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Wer ist gegen Europa? - Analyse der Wahlen in der EU nach dem Brexit-Re­fe­rendum

vorgänge Nr. 220 (Heft 4/2017), S. 69 – 79

Die Wahlen in Frankreich, Österreich, den Niederlanden, Bulgarien und Tschechien haben nicht nur europakritischen Parteien erhebliche Stimmenzuwächse gebracht, sondern zugleich der sozialdemokratischen Parteienfamilie in Europa – mit Ausnahme der Labour Party – eine Niederlage beschert. Der Autor stellt die Wahlergebnisse im Einzelnen vor und untersucht auch das Wahlverhalten nach Alter, Einkommen, Wohnsitz und Bildungsstand. Schließlich weist er auf die besondere Bedeutung der europäischen Grundwerte und die Verantwortung der Medien hin.

Einleitung

Europa gewinnt (wieder) an Relevanz – auch in den Augen seiner Völker. Es wird zum Gegenstand politischer Auseinandersetzungen – in den Wahlen zum Europäischen Parlament, die nicht mehr länger die verlängerte Werkbank nationaler parteipolitischer Diskurse zu werden versprechen. Die Wahlen und Abstimmungen der letzten beiden Jahre kennzeichnet die Sorge um ein Erstarken populistischer Strömungen, mit dem sich die politischen Koordinaten der EU wie des Westens dramatisch verschoben haben. Donald Trump hat den demokratischen Diskurs über die Zukunft Europas auch transatlantisch wieder interessanter gemacht.[1] Nichts ist für immer – auch nicht das auf eine vorrangig ökonomische Triebfeder ausgerichtete Integrationsprojekt EU. Das Ende der Geschichte im Sinne der von Francis Fukuyama geäußerten Erwartung eines globalen Siegeszuges von Liberalismus, Demokratie und Marktwirtschaft ist zumindest vertagt.
Mit dem Sieg von ÖVP und FPÖ bei den Parlamentswahlen in Österreich und dem Wahlerfolg von Andrej Babiš „Aktion unzufriedener Bürger“ (ANO) in Tschechien hat sich der Kreis von Mitgliedstaaten, die durch Parteien mitregiert werden (dürften), die gegen eine weitere Vertiefung der EU eingestellt sind und sich für eine Rückgewinnung traditioneller staatlicher Souveränität einsetzen, nochmals deutlich erweitert. Das Ungarn Victor Orbans und das Polen der von Lech Kaczyinski dominierten PiS-Regierung dürften im Kreis der EU-Mitgliedstaaten strategische Partner gewinnen.
Die EU erlebt aber nicht nur eine in erheblichen Teilen der Bevölkerung von Mitgliedstaaten der EU geduldete oder gar beförderte Enttabuisierung der Aushöhlung tragender europäischer Grundwerte. Dieser Prozess wird vielmehr begleitet und befördert durch eine Ent-TINA[2]-isierung der bisherigen Integrationslogik, die selbst Angehörige der Funktionseliten der EU auf europäischer[3] und mitgliedstaatlicher Ebene[4] erfasst. Wer gegen die EU in ihrer bisherigen Ausgestaltung ist, muss (auch deshalb) kein Gegner Europas sein.
Allerdings erscheint eine Weiterentwicklung der EU außerhalb der Wahrung des bisherigen Besitzstandes kaum vorstellbar. Insofern stellt das Brexit-Votum des Vereinigten Königreichs eine dramatische europäische Zeitenwende dar. Die Briten haben mit 51,9 % für einen Ausstieg aus der EU gestimmt. Für Gegner der EU stellt dieser Paukenschlag einen präzedenzlosen Bezugspunkt für eine Rückabwicklung europäischer Integration dar, für die EU selbst eine erhebliche Einbuße an politischem und ökonomischem Gewicht im Rahmen der Globalisierung. Indessen hat sich die Befürchtung,[5] dass der Brexit einen Dominoeffekt auch auf andere europäische Länder ausüben könnte, die in einen populistisch initiierten Zyklus von Referenden in dritten Mitgliedstaaten wie Frankreich oder den Niederlanden zum EU-Austritt münden könnten, zumindest bislang als unbegründet erwiesen.
Der folgende Beitrag bemüht sich im Blick auf die nationalen Wahlen und Abstimmungen der vergangenen zwölf Monate in Mitgliedstaaten der EU um eine differenzierte Betrachtung der Haltungen zum Projekt einer immer engeren Union der Völker Europas, wie es in der Präambel des EU-Vertrages als Verfassungsurkunde der bestehenden EU angelegt ist. Bei der Frage, wer Gegner Europas ist, orientiert sich der Beitrag dabei normativ an den Grundwerten der EU, wie sie nicht nur im Vertrag über die Europäische Union verankert sind.

Wahlergebnisse und Alarmsignale für Europa

Der Ausgang der Wahlen in den Mitgliedstaaten der EU lässt zumindest in den Staaten West- und Mitteleuropas einen gemeinsamen Trend der – allerdings unterschiedlich intensiven -– Stärkung rechtspopulistischer und EU-kritischer Kräfte erkennen.

Bei den Präsidentschaftswahlen in Frankreich erreichte Marine LePen im ersten Wahlgang am 23. April 2017 7 678 491 Stimmen und einen Stimmenanteil von 21,30 % der abgegebenen Stimmen. Zum zweiten Mal in der Geschichte der französischen Präsidentschaftswahlen qualifizierte sich ein Mitglied des Front National für die Stichwahlen. Erneut gelang es, eine sog. republikanische Solidarität gegen dieses Mitglied zu aktivieren, was in den Sieg von Emmanuel Macron am 7. Mai 2017 mit einem Stimmenanteil von 66,10 % mündete. Während allerdings Jean-Marie LePen 2002 im zweiten Wahlgang nur 5.525.906 Stimmen errang, waren es bei seiner Tochter, Nachfolgerin und Konkurrentin Marine LePen  10.638.475 Stimmen.[6] Bei den anschließenden Parlamentswahlen gewannen KandidatInnen des Front National im ersten Wahlgang am 11. Juni 2017 nur 2.990.454 Stimmen und bei der Stichwahl am 18. Juni 2017 sogar nur 1.590.869 Stimmen. Dem Front National, gehören nunmehr acht (zuvor: zwei) Abgeordnete in der 577 Sitze umfassenden französischen Nationalversammlung an.[7]                                 
Nicht nur auf der rechten, sondern auch auf der linken Seite des politischen Spektrums Frankreichs erzielten EU-kritische Kräfte zumindest Achtungserfolge: Jean-Luc Mélenchon erreichte im ersten Wahlgang der französischen Präsidentschaftswalen mit 7.059.951 Stimmen einen Anteil von 19,58 % der abgegebenen Stimmen – knapp weniger als der im erste Wahlgang drittplatzierte Kandidat François Fillon. Im ersten Wahlgang der französischen Parlamentswahlen erreichte Mélenchons Partei La France insoumise (zu deutsch: Das unbeugsame Frankreich) mit 2.497.622 Stimme einen Stimmenanteil von 11,03 % der abgegebenen Stimmen.  Mélenchon spricht sich u.a. für ein Ende der Unabhängigkeit der EZB, eine Abschaffung des Stabilitäts- und Wachstumspakts und eine umfassende Neuverhandlung der europäischen Verträge aus. Falls diese Verhandlungen scheitern sollten, soll Frankreich die europäische Währungsunion oder nach einem Referendum die EU selbst verlassen.[8]
Bei der 2. Runde der Präsidentschaftswahlen in Österreich errang der Kandidat der rechtspopulistischen FPÖ Norbert Hofer in der Wiederholung der Stichwahl am 4. Dezember 2016 mit 2.124.661 Stimmen einen Stimmanteil von 46,21 % der abgegebenen Stimmen und unterlag damit denkbar knapp Alexander Van der  Bellen, dem früheren Vorsitzenden der österreichischen Grünen.[9]                    
Bei den Nationalratswahlen am 15. Oktober 2017 wurde die konservative ÖVP unter dem neuen Vorsitzenden und amtierenden Außenminister Sebastian Kurz mit 1.595.526 Stimmen und einem Stimmenanteil von 31,47 % (2013: 1.125.876 Stimmen – 23,99 %) stärkste politische Kraft im österreichischen Bundesparlament. Die FPÖ erzielte mit 1.316.442 Stimmen und einem Stimmenanteil von 25,97 % (2013: 962.313 Stimmen – 20,51 %) zwar ein nur marginal schlechteres Ergebnis als die SPÖ – aber in absoluten Stimmzahlen das beste Ergebnis und beim Stimmgewicht nach 1999 (26,91 %) das zweitbeste Ergebnis bei Nationalratswahlen ihrer bisherigen Parteigeschichte. Die Einbußen der FPÖ im Vergleich zu Umfragen zu Beginn des Jahres dürften nicht zuletzt auch in der Übernahme programmatischer Punkte der FPÖ, insbesondere im Bereich der Flüchtlings-und Migrationspolitik, durch die ÖVP unter ihren neuen Vorsitzenden eine Ursache haben. Die sogenannte Wählerstromanalyse für Österreich[10] zeigt, dass die ÖVP besonders NichtwählerInnen mobilisieren konnte – hier gewann sie 102 000 Stimmen hinzu. Aber auch bei der rechtspopulistischen FPÖ konnte die ÖVP viele Stimmen abgreifen, ebenso wie bei den Grünen. Die FPÖ wiederum konnte bei den Sozialdemokraten viele WählerInnen abwerben.
Bei den Parlamentswahlen in den Niederlanden am 15. März 2017 errang die offen islamfeindliche Partij voor de Vrijheid des Rechtspopulisten Geert Wilders deutliche Stimmengewichte im Vergleich zur Parlamentswahl 2012: 1.372.941 Stimmen (2012: 950.263) und 13,1 % Stimmanteil (2012: 10,1 %). Die PVV wurde damit zwar zur zweitstärksten parteipolitischen Kraft in den Niederlanden, blieb aber deutlich hinter den Erfolgserwartungen während des Wahlkampfes und – trotz deren Stimmenverlusten – hinter der liberal-konservativen Volkspartij voor Vrijheid en Democratie (VVD) des niederländischen Ministerpräsidenten Mark Rutte mit 2.238.351 Stimmen (2012: 2.504.948) und 21,3 % Stimmanteil (2012: 26,6 %) zurück. Stärkste Gewinner bei den Parlamentswahlen waren die grüne Parteien GroenLinks mit einem Gewinn von 6,8 % auf 9,1 % der Stimmen, die linksliberale Partei D66 mit einem Gewinn von 4,2 % auf 12,2 % der Stimmen sowie der christdemokratische CDA mit einem Gewinn von 3,9 % auf 12,4 % der Stimmen.[11] VVD, CDA, D66 und ChristenUnie (3,4 % der Stimmen) bilden seit Oktober 2017 die neue niederländische Regierung.[12]
Bei den Parlamentswahlen in Bulgarien am 26. März 2017 errang das rechtspopulistische bis –extremistische Wahlbündnis Vereinigte Patrioten einen Stimmenanteil von 9,07 % (-2,73 %). Die neue rechtspopulistische Kraft Wolja errang 4,15 % der Stimmen. Die offen EU- und demokratiekritische Bulgarische Sozialistische Partei, die Nachfolgepartei der früheren sozialistischen Staatspartei, konnte ihren Stimmenanteil um 11,80 % auf 27,20 % steigern.[13] Im Nachgang zur Parlamentswahl bildete die dem christdemokratisch-konservativen europäischen Parteiverbund EVP angehörige liberal-konservative, pro-europäische GERB als stärkste parlamentarische Kraft (32,65 % der Stimmen) zusammen mit den Vereinigten Patrioten eine von der Wolja-Partei parlamentarisch unterstützte Koalition.
In Tschechien gewann bei den Parlamentswahlen am 20. und 21. Oktober 2017 Andrej Babiš mit seiner ANO-Partei fast 30 % der Stimmen. Der Populist hat in den wenigen Jahren der politischen Existenz seiner Partei mehrere EU-kritische Positionswechsel vollzogen: von pro-EU zu EU-Skepsis, von Zustimmung zur Einwanderung ins alternde und um Arbeitskräfte ringende Tschechien zur Ablehnung, vom Euro-Befürworter zum Euro-Gegner. Die neue Protestpartei Die Piraten gewann, nicht zuletzt dank Unterstützung junger WählerInnen fast 11 % der Stimmen. Die gegen die EU positionierten Kommunisten büßten zwar erheblich Stimmen ein, sind aber mit 8 % weiterhin stark im Parlament vertreten. Alarmierend bei den Parlamentswahlen in Tschechien ist insbesondere der Erfolg der neuen rechtsradikalen Bewegung Freiheit und direkte Demokratie von Tomio Okamura. Diese Bewegung fordert ein Verbot des Islams und ein Referendum über einen EU-Austritt Tschechiens. „Nein zum Islam, nein zum Diktat der EU!“ sowie „Geld den Anständigen, nicht den Parasiten!“ sind nur einige Beispiele ihrer zwischen Populismus und Extremismus chargierenden Slogans. Diese Partei wurde mit 10,6 % und 22 Mandaten viertstärkste Kraft im tschechischen Parlament.[14] Die einzige Partei, die einen explizit proeuropäischen Wahlkampf geführt hatte, die konservative TOP 09 des früheren Außenministers Karel Schwarzenberg, schaffte es nur knapp über die Fünf-Prozent-Hürde.

Eine weitgehende Gemeinsamkeit der jüngsten Wahlen ist der Niedergang der sozialdemokratischen Parteienfamilie in Europa.

Bei den Präsidentschaftswahlen in Frankreich erreichte der Kandidat der Parti Socialiste  Benoît Hamon im ersten Wahlgang am 23. April 2017 mit 2.291.288 Stimmen und einem Stimmenanteil von 6,36 % der abgegebenen Stimmen weit abgeschlagen erstmalig in der Geschichte der französischen Präsidentschaftswahlen nur den fünften Platz unter den BewerberInnen. Das Debakel für den PS setzte sich bei den anschließenden Parlamentswahlen vor: Dort gewannen KandidatInnen der Parti Socialiste im ersten Wahlgang am 11. Juni 2017 mit 1.685.677 Stimmen nur 7,44 % der abgegebenen Stimmen, im zweiten Wahlgang mit 1.032.842 Stimmen nur noch 5,68 % der abgegebenen Stimmen und damit 30 von 577 Mandaten in der Nationalversammlung.
Beim ersten Wahlgang der österreichischen Präsidentschaftswahlen errang der Kandidat der SPÖ Rudolf Hundstorfer am 24. April 2016 lediglich 482.790 Stimmen und einen Stimmenanteil von 11,28 %.[15] Erstmalig in der Geschichte der zweiten österreichischen Republik nach 1945 gelang damit einer von der SPÖ unterstützten Person nicht der Einzug zumindest in die zweite Runde der Präsidentschaftswahlen.[16]
Dieses Debakel (das in vergleichbarer Weise auch die ÖVP erlitt), konnte die SPÖ bei den Nationalratswahlen 2017 nicht ausgleichen: Die SPÖ unter Vorsitz von Bundeskanzler Christian Kern gewann mit 1.361.746 Stimmen einen Stimmanteil von 26,86 % (2013: 1.258.605 Stimmen / 26,82 %) und konnte damit ihren absoluten Stimmenanteil zwar erhöhen, aber ihr prozentual schlechtestes Ergebnis von 2013 nur marginal verbessern.
Den größten Verlust bei den niederländischen Parlamentswahlen erlitt die sozialdemokratische Partij van de Arbeid, die nur noch 5,7 % und damit ihr historisch schlechtestes Wahlergebnis erreichte – nachdem sie 2012 mit 24,8 % noch (knapp hinter der VVD) zweitstärkste parteipolitische Kraft und Regierungspartei geworden war.
Den größten Verlust bei den tschechischen Parlamentswahlen erlitt die sozialdemokratische ?SSD, die nur noch 7 % und damit ihr historisch schlechtestes Wahlergebnis erreichte – nachdem sie 2013 mit 20,5 % noch Wahlsiegerin gewesen war.

Mit Blick auf die traditionell antinationalistische und proeuropäische Ausrichtung dieser Parteienfamilie und die Probleme, die mit diesem Niedergang für den demokratischen Diskurs über die Zukunft unserer Gesellschaft verbunden sein können, ist auch dieser Entwicklung ein Gefährdungspotential für Europa eigen.
Einen Ausreißer aus diesem Niedergang bildet lediglich die Labour Party unter Vorsitz von Jeremy Corbyn: Sie erhielt bei den vorgezogenen Unterhauswahlen am 8. Juni 2017 40 % der Stimmen (ein Zuwachs von 9,5 %) und konnte die Anzahl ihrer Sitze im Unterhaus, in dem die konservative Premierministerin May nunmehr eine von der nordirischen DUP tolerierte Minderheitsregierung führt, im Vergleich zur vorherigen Wahl 2015 auf 262 von 650 Abgeordneten (+30) steigern.[17]
Soziodemographische Erkenntnisse aus den jüngsten Wahlen und Abstimmungen
Je älter WählerInnen sind, um so stärker sind tendenziell EU-kritische Einstellungen aktivierbar.

Beim britischen Referendum zur EU-Mitgliedschaft präferierten ältere Bevölkerungsteile den Brexit, jüngere den Verbleib in der EU.[18] Bei den über 65-Jährigen lag die Zustimmung zum EU-Austritt bei 63 %, bei den 50- bis 64-Jährigen immerhin noch bei 56 %. Unter den 25-49-Jährigen waren hingegen 55 % sog. Remainers, bei den 18-24-Jährigen sogar 80 %.
Hinter dem Wahlerfolg von Sebastian Kurz in Österreich steht zwar keine einzelne Bevölkerungsgruppe. Allerdings waren seine Zustimmungswerte bei den über 60-Jährigen mit 36 % (Stimmenanteil insgesamt: 31,6 %) am höchsten. Bei den bis 29-Jährigen holte die Partei demgegenüber nur 28 %, bei den 30 bis 59-Jährigen 31 %. Fast spiegelbildlich hierzu stellen sich die Werte bei der FPÖ dar: Diese schnitt bei den bis 29-Jährigen (bei einem Stimmenanteil von 26 % insgesamt) mit 30 % am besten und bei den über 60-Jährigen mit 19 % am schlechtesten ab.
In einem mehrheitlich EU-kritisch eingestellten gesellschaftlichen Umfeld[19] wurde Andrej Babiš mit seiner Bewegung ANO mit einem Programm, das auf die Prioritäten  „Sicherheit“, „effektiver und wirtschaftlicher Staat“, „Investitionen in unser Land“, „Investitionen in unsere Leute“ setzte, vor allem von mittleren und älteren Altersgruppen gewählt. Bei den über 60-Jährigen erzielte er bei einem Gesamt-Stimmenanteil bei den tschechischen Parlamentswahlen von 29,6 % sogar 41 %.[20]
Ein disparateres Bild zeigt sich insoweit bei den Präsidentschaftswahlen in Frankreich: Die schwächste Zustimmung erfuhr LePen dort nach Befragungen zwischen erstem und zweitem Wahlgang in der Altersgruppe der 60-69-Jährigen (30 %) sowie der Altersgruppe der mindestens 70 Jahre alten WählerInnen (22 %). Aber auch bei den 18-24-Jährigen waren die Zustimmungswerte für LePen unterdurchschnittlich (34 %). Diese Wählergruppe, die in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen noch mit relativer Mehrheit Jean-Luc Mélenchon gewählt hatten, äußerten in der Befragung kurz vor der Stichwahl mit deutlicher Mehrheit (66 %) die Absicht, Macron zu wählen. Die stärkste Zustimmung erfuhr LePen in der Altersgruppe zwischen 35 und 49 Jahren (43 %).[21] Die über sämtlichen Bevölkerungsgruppen beobachtbaren Einbrüche in den Zustimmungswerten für LePen dürften nicht zuletzt auch in ihrer übereinstimmend als wenig sachkundig und präsidentiell empfundenen Performance bei dem TV-Duell mit Macron begründet liegen.[22]

Manches spricht dafür, dass ältere MitbürgerInnen stärker als jüngere in Zeiten tatsächlicher oder  vermeintlicher politischer, ökonomischer oder gesellschaftlicher Krisen zu einer nostalgischen „Kehrtwende ins Gestern“  neigen und unter der Sehnsucht nach der „guten alten Zeit“ leiden, in der die Dinge noch unilateraler und vor allem überschaubarer schienen.[23] Jüngere Mitbürgerinnen, die nur die Zeit der europäischen Erweiterung und Vertiefung kennen, können sich ein Leben mit Grenzen längst nicht mehr vorstellen.
Eine zweite Erkenntnis aus den untersuchten Wahlen: In städtischen Milieus sind tendenziell EU-kritische Einstellungen weniger stark verbreitet als in ländlichen.

Die WählerInnen in den großen britischen Städten stimmten in vielen Fällen gegen den EU-Austritt. In London waren fast 60 % der Wähler Remainers, in Manchester sogar mehr als 60 %, in Liverpool 58,2 %. In ländlichen Regionen wie Yorkshire war demgegenüber der Anteil der Brexiteers besonders stark. Im dortigen Wahlbezirk East Lindsey etwa stimmten 71 % und damit nahezu drei Viertel der Wähler für den Brexit. Hier erzielte die UKIP auch in der Vergangenheit große Erfolge.
Befragungen zwischen erstem und zweitem Wahlgang bei der Präsidentschaftswahl in Frankreich zufolge war der Anteil von Personen, die LePen wählen wollten, in Städten mit mehr als 100.000 Einwohnern am geringsten, in ländlichen Gebieten am höchsten.[24]
Die proeuropäisch eingestellte tschechische Partei TOP 09 erzielte in Prag mit 13 % ihren höchsten Stimmenanteil; außerhalb der Hauptstadt schnitt sie erheblich schwächer ab.

Im Hinblick auf die Zukunft des Projekts Europa besonders bedeutsam ist eine dritte Erkenntnis: Bei ArbeiterInnen und Personen mit geringem Bildungs- und Berufsabschluss sind tendenziell EU-kritische Einstellungen stärker aktivierbar als bei sozial besser gestellten Bevölkerungsgruppen mit höherem Bildungs- und Berufsabschluss.

In der YouGov-Umfrage vom Juni 2016 sprachen sich unter den Befragten der so genannten „ABC1“-Gruppe, die in der britischen Marktforschung die Mitglieder einer der drei höchsten sozioökonomischen Gruppen bezeichnet, 59 % klar für einen Verbleib in der EU aus. In der „C2DE“-Gruppe der drei niedriger gestellten Schichten votierten hingegen 61 % für den Brexit.
Befragungen zwischen erstem und zweitem Wahlgang bei der Präsidentschaftswahl in Frankreich zufolge verdienen Macron-Wähler mehr Geld als die seiner Kontrahentin. 75 % der Befragten, die im 2. Wahlgang für Macron stimmen wollten, haben in ihrem Haushalt mehr als 3.000 Euro zur Verfügung. Befragte mit der Absicht, Le Pen zu wählen, sind mit 45 % dagegen am ehesten in der Einkommensgruppe unter 1.250 Euro vertreten.                                              
Je besser ausgebildet die Wähler waren, desto eher planten sie, Macron zu wählen: Während 45 % der WählerInnen mit einem geringeren Bildungsabschluss als dem bac, d.h. dem französischen Abitur, planten, für LePen zu stimmen, waren es bei WählerInnen mit mindestens dem bac+3, d.h. WählerInnen mit dreijährigem Studium und Erwerb der licence, nur 19 %.[25]
Wie schon bei früheren Wahlen in Österreich hat die FPÖ auch 2017 unter Arbeitern besonders gut abgeschnitten. Insgesamt gaben hier 59 % ihre Stimme den Freiheitlichen (bei einem Wahlergebnis von 26 %). Die Sozialdemokraten, die klassischen Vertreter der Arbeiter, kamen in dieser Bevölkerungsgruppe nur noch auf 19 %.[26]

Dies ist nicht zuletzt auch Ausfluss eines fiskal- und sozialpolitischen Defizits der vertieften europäischen Integration über die Verträge von Maastricht und Amsterdam, in der die Balance zwischen Freiheits-, Gleichheits- und Solidaritätsversprechen zu zerbrechen und das Versprechen auf Wohlstand für alle zur Chimäre zu werden droht.[27] Ein Vergleich zwischen deutscher Wiedervereinigung und europäischer Integration belegt insoweit paradigmatisch bemerkenswerte Unterschiede: die deutsche Wiedervereinigung wurde innenpolitisch durch den Abschluss einer Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion besiegelt, während der Euro nur im Rahmen einer Wirtschafts- und Währungsunion eingeführt wurde, bei der schon nominell die soziale Komponente fehlte und die wirtschaftliche Angleichung der Lebensverhältnisse in der EU weder vertraglich hinreichend vorgegeben noch im Zeichen der nationalen Prägung des politischen Diskurses bei Wahlen erfolgversprechend erscheint.

Gefahren für Europa im Lichte der Grundwerte der EU – eine europarechtliche Einordnung

Nicht jede Gegnerschaft zu bisherigen sekundärrechtlichen Akten der EU, verbunden mit dem Wunsch, diese in unionsrechtskonformer Weise zu ändern, begründet eine Gegnerschaft zur EU. Selbst der Wille zur Änderung von EUV und AEUV als „Verfassungsurkunden“ der EU begründet eine solche Gegnerschaft. Die Gegnerschaft geht vielmehr nur mit einer Ablehnung der Grundwerte der EU einher, die nunmehr in Art. 2 EUV verankert sind:
„Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet.“
Es handelt sich hierbei nicht um isoliert der EU eigene Grundwerte. Auch europäische Staaten, die (noch) nicht der EU angehörten oder angehören, wie z.B. die Türkei und die damalige UdSSR, aber auch außereuropäische Staaten wie Kanada und die USA, haben sich mit der „Charta von Paris für ein neues Europa“[28] als Schlussdokument der KSZE-Sondergipfelkonferenz am 21. November 1990 kurz nach der Wiedervereinigung Deutschlands auf Grundwerte verständigt, die mit denen des Art. 2 EUV im Wesentlichen deckungsgleich sind. Dies gilt nicht zuletzt für das Bekenntnis zu Menschenrechten, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Auch für die Nicht-EU-Mitgliedstaaten Türkei und Russische Föderation beansprucht diese Charta fortdauernde Geltung.
Nicht jede Verletzung eines der vorgenannten Grundwerte begründet eine Gegnerschaft zu Europa. Dies ist – in Anlehnung an Art. 7 EUV – nur bei einer nachhaltigen Ablehnung dieser Grundwerte der Fall, insbesondere dann, wenn sich diese qualifizierte Gegnerschaft in einer staatlichen wiederholten Verletzung dieser Werte äußert.[29]
Eine solche nachhaltige Ablehnung stellt es z.B. dar, wenn die FPÖ in ihrem Wahlprogramm zur Nationalratswahl 2017 ausschließlich österreichische Staatsbürger in den Genuss ihrer „Forderungen zur Beseitigung der Fairness-Krise“ gelangen lassen will, die EMRK durch eine „Österreichische Menschenrechtskonvention“, „die auch das Heimatrecht der Österreicher schützt“, ersetzen will, und eine „sektorale Schließung des österreichischen Arbeitsmarktes für EU-Ausländer und Drittstaatsangehörige zum Schutz heimischer Arbeitnehmer“ fordert.[30]
Eine besondere Gefährdungslage für Europa – Einschränkungen der Freiheit und Missachtung der Verantwortung der Medien
Als Karl Fürst zu Schwarzenberg, der frühere tschechische Außenminister, gefragt wurde, was denn der größte Konstruktionsfehler bei der Osterweiterung der Europäischen Union wäre, wies er auf die fehlende Unabhängigkeit der Justiz hin. Das ist richtig, greift aber zu kurz. Denn die Freiheit der Medien ist genauso wichtig für eine demokratische Gesellschaft.[31] Aber die EU wird nicht nur durch einen zunehmenden Zugriff staatlicher Stellen auf die Medien sowie durch die Ballung von politischer und medialer Macht bedroht.[32] In nennenswertem Umfang erfolgt eine solche Gefährdung bereits heute auch durch Hass und Fake News in sozialen Netzwerken. Um Gefahren für das Projekt Europa im Zeitalter von Digitalisierung und Globalisierung nachhaltig abwehren und eindämmen zu können, bedarf es deshalb auch einer werteorientierten Kommunikationsordnung, die das Internet nicht als de facto unregulierbaren Raum toleriert, sondern den Jugendschutz und den Schutz der Menschenwürde auch digital ernst nimmt.
Die geplante Digitalunion[33] ist insoweit ein wichtiger, aber noch nicht hinreichender Schritt. Zur Selbstbehauptung Europas braucht es auch den Mut, gegen außereuropäische Intermediäre wie Google oder Facebook europäische Konkurrenten in Stellung zu bringen. Nur mit einer digitalen Industriepolitik Europas behält es seine Wettbewerbsfähigkeit, ohne die seine soziale Dimension nicht ausbaubar ist.  Auch Kleinmütigkeit stellt deshalb eine Gefahr für ein demokratisches, freies, solidarisches und soziales Europa dar.

DR. JÖRG UKROW   war viele Jahre lang Rundfunkreferent in der Saarländischen Staatskanzlei sowie als Lehrbeauftragter am Europa-Institut, Sektion Rechtswissenschaft tätig. Seit 2011 ist er Landesvorsitzender der Europa-Union Saar sowie seit diesem Jahr geschäftsführendes Vorstandsmitglied des Instituts für Europäisches Medienrecht (EMR).

Anmerkungen:

1 Vgl. Krastev, Europadämmerung, 2017, S. 129 f.

2 TINA = There is no alternative.

3 Vgl. Juncker, Rede zur Lage der Union 2017, http://europa.eu/rapid/press-release_SPEECH-17-3165_de.htm; Report by President Donald Tusk to the European Parliament on October European Council meetings and presentation of the Leaders‘ Agenda, http://www.european-council.europa.eu/en/press/press-releases/2017/10/24/tusk-report-european-parliament-strasbourg/pdf

4 Vgl. insbesondere die Europa-Rede des französischen Präsidenten Macron am 26. September 2017 http://www.elysee.fr/declarations/article/initiative-pour-l-europe-discours-d-emmanuelmacron-pour-une-europe-souveraine-unie-democratique/

5 Zu einer solchen Dystopie vgl. Ukrow, Wächst Europa an seinen rechtspopulistischen Feinden? Vorgänge Nr. 216 (4/2016), S. 47 ff.

6 Vgl. https://www.interieur.gouv.fr/Elections/Les-resultats/Presidentielles/elecresult__presidentielle-2017/(path)/presidentielle-2017/FE.html

7 Vgl. https://www.interieur.gouv.fr/Elections/Les-resultats/Legislatives/elecresult__legislatives-2017/(path)/legislatives-2017/FE.html. Der Front National scheint seit den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in eine verschärfte innerparteiliche Krise zu geraten; vgl. https://www.eurotopics.net/de/186557/schwaecht-machtkampf-den-front-national.

8 Vgl. melenchon.fr/2016/09/23/plan-b-continue-chemin/ sowie z.B. Rousset/Mazuir, Jean-Luc Mélenchon : son résultat à la présidentielle, son parcours, son programme, https://www.lesechos.fr/elections/dossiers/0211690187738/0211690187738-presidentielle-2017-jean-luc-melenchon-sa-campagne-son-projet-2057500.php#DGRlqRvtEWYYqjoB.99

9 Vgl. http://www.bmi.gv.at/412/Bundespraesidentenwahlen/Bundespraesidentenwahl_2016/files/Kundmachung_BWB_BPW16_Ergebnis_2WG_WH.pdf

10 Vgl. http://www.sora.at/themen/wahlverhalten/wahlanalysen/waehlerstromanalysen/nrw17.html

11 Vgl. https://www.kiesraad.nl/adviezen-en-publicaties/rapporten/2017/3/kerngegevens-tweedekamerverkiezing-2017/kerngegevens-tweede-kamerverkiezing-2017

12 https://www.heise.de/tp/features/Niederlande-Viererkoalition-aus-Wirtschaftsliberalen-Linksliberalen-Katholiken-und-Kalvinisten-3856203.html

13 Vgl. http://www.spiegel.de/politik/ausland/bulgarien-populisten-dominieren-bei-wahl-im-aermsten-eu-land-a-1140110.html

14 Vgl. Hassel, Tschechien rückt nach rechts, SZ v. 23.10.2017, S. 1; van de Rakt, Nach der Wahl in Tschechien: Das Ende der liberalen Demokratie in „Osteuropa“?, https://www.boell.de/de/2017/10/26/tschechien-nach-der-wahl

15 Vgl. wahl16.bmi.gv.at/1604-0.html

16 Vgl. www.bmi.gv.at/412/Bundespraesidentenwahlen/Historischer_Rueckblick.aspx

17 Vgl. researchbriefings.parliament.uk/ResearchBriefing/Summary/CBP-7979

18 Beim Brexit-Referendum wurden keine umfassenden Nachwahlbefragungen durchgeführt. Präzise Daten zur Wählerstruktur und dem Abstimmverhalten gibt es deshalb nicht, wohl aber Hinweise durch Umfragen bei insgesamt 3766 Wählern des britischen Meinungsforschungsinstitut YouGov und der Zeitung „The Times“ vom 20. bis 22. Juni 2016 kurz vor dem Referendum.

19 In einer Umfrage der Forschungsabteilung des Soziologischen Instituts CVVM gaben im Sommer 2017 nur 56 % der Befragten an, dass sie der EU-Mitgliedschaft des Landes zustimmen. 76 % meinten, dass Tschechien nicht ausreichend Einfluss auf Entscheidungen und Verhandlungen in der EU habe. Vgl. van de Rakt, Nach der Wahl in Tschechien: Das Ende der liberalen Demokratie in „Osteuropa“?, https://www.boell.de/de/2017/10/26/tschechien-nach-der-wahl

20 Vgl. van de Rakt, Nach der Wahl in Tschechien: Das Ende der liberalen Demokratie in „Osteuropa“? https://www.boell.de/de/2017/10/26/tschechien-nach-der-wahl.

21 Vgl. https://www.franceculture.fr/politique/age-diplome-revenus-qui-vote-macron-qui-vote-lepen

22 Vgl. hierzu z.B. https://www.theguardian.com/world/2017/may/04/french-election-marine-lepen-and-emmanuel-macron-trade-insults-in-tv-debate

23 Vgl. hierzu Bauman, Retrotopia, 2017, S. 15

24 Ländliche Gebiete: 43 % LePen – 57 % Macron; Städte mit 100.000 Einwohnern und Großraum Paris 28 % LePen – 72 % Macron; vgl. https://www.franceculture.fr/politique/age-diplome-revenus-quivote-macron-qui-vote-le-pen.

25 Vgl. https://www.franceculture.fr/politique/age-diplome-revenus-qui-vote-macron-qui-vote-lepen.

26 Vgl. Brunner/Moscovici, Wer in Österreich wen gewählt hat, http://www.sueddeutsche.de/politik/waehlergruppen-breite-basis-fuer-kurz-1.3710242.

27 Vgl. Guérot, Der neue Bürgerkrieg, 2017, S. 23 ff.

28 Vgl. www.bundestag.de/blob/189558/21543d1184c1f627412a3426e86a97cd/charta-data.pdf

29 Die Bedeutung dieser nicht zuletzt auch grundrechtlichen Komponente des europäischen Grundwerte-Kanons hat der österreichische Bundespräsident Van der Bellen anlässlich der Beauftragung des Vorsitzenden der ÖVP, Sebastian Kurz, mit der Regierungsbildung in Österreich am 20. Oktober 2017 unterstrichen; vgl. http://www.bundespraesident.at/newsdetail/artikel/erklaerung-desbundespraesidenten-zum-regierungsbildungsauftrag-an-sebastian-kurz/

30 Vgl. https://www.fpoe.at/fileadmin/user_upload/www.fpoe.at/dokumente/2017/Wahlprogramm2017/Wahlprogramm_8_9_low.pdf.

31 Vgl. Siebenhaar, Verteidiger der Demokratie gesucht, http://www.handelsblatt.com/unternehmen/it-medien/medienkommissar/der-medien-kommissar-verteidiger-der-demokratie-gesucht-/20490666.html.

32 So ist z.B. der Aufstieg von Andrej Babiš ohne sein Medienimperium kaum vorstellbar. Vgl. Siebenhaar,Verteidiger der Demokratie gesucht, http://www.handelsblatt.com/unternehmen/it-medien/medienkommissar/der-medien-kommissar-verteidiger-der-demokratie-gesucht-/20490666.html.

33 Vgl. http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/diginomics/mariya-gabriel-im-interview-kein-europaeisches-google-15266391.html?printPagedArticle=true#pageIndex_0.

DR. JÖRG UKROW   war viele Jahre lang Rundfunkreferent in der Saarländischen Staatskanzlei sowie als Lehrbeauftragter am Europa-Institut, Sektion Rechtswissenschaft tätig. Seit 2011 ist er Landesvorsitzender der Europa-Union Saar sowie seit diesem Jahr geschäftsführendes Vorstandsmitglied des Instituts für Europäisches Medienrecht (EMR).

Anmerkungen:

1 Vgl. Krastev, Europadämmerung, 2017, S. 129 f.

2 TINA = There is no alternative.

3 Vgl. Juncker, Rede zur Lage der Union 2017, http://europa.eu/rapid/press-release_SPEECH-17-3165_de.htm; Report by President Donald Tusk to the European Parliament on October European Council meetings and presentation of the Leaders‘ Agenda, http://www.european-council.europa.eu/en/press/press-releases/2017/10/24/tusk-report-european-parliament-strasbourg/pdf

4 Vgl. insbesondere die Europa-Rede des französischen Präsidenten Macron am 26. September 2017 http://www.elysee.fr/declarations/article/initiative-pour-l-europe-discours-d-emmanuelmacron-pour-une-europe-souveraine-unie-democratique/

5 Zu einer solchen Dystopie vgl. Ukrow, Wächst Europa an seinen rechtspopulistischen Feinden? Vorgänge Nr. 216 (4/2016), S. 47 ff.

6 Vgl. https://www.interieur.gouv.fr/Elections/Les-resultats/Presidentielles/elecresult__presidentielle-2017/(path)/presidentielle-2017/FE.html

7 Vgl. https://www.interieur.gouv.fr/Elections/Les-resultats/Legislatives/elecresult__legislatives-2017/(path)/legislatives-2017/FE.html. Der Front National scheint seit den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in eine verschärfte innerparteiliche Krise zu geraten; vgl. https://www.eurotopics.net/de/186557/schwaecht-machtkampf-den-front-national.

8 Vgl. melenchon.fr/2016/09/23/plan-b-continue-chemin/ sowie z.B. Rousset/Mazuir, Jean-Luc Mélenchon : son résultat à la présidentielle, son parcours, son programme, https://www.lesechos.fr/elections/dossiers/0211690187738/0211690187738-presidentielle-2017-jean-luc-melenchon-sa-campagne-son-projet-2057500.php#DGRlqRvtEWYYqjoB.99

9 Vgl. http://www.bmi.gv.at/412/Bundespraesidentenwahlen/Bundespraesidentenwahl_2016/files/Kundmachung_BWB_BPW16_Ergebnis_2WG_WH.pdf

10 Vgl. http://www.sora.at/themen/wahlverhalten/wahlanalysen/waehlerstromanalysen/nrw17.html

11 Vgl. https://www.kiesraad.nl/adviezen-en-publicaties/rapporten/2017/3/kerngegevens-tweedekamerverkiezing-2017/kerngegevens-tweede-kamerverkiezing-2017

12 https://www.heise.de/tp/features/Niederlande-Viererkoalition-aus-Wirtschaftsliberalen-Linksliberalen-Katholiken-und-Kalvinisten-3856203.html

13 Vgl. http://www.spiegel.de/politik/ausland/bulgarien-populisten-dominieren-bei-wahl-im-aermsten-eu-land-a-1140110.html

14 Vgl. Hassel, Tschechien rückt nach rechts, SZ v. 23.10.2017, S. 1; van de Rakt, Nach der Wahl in Tschechien: Das Ende der liberalen Demokratie in „Osteuropa“?, https://www.boell.de/de/2017/10/26/tschechien-nach-der-wahl

15 Vgl. wahl16.bmi.gv.at/1604-0.html

16 Vgl. www.bmi.gv.at/412/Bundespraesidentenwahlen/Historischer_Rueckblick.aspx

17 Vgl. researchbriefings.parliament.uk/ResearchBriefing/Summary/CBP-7979

18 Beim Brexit-Referendum wurden keine umfassenden Nachwahlbefragungen durchgeführt. Präzise Daten zur Wählerstruktur und dem Abstimmverhalten gibt es deshalb nicht, wohl aber Hinweise durch Umfragen bei insgesamt 3766 Wählern des britischen Meinungsforschungsinstitut YouGov und der Zeitung „The Times“ vom 20. bis 22. Juni 2016 kurz vor dem Referendum.

19 In einer Umfrage der Forschungsabteilung des Soziologischen Instituts CVVM gaben im Sommer 2017 nur 56 % der Befragten an, dass sie der EU-Mitgliedschaft des Landes zustimmen. 76 % meinten, dass Tschechien nicht ausreichend Einfluss auf Entscheidungen und Verhandlungen in der EU habe. Vgl. van de Rakt, Nach der Wahl in Tschechien: Das Ende der liberalen Demokratie in „Osteuropa“?, https://www.boell.de/de/2017/10/26/tschechien-nach-der-wahl

20 Vgl. van de Rakt, Nach der Wahl in Tschechien: Das Ende der liberalen Demokratie in „Osteuropa“? https://www.boell.de/de/2017/10/26/tschechien-nach-der-wahl.

21 Vgl. https://www.franceculture.fr/politique/age-diplome-revenus-qui-vote-macron-qui-vote-lepen

22 Vgl. hierzu z.B. https://www.theguardian.com/world/2017/may/04/french-election-marine-lepen-and-emmanuel-macron-trade-insults-in-tv-debate

23 Vgl. hierzu Bauman, Retrotopia, 2017, S. 15

24 Ländliche Gebiete: 43 % LePen – 57 % Macron; Städte mit 100.000 Einwohnern und Großraum Paris 28 % LePen – 72 % Macron; vgl. https://www.franceculture.fr/politique/age-diplome-revenus-quivote-macron-qui-vote-le-pen.

25 Vgl. https://www.franceculture.fr/politique/age-diplome-revenus-qui-vote-macron-qui-vote-lepen.

26 Vgl. Brunner/Moscovici, Wer in Österreich wen gewählt hat, http://www.sueddeutsche.de/politik/waehlergruppen-breite-basis-fuer-kurz-1.3710242.

27 Vgl. Guérot, Der neue Bürgerkrieg, 2017, S. 23 ff.

28 Vgl. www.bundestag.de/blob/189558/21543d1184c1f627412a3426e86a97cd/charta-data.pdf

29 Die Bedeutung dieser nicht zuletzt auch grundrechtlichen Komponente des europäischen Grundwerte-Kanons hat der österreichische Bundespräsident Van der Bellen anlässlich der Beauftragung des Vorsitzenden der ÖVP, Sebastian Kurz, mit der Regierungsbildung in Österreich am 20. Oktober 2017 unterstrichen; vgl. http://www.bundespraesident.at/newsdetail/artikel/erklaerung-desbundespraesidenten-zum-regierungsbildungsauftrag-an-sebastian-kurz/

30 Vgl. https://www.fpoe.at/fileadmin/user_upload/www.fpoe.at/dokumente/2017/Wahlprogramm2017/Wahlprogramm_8_9_low.pdf.

31 Vgl. Siebenhaar, Verteidiger der Demokratie gesucht, http://www.handelsblatt.com/unternehmen/it-medien/medienkommissar/der-medien-kommissar-verteidiger-der-demokratie-gesucht-/20490666.html.

32 So ist z.B. der Aufstieg von Andrej Babiš ohne sein Medienimperium kaum vorstellbar. Vgl. Siebenhaar,Verteidiger der Demokratie gesucht, http://www.handelsblatt.com/unternehmen/it-medien/medienkommissar/der-medien-kommissar-verteidiger-der-demokratie-gesucht-/20490666.html.

33 Vgl. http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/diginomics/mariya-gabriel-im-interview-kein-europaeisches-google-15266391.html?printPagedArticle=true#pageIndex_0.

Eine weitgehende Gemeinsamkeit der jüngsten Wahlen ist der Niedergang der sozialdemokratischen Parteienfamilie in Europa.

Bei den Präsidentschaftswahlen in Frankreich erreichte der Kandidat der Parti Socialiste  Benoît Hamon im ersten Wahlgang am 23. April 2017 mit 2.291.288 Stimmen und einem Stimmenanteil von 6,36 % der abgegebenen Stimmen weit abgeschlagen erstmalig in der Geschichte der französischen Präsidentschaftswahlen nur den fünften Platz unter den BewerberInnen. Das Debakel für den PS setzte sich bei den anschließenden Parlamentswahlen vor: Dort gewannen KandidatInnen der Parti Socialiste im ersten Wahlgang am 11. Juni 2017 mit 1.685.677 Stimmen nur 7,44 % der abgegebenen Stimmen, im zweiten Wahlgang mit 1.032.842 Stimmen nur noch 5,68 % der abgegebenen Stimmen und damit 30 von 577 Mandaten in der Nationalversammlung.
Beim ersten Wahlgang der österreichischen Präsidentschaftswahlen errang der Kandidat der SPÖ Rudolf Hundstorfer am 24. April 2016 lediglich 482.790 Stimmen und einen Stimmenanteil von 11,28 %.[15] Erstmalig in der Geschichte der zweiten österreichischen Republik nach 1945 gelang damit einer von der SPÖ unterstützten Person nicht der Einzug zumindest in die zweite Runde der Präsidentschaftswahlen.[16]
Dieses Debakel (das in vergleichbarer Weise auch die ÖVP erlitt), konnte die SPÖ bei den Nationalratswahlen 2017 nicht ausgleichen: Die SPÖ unter Vorsitz von Bundeskanzler Christian Kern gewann mit 1.361.746 Stimmen einen Stimmanteil von 26,86 % (2013: 1.258.605 Stimmen / 26,82 %) und konnte damit ihren absoluten Stimmenanteil zwar erhöhen, aber ihr prozentual schlechtestes Ergebnis von 2013 nur marginal verbessern.
Den größten Verlust bei den niederländischen Parlamentswahlen erlitt die sozialdemokratische Partij van de Arbeid, die nur noch 5,7 % und damit ihr historisch schlechtestes Wahlergebnis erreichte – nachdem sie 2012 mit 24,8 % noch (knapp hinter der VVD) zweitstärkste parteipolitische Kraft und Regierungspartei geworden war.
Den größten Verlust bei den tschechischen Parlamentswahlen erlitt die sozialdemokratische ?SSD, die nur noch 7 % und damit ihr historisch schlechtestes Wahlergebnis erreichte – nachdem sie 2013 mit 20,5 % noch Wahlsiegerin gewesen war.

Mit Blick auf die traditionell antinationalistische und proeuropäische Ausrichtung dieser Parteienfamilie und die Probleme, die mit diesem Niedergang für den demokratischen Diskurs über die Zukunft unserer Gesellschaft verbunden sein können, ist auch dieser Entwicklung ein Gefährdungspotential für Europa eigen.
Einen Ausreißer aus diesem Niedergang bildet lediglich die Labour Party unter Vorsitz von Jeremy Corbyn: Sie erhielt bei den vorgezogenen Unterhauswahlen am 8. Juni 2017 40 % der Stimmen (ein Zuwachs von 9,5 %) und konnte die Anzahl ihrer Sitze im Unterhaus, in dem die konservative Premierministerin May nunmehr eine von der nordirischen DUP tolerierte Minderheitsregierung führt, im Vergleich zur vorherigen Wahl 2015 auf 262 von 650 Abgeordneten (+30) steigern.[17]
Soziodemographische Erkenntnisse aus den jüngsten Wahlen und Abstimmungen
Je älter WählerInnen sind, um so stärker sind tendenziell EU-kritische Einstellungen aktivierbar.

Beim britischen Referendum zur EU-Mitgliedschaft präferierten ältere Bevölkerungsteile den Brexit, jüngere den Verbleib in der EU.[18] Bei den über 65-Jährigen lag die Zustimmung zum EU-Austritt bei 63 %, bei den 50- bis 64-Jährigen immerhin noch bei 56 %. Unter den 25-49-Jährigen waren hingegen 55 % sog. Remainers, bei den 18-24-Jährigen sogar 80 %.
Hinter dem Wahlerfolg von Sebastian Kurz in Österreich steht zwar keine einzelne Bevölkerungsgruppe. Allerdings waren seine Zustimmungswerte bei den über 60-Jährigen mit 36 % (Stimmenanteil insgesamt: 31,6 %) am höchsten. Bei den bis 29-Jährigen holte die Partei demgegenüber nur 28 %, bei den 30 bis 59-Jährigen 31 %. Fast spiegelbildlich hierzu stellen sich die Werte bei der FPÖ dar: Diese schnitt bei den bis 29-Jährigen (bei einem Stimmenanteil von 26 % insgesamt) mit 30 % am besten und bei den über 60-Jährigen mit 19 % am schlechtesten ab.
In einem mehrheitlich EU-kritisch eingestellten gesellschaftlichen Umfeld[19] wurde Andrej Babiš mit seiner Bewegung ANO mit einem Programm, das auf die Prioritäten  „Sicherheit“, „effektiver und wirtschaftlicher Staat“, „Investitionen in unser Land“, „Investitionen in unsere Leute“ setzte, vor allem von mittleren und älteren Altersgruppen gewählt. Bei den über 60-Jährigen erzielte er bei einem Gesamt-Stimmenanteil bei den tschechischen Parlamentswahlen von 29,6 % sogar 41 %.[20]
Ein disparateres Bild zeigt sich insoweit bei den Präsidentschaftswahlen in Frankreich: Die schwächste Zustimmung erfuhr LePen dort nach Befragungen zwischen erstem und zweitem Wahlgang in der Altersgruppe der 60-69-Jährigen (30 %) sowie der Altersgruppe der mindestens 70 Jahre alten WählerInnen (22 %). Aber auch bei den 18-24-Jährigen waren die Zustimmungswerte für LePen unterdurchschnittlich (34 %). Diese Wählergruppe, die in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen noch mit relativer Mehrheit Jean-Luc Mélenchon gewählt hatten, äußerten in der Befragung kurz vor der Stichwahl mit deutlicher Mehrheit (66 %) die Absicht, Macron zu wählen. Die stärkste Zustimmung erfuhr LePen in der Altersgruppe zwischen 35 und 49 Jahren (43 %).[21] Die über sämtlichen Bevölkerungsgruppen beobachtbaren Einbrüche in den Zustimmungswerten für LePen dürften nicht zuletzt auch in ihrer übereinstimmend als wenig sachkundig und präsidentiell empfundenen Performance bei dem TV-Duell mit Macron begründet liegen.[22]

Manches spricht dafür, dass ältere MitbürgerInnen stärker als jüngere in Zeiten tatsächlicher oder  vermeintlicher politischer, ökonomischer oder gesellschaftlicher Krisen zu einer nostalgischen „Kehrtwende ins Gestern“  neigen und unter der Sehnsucht nach der „guten alten Zeit“ leiden, in der die Dinge noch unilateraler und vor allem überschaubarer schienen.[23] Jüngere Mitbürgerinnen, die nur die Zeit der europäischen Erweiterung und Vertiefung kennen, können sich ein Leben mit Grenzen längst nicht mehr vorstellen.
Eine zweite Erkenntnis aus den untersuchten Wahlen: In städtischen Milieus sind tendenziell EU-kritische Einstellungen weniger stark verbreitet als in ländlichen.

Die WählerInnen in den großen britischen Städten stimmten in vielen Fällen gegen den EU-Austritt. In London waren fast 60 % der Wähler Remainers, in Manchester sogar mehr als 60 %, in Liverpool 58,2 %. In ländlichen Regionen wie Yorkshire war demgegenüber der Anteil der Brexiteers besonders stark. Im dortigen Wahlbezirk East Lindsey etwa stimmten 71 % und damit nahezu drei Viertel der Wähler für den Brexit. Hier erzielte die UKIP auch in der Vergangenheit große Erfolge.
Befragungen zwischen erstem und zweitem Wahlgang bei der Präsidentschaftswahl in Frankreich zufolge war der Anteil von Personen, die LePen wählen wollten, in Städten mit mehr als 100.000 Einwohnern am geringsten, in ländlichen Gebieten am höchsten.[24]
Die proeuropäisch eingestellte tschechische Partei TOP 09 erzielte in Prag mit 13 % ihren höchsten Stimmenanteil; außerhalb der Hauptstadt schnitt sie erheblich schwächer ab.

Im Hinblick auf die Zukunft des Projekts Europa besonders bedeutsam ist eine dritte Erkenntnis: Bei ArbeiterInnen und Personen mit geringem Bildungs- und Berufsabschluss sind tendenziell EU-kritische Einstellungen stärker aktivierbar als bei sozial besser gestellten Bevölkerungsgruppen mit höherem Bildungs- und Berufsabschluss.

In der YouGov-Umfrage vom Juni 2016 sprachen sich unter den Befragten der so genannten „ABC1“-Gruppe, die in der britischen Marktforschung die Mitglieder einer der drei höchsten sozioökonomischen Gruppen bezeichnet, 59 % klar für einen Verbleib in der EU aus. In der „C2DE“-Gruppe der drei niedriger gestellten Schichten votierten hingegen 61 % für den Brexit.
Befragungen zwischen erstem und zweitem Wahlgang bei der Präsidentschaftswahl in Frankreich zufolge verdienen Macron-Wähler mehr Geld als die seiner Kontrahentin. 75 % der Befragten, die im 2. Wahlgang für Macron stimmen wollten, haben in ihrem Haushalt mehr als 3.000 Euro zur Verfügung. Befragte mit der Absicht, Le Pen zu wählen, sind mit 45 % dagegen am ehesten in der Einkommensgruppe unter 1.250 Euro vertreten.                                              
Je besser ausgebildet die Wähler waren, desto eher planten sie, Macron zu wählen: Während 45 % der WählerInnen mit einem geringeren Bildungsabschluss als dem bac, d.h. dem französischen Abitur, planten, für LePen zu stimmen, waren es bei WählerInnen mit mindestens dem bac+3, d.h. WählerInnen mit dreijährigem Studium und Erwerb der licence, nur 19 %.[25]
Wie schon bei früheren Wahlen in Österreich hat die FPÖ auch 2017 unter Arbeitern besonders gut abgeschnitten. Insgesamt gaben hier 59 % ihre Stimme den Freiheitlichen (bei einem Wahlergebnis von 26 %). Die Sozialdemokraten, die klassischen Vertreter der Arbeiter, kamen in dieser Bevölkerungsgruppe nur noch auf 19 %.[26]

Dies ist nicht zuletzt auch Ausfluss eines fiskal- und sozialpolitischen Defizits der vertieften europäischen Integration über die Verträge von Maastricht und Amsterdam, in der die Balance zwischen Freiheits-, Gleichheits- und Solidaritätsversprechen zu zerbrechen und das Versprechen auf Wohlstand für alle zur Chimäre zu werden droht.[27] Ein Vergleich zwischen deutscher Wiedervereinigung und europäischer Integration belegt insoweit paradigmatisch bemerkenswerte Unterschiede: die deutsche Wiedervereinigung wurde innenpolitisch durch den Abschluss einer Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion besiegelt, während der Euro nur im Rahmen einer Wirtschafts- und Währungsunion eingeführt wurde, bei der schon nominell die soziale Komponente fehlte und die wirtschaftliche Angleichung der Lebensverhältnisse in der EU weder vertraglich hinreichend vorgegeben noch im Zeichen der nationalen Prägung des politischen Diskurses bei Wahlen erfolgversprechend erscheint.

Gefahren für Europa im Lichte der Grundwerte der EU – eine europarechtliche Einordnung

Nicht jede Gegnerschaft zu bisherigen sekundärrechtlichen Akten der EU, verbunden mit dem Wunsch, diese in unionsrechtskonformer Weise zu ändern, begründet eine Gegnerschaft zur EU. Selbst der Wille zur Änderung von EUV und AEUV als „Verfassungsurkunden“ der EU begründet eine solche Gegnerschaft. Die Gegnerschaft geht vielmehr nur mit einer Ablehnung der Grundwerte der EU einher, die nunmehr in Art. 2 EUV verankert sind:
„Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet.“
Es handelt sich hierbei nicht um isoliert der EU eigene Grundwerte. Auch europäische Staaten, die (noch) nicht der EU angehörten oder angehören, wie z.B. die Türkei und die damalige UdSSR, aber auch außereuropäische Staaten wie Kanada und die USA, haben sich mit der „Charta von Paris für ein neues Europa“[28] als Schlussdokument der KSZE-Sondergipfelkonferenz am 21. November 1990 kurz nach der Wiedervereinigung Deutschlands auf Grundwerte verständigt, die mit denen des Art. 2 EUV im Wesentlichen deckungsgleich sind. Dies gilt nicht zuletzt für das Bekenntnis zu Menschenrechten, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Auch für die Nicht-EU-Mitgliedstaaten Türkei und Russische Föderation beansprucht diese Charta fortdauernde Geltung.
Nicht jede Verletzung eines der vorgenannten Grundwerte begründet eine Gegnerschaft zu Europa. Dies ist – in Anlehnung an Art. 7 EUV – nur bei einer nachhaltigen Ablehnung dieser Grundwerte der Fall, insbesondere dann, wenn sich diese qualifizierte Gegnerschaft in einer staatlichen wiederholten Verletzung dieser Werte äußert.[29]
Eine solche nachhaltige Ablehnung stellt es z.B. dar, wenn die FPÖ in ihrem Wahlprogramm zur Nationalratswahl 2017 ausschließlich österreichische Staatsbürger in den Genuss ihrer „Forderungen zur Beseitigung der Fairness-Krise“ gelangen lassen will, die EMRK durch eine „Österreichische Menschenrechtskonvention“, „die auch das Heimatrecht der Österreicher schützt“, ersetzen will, und eine „sektorale Schließung des österreichischen Arbeitsmarktes für EU-Ausländer und Drittstaatsangehörige zum Schutz heimischer Arbeitnehmer“ fordert.[30]
Eine besondere Gefährdungslage für Europa – Einschränkungen der Freiheit und Missachtung der Verantwortung der Medien
Als Karl Fürst zu Schwarzenberg, der frühere tschechische Außenminister, gefragt wurde, was denn der größte Konstruktionsfehler bei der Osterweiterung der Europäischen Union wäre, wies er auf die fehlende Unabhängigkeit der Justiz hin. Das ist richtig, greift aber zu kurz. Denn die Freiheit der Medien ist genauso wichtig für eine demokratische Gesellschaft.[31] Aber die EU wird nicht nur durch einen zunehmenden Zugriff staatlicher Stellen auf die Medien sowie durch die Ballung von politischer und medialer Macht bedroht.[32] In nennenswertem Umfang erfolgt eine solche Gefährdung bereits heute auch durch Hass und Fake News in sozialen Netzwerken. Um Gefahren für das Projekt Europa im Zeitalter von Digitalisierung und Globalisierung nachhaltig abwehren und eindämmen zu können, bedarf es deshalb auch einer werteorientierten Kommunikationsordnung, die das Internet nicht als de facto unregulierbaren Raum toleriert, sondern den Jugendschutz und den Schutz der Menschenwürde auch digital ernst nimmt.
Die geplante Digitalunion[33] ist insoweit ein wichtiger, aber noch nicht hinreichender Schritt. Zur Selbstbehauptung Europas braucht es auch den Mut, gegen außereuropäische Intermediäre wie Google oder Facebook europäische Konkurrenten in Stellung zu bringen. Nur mit einer digitalen Industriepolitik Europas behält es seine Wettbewerbsfähigkeit, ohne die seine soziale Dimension nicht ausbaubar ist.  Auch Kleinmütigkeit stellt deshalb eine Gefahr für ein demokratisches, freies, solidarisches und soziales Europa dar.

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