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Verfas­sungs­wid­rige Durch­su­chungen und kein Ende

Grundrechte-Report 2007, Seiten 117 – 123

»Die endlose Reihe von Urteilen zu unzulässigen Durchsuchungen und Beschlagnahmen reißt nicht ab« – so begann ein Beitrag im letzten Grundrechte-Report aus Anlass mehrerer Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zu Artikel 13 GG (vgl. Julia Kühn im Grundrechte-Report 2006, S. 128 ff.). Am Anfang dieses Beitrages müsste derselbe Satz stehen, und doch kann es nicht nur darum gehen, jener »endlosen« (sic) Reihe von Urteilen weitere hinzuzufügen: Es muss auch darum gehen, wie der Grundrechtsschutz der Wohnung diesseits nachträglichen Rechtsschutzes gestärkt werden kann.

Tendenz steigend

In dem o.g. Beitrag werden drei Entscheidungen des BVerfG zitiert, denen Ende 2005 noch einige folgten; allein im Zeitraum März bis September 2006 sind nun sieben weitere stattgebende Kammerbeschlüsse ergangen (Tendenz steigend), die sich auf folgende amtsrichterliche Durchsuchungsanordnungen der Jahre 2004 bis 2006 beziehen:

Braunschweig, 3. Mai 2004: Im Rahmen einer Betriebsprüfung geriet ein Unternehmer in den Anfangsverdacht der Steuerhinterziehung und musste eine Durchsuchung der Wohn- und Geschäftsräume über sich ergehen lassen; zusätzlich wurden die Geschäftsräume seines Steuerberaters durchsucht und Bankunterlagen beschlagnahmt. Dass der Verdacht völlig unbegründet war, hätte sich ohne weiteres ergeben, wenn man die plausiblen Erklärungen des Betroffenen überprüft hätte – darauf war aber aus »ermittlungstaktischen Gründen« verzichtet worden (Beschluss vom 3. Juli 2006 – 2 BvR 2030/04).

Bad Kreuznach, 22. Dezember 2004: Bei einer Verkehrskontrolle wurde der Fahrer positiv auf THC getestet; er räumte ein, zu Hause eine kleine Menge Cannabis aufzubewahren, woraufhin nach fernmündlicher Rücksprache mit dem zuständigen Staatsanwalt (kurz nach 18:00 Uhr) eine Durchsuchung vorgenommen wurde, ohne auch nur zu versuchen, eine richterliche Anordnung zu erwirken. Die »Gefahr im Verzuge« wurde damit begründet, es gebe keinen richterlichen Bereitschaftsdienst (Beschluss vom 8. März 2006 – 2 BvR 1114/05).

Köln, 3. Februar 2005: Im Rahmen von Ermittlungen gegen den Verteidiger eines inhaftierten »Chefs einer gewalttätigen Türsteher- und Zuhälterbande« wegen des Verdachts der Geldwäsche wurde u.a. die Kanzlei durchsucht; abgehörte Mandantengespräche hätten ergeben, dass der Anwalt Ratschläge erteilt habe zur Verwendung nicht versteuerter Bordellgewinne (Beschluss vom 4. Juli 2006 – 2 BvR 950/05).

Hanau, 28. Februar 2005: Nachdem in einem Strafverfahren einer der Richter erfolglos wegen Befangenheit abgelehnt wurde (er hatte den Angeklagten in einem früheren Verfahren verteidigt), sahen sich ein Anwalt nach weiteren Recherchen einem Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Nötigung des Richters ausgesetzt. Als wäre das nicht schon Skandal genug, wurde auch noch die Durchsuchung der Kanzlei angeordnet, um vermeintliche »Dossiers« sicherzustellen (Beschluss vom 7. September 2006 – 2 BvR 1219/05).

Aachen, 2. März 2005: In einem Streit über Bußgeldbescheide wegen Falschparkens vor dem Justizgebäude (zweimal 15 Euro) wurde die Durchsuchung der Büroräume des betroffenen Anwalts zum Auffinden und ggf. zur Beschlagnahme von Terminkalendern angeordnet (Beschluss vom 7. September 2006 – 2 BvR 1141/05).

München, 17. Februar 2006: Im Zuge der Fahndung nach Beteiligten an einer Messerstecherei durchsuchte die Polizei die Wohnung eines Festgenommenen, ohne vorher einen richterlichen Beschluss zu erwirken — am Montagabend um 18:00 Uhr wäre dies nicht mehr möglich gewesen, bestätigten auch die zuständigen Gerichte in der nachträglichen Durchsuchungsbestätigung (Beschluss vom 28. September 2006 – 2 BvR 876/06).

Besondere Beachtung verdient schließlich eine Beschwerdeentscheidung des Landgerichts Bochum vom 17. März 2005, die einen bemerkenswerten Ungehorsam dem Rechtsstaat gegenüber offenbart: Die Durchsuchung der Wohn- und Geschäftsräume war vom BVerfG mangels Tatverdacht für verfassungswidrig erklärt worden (Beschluss vom 9. Februar 2005 – 2 BvR 1108/03). Nach Zurückverweisung der Sache zur Entscheidung über die Kosten verwarf das Landgericht die Beschwerde erneut, weil die Aktenlage weiterhin »nach kriminalistischer Erfahrung einen Tatverdacht« begründe. Auch die dagegen eingelegte Verfassungsbeschwerde war erfolgreich: Das Landgericht habe »die Grundrechtsverletzung erneuert und vertieft und zudem die Rechtskraft des Beschlusses des BVerfG missachtet« (Beschluss vom 14. Juni 2006 – 2 BvR 537/05).

Evidente Willkür

Die den Verfassungsbeschwerden stattgebenden Kammerbeschlüsse ergingen in allen Fällen, weil sie »offensichtlich begründet« waren und die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits allesamt (und mehrfach) entschieden sind. Dabei spart das Gericht nicht mit deutlichen Worten:

  • manche amtsrichterlichen Beschlüsse würden den verfassungsrechtlichen Anforderungen in puncto Tatverdacht »bei weitem nicht gerecht« (Fälle Hanau und Köln) und verlören sich »in allzu allgemeinen Wendungen«, zumal eine Durchsuchung nicht »der Ermittlung von Tatsachen dienen [dürfe], die zur Begründung eines Verdachts erforderlich sind; denn sie setzt einen Verdacht voraus« (Fall Braunschweig);
  • die Durchsuchung einer Anwaltskanzlei wegen Geldbußen von zweimal 15 Euro erscheine »evident sachfremd und daher grob unverhältnismäßig und willkürlich« (Fall Aachen);
  • in einer Großstadt bereits gegen 18:00 Uhr auf eine richterliche Anordnung von vorneherein zu verzichten, könne »nicht hingenommen werden« (Fall München) — sie sei auch nicht durch »den abstrakten Hinweis verzichtbar, eine richterliche Entscheidung sei zur maßgeblichen Zeit gewöhnlicherweise nicht mehr zu erlangen« (Fall Bad Kreuznach).

Gerade der letztgenannte Fall zeigt, dass die Geduld des BVerfG in Sachen Missachtung des Richtervorbehalts offenbar erschöpft ist (vgl. bereits Martina Kant im Grundrechte-Report 1998, S. 158 ff.): »Die Auffassung der Fachgerichte, der fehlende richterliche Bereitschaftsdienst rechtfertige die Anordnung der Durchsuchung einer Wohnung durch den Staatsanwalt ohne den vorausgegangenen Versuch, einen Beschluss des Ermittlungsrichters zu erwirken, ist verfassungsrechtlich nicht haltbar. Denn sie läuft darauf hinaus, die im Grundgesetz verankerte Regelzuständigkeit des Ermittlungsrichters zu unterlaufen«. Das Grundgesetz verlange von den zuständigen Behörden, sich heim Schutz der Grundrechte – hier: der Unverletzlichkeit der Wohnung – Mühe zu geben: »Es mag für die Ermittlungsbehörden mühevoller sein, auf diese Weise durch Auskunftsersuchen und eventuell durch Zeugenvernehmungen die Hinweise auf ein strafbares Verhalten zu überprüfen; der hohe Wert der Integrität der Wohnung verlangt diese Mühewaltung jedoch, bevor ein empfindlicher Eingriff in das Grundrecht aus Artikel 13 Absatz 1 GG zulässig sein kann.«

Grund­rechts­schutz diesseits des nachträg­li­chen Rechts­schut­zes?

Die mit der Stärkung des nachträglichen Rechtsschutzes verbundene Hoffnung, rechtswidrigen Durchsuchungen vorzubeugen, hat wohl getrogen (vgl. bereits Till Müller-Heidelberg im Grundrechte-Report 1998, S. 186 ff.). Wie die vorliegenden Entscheidungen einmal mehr zeigen, ist aber auch auf die grundrechtsschützende Funktion des Richtervorbehalts kein Verlass (vgl. zur Grundsatzentscheidung BVerfGE 103, 142 u. a. Asbrock, Neue Justiz 2001, 293 f.). Und schließlich drängt sich der Eindruck auf, das BVerfG habe mit dem Schutz des Artikel 13 GG umso mehr zu tun, je häufiger es verfassungswidrige Durchsuchungen moniert.

Was bleibt zu tun? Rechtspolitisch liegt es nahe, ein Verwertungsverbot für den Fall zu fordern, dass Beweise im Rahmen einer rechtswidrigen Durchsuchung gewonnen wurden (Burhoff, Strafverteidiger-Forum 2006, 140, 147 und Ransiek Strafverteidiger 2002, 565, 567 ff.), zum Teil wird eine Beweislastumkehr vorgeschlagen, wenn der Richtervorbehalt umgangen wurde (Amelung/Mittag, Neue Zeitschrift für Strafrecht 2005, 614 ff.); ob beides miteinander vereinbar wäre, bliebe zu diskutieren. Denkbar ist auch – neben der verfassungsrechtlichen Selbstverständlichkeit eines richterlichen Bereitschaftsdienstes (s. o.) – die Installation eines Anwaltsdienstes, der die generalisierten Beschuldigteninteressen sowohl im Rahmen der ermittlungsrichterlichen Prüfung, vor allem aber während polizeilicher Durchsuchungen bei »Gefahr im Verzuge« wahrnimmt.

Ungeachtet solcher Vorschlage muss die öffentliche Kontrolle der Polizei und der Justiz gestärkt werden: Auf das BVerfG scheint Verlass – es kann aber immer nur die Spitze des Eisberges bearbeiten.

Literatur

Knut Amelung/Matthias Mittag, Beweislastumkehr bei Haussuchungen ohne richterliche Anordnung gemäß § 105 StPO, in: Neue Zeitschrift für Strafrecht 2005, S. 614 ff.

Bernd Asbrock, »Gefahr im Verzug« für den Richtervorbehalt hei Wohnungsdurchsuchungen?, in: Neue Justiz 2001, S. 293 f.

Detlef Burhoff, Durchsuchung und Beschlagnahme. Bestandsaufnahme zur obergerichtlichen Rechtsprechung, in: Strafverteidiger-Forum 2006, S. 140 ff.

Martina Kant, »Gefahr im Vollzuge« statt »Gefahr im Verzuge«, in: Grundrechte-Report 1998, S. 158 ff.

Julia Kühn, Ausufernder Durchsuchungspraxis Grenzen gesetzt, in: Grundrechte-Report 2006, S. 128 ff.

Till Müller-Heidelberg, Ein Stückchen mehr Rechtsstaat, in: Grundrechte-Report 1998, S. 186 ff.

Andreas Ransiek, Durchsuchung, Beschlagnahme und Verwertungsverbot. Strafverteidiger 2002, S. 565 ff.

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