Grenzen setzen, eine Ausnahme vom Verbot des Sonderrechts für meinungsbezogene Gesetze immanent.“[12]

Mit dem Emergency Test schränkt der US Supreme Court Maßnahmen gegen Hassreden noch wesentlich weiter ein. Dies gilt gerade im Vergleich zur Rechtslage in Deutschland und vielen anderen EU-Staaten. Demnach sind meinungsbeschränkende Maßnahmen gegen Hassreden nur dann zulässig, wenn sich die betreffenden Äußerungen gezielt als Bedrohung unmittelbar gegen bestimmte Personen richten. Abstrakte Äußerungen, die von bestimmten Gruppen oder Personen als bedrohlich empfunden werden könnten, sind dagegen vom First Amendment geschützt und dürfen weder unter Strafe gestellt noch verboten werden.[13] Nach den Maßstäben des deutschen Rechts wäre der Straftatbestand einer Bedrohung (im Sinne von § 241 Abs. 1 StGB) die Schwelle, ab der Einschränkungen der Meinungsäußerungsfreiheit auch nach der restriktiven US-Linie zulässig wären.
Nadine Strossen streitet in ihrem Buch für diese restriktive Linie und führt dafür zahlreiche Argumente an. Dabei zieht sie auch viele Beispiele aus anderen Ländern heran, insbesondere aus Europa. Anti-Hate-Speech-Gesetze zeichneten sich in der Regel durch eine übermäßige Breite und Unbestimmtheit aus (S. 69 ff.). Diese sei bereits dadurch bedingt, dass es bisher nirgends gelungen sei, die Abgrenzung zwischen erlaubter Meinungsäußerung und verbotener Hassrede klar zu definieren. Zudem sei die Wahrnehmung, was eine herabsetzende Hassrede ist, individuell sehr subjektiv geprägt und damit sehr unterschiedlich, insbesondere bei religiösen Themen (S. 79ff.). Strossen führt außerdem vielfältige Beispiele auf, die belegen, dass oft gerade Angehörige von Minderheiten, die eigentlich durch Anti-Hate-Speech-Gesetze geschützt werden sollen, nach solchen Bestimmungen verfolgt werden. Besonders eklatant sind die Defizite von solchen Regelungen dann, wenn sie die Kritik an hasserfüllten Inhalten, die notwendig die missbilligte Äußerung zitieren, gleich mit verbieten. Anti-Hate-Speech-Regelungen präziser zu fassen, sei jedoch kaum möglich, da ihrer Konzeption zu viele und teils widersprüchliche Anforderungen zugrunde lägen (S. 105 ff.).

Darüber hinaus zieht Nadine Strossen auch die empirischen Prämissen der Befürworter*innen von Anti-Hate-Speech-Regelungen in Zweifel. Sie führt zahlreiche Argumente an, die belegen, dass abstrakte Äußerungen bei den betroffenen Personengruppen kaum zu konkreten persönlichen Beeinträchtigungen führen (S. 121ff.). Auch der Glaube daran, dass solche Regelungen Hassreden überhaupt wirksam bekämpfen könnten, sei zu bezweifeln. Zumeist führten repressive staatliche Maßnahmen nicht dazu, dass die betreffenden Äußerungen nicht mehr vorkommen. Mit gezielten Provokationen könnten Menschen, die Hass verbreiten wollen, öffentliche Aufmerksamkeit für ihre Parolen erzeugen und auch Gerichtsverfahren, bei denen die Rechtmäßigkeit ihrer Äußerungen überprüft wird, gezielt propagandistisch nutzen. Diese öffentliche Aufmerksamkeit verhelfe den Inhalten oft zu größerer Verbreitung.

Im Internet-Zeitalter sei es außerdem kaum mehr denkbar, dass staatliche Maßnahmen die Verbreitung bestimmter Positionen und Äußerungen effektiv abstellten. Das pure Nichtbeachten solcher Äußerungen sei daher eine gute Alternative (S. 133ff.). Eine weitere wirksame und notwendige Alternative sei auch die konsequente Gegenrede durch Angehörige der Zivilgesellschaft und Repräsentant*innen staatlicher Institutionen. Verspreche der Staat hingegen die Lösung des Problems durch Verbotsregelungen, so lasse das zivilgesellschaftliche Engagement sogar nach, da sich die Menschen darauf verließen, der Staat werde das Problem lösen. Durch Hassreden diskriminierte Menschen und Gruppen sollten daher darin unterstützt werden, selbstbewusst gegen Hassreden aufzutreten (S. 157 ff.). Auch Bildung könne einen relevanten Beitrag zur Bekämpfung von Hassreden leisten.

Schluss­fol­ge­rungen für die rechts­po­li­ti­sche Debatte in Deutschland

Im Kontext der Auseinandersetzungen über den Umgang mit populistischen und rechtsextremen Meinungsäußerungen, wie sie sich auch in den Eilentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts vor der Europawahl 2019 widerspiegeln, liefert Nadine Strossen zahlreiche Argumente für weniger aufgeregte Reaktionen. Dies gilt gerade für Deutschland mit seinen im internationalen Vergleich weitreichenden Verbotsbestimmungen für bestimmte Arten von Hassreden. Auch die wachsende Bedeutung von Social Media-Anbietern als nicht-staatliche Akteure bei der Bekämpfung hasserfüllter Inhalte bedarf größerer politischer und zivilgesellschaftlicher Aufmerksamkeit – dies zeigt auch die Eilentscheidung des BVerfG zur Löschung von Facebook-Inhalten in Wahlkampfzeiten.[14] Die BVerfG-Eilentscheidungen im Vorfeld der Europawahl 2019 deuten darauf hin, dass das Gericht für das Spannungsfeld zwischen Meinungsfreiheit und staatlichen Maßnahmen gegen hasserfüllte Äußerungen sensibilisiert ist – sicherlich nicht zuletzt aufgrund starker Kritik an seiner Entscheidung zur Volksverhetzung aus dem Jahr 2009.[15] Ob die Argumente, die Nadine Strossen anführt, mittelfristig auch in anderen Teilen der Welt zu einer wirksamen Bekämpfung von Hate Speech ohne Verbote führen, bleibt abzuwarten.

Anmerkungen:

[*1] Zugleich Besprechung von: Nadine Strossen, Hate. Why We Should Resist It with Free Speech, Not Censorship, Oxford und New York: Oxford University Press 2018, 199 Seiten, 16,99 £.

[2] Vgl. auch den Beitrag von Reinhardt in diesem Heft.

[3] BBGBl.I, 2017, S. 3352; vgl. dazu die Dokumentationen sowie die Beiträge von Buermeyer/ Eifert, Gersdorf und Spielkamp in diesem Heft.

[4] BVerfG, 1 BvQ 43/19, Beschluss vom 15.5.2019.

[5] Ebd., Rn. 13.

[6] BVerfG, 1 BvQ 42/19, Beschluss vom 22.5.2019.

[7] Ebd., Rn. 17 und 19.

[8] BVerfG, 1 BvQ 46/19, Beschluss vom 24.5.2019.

[9] http://www.nyls.edu/faculty/wp-content/uploads/sites/148/2018/04/endnotes.apr2818.pdf.

[10] Z.B. U.S. Supreme Court, Police Dept. of City of Chicago v. Mosley, 408 U.S. 92 (1972).

[11] § 130 Abs. 4 StGB in der 2005 geänderten Fassung.

[12] BVerfG, 1 BvR 2150/08, Beschluss vom 4.11.2009 (Leitsatz 1).

[13] Z.B. U.S. Supreme Court, Watts v. United States, 394 U.S. 705 (1969); Brandenburg v. Ohio, 395 U.S. 444 (1969).

[14] BVerfG, 1 BvQ 42/19, Beschluss vom 22.5.2019.

[15] BVerfGE 124, 300.

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