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„Zwischen rechtlicher Freiheit und sozialer Ungleich­heit“

Kommentar zum Artikel von Thomas Flint. In: vorgänge Nr. 219 (3/2017), S. 61-65

Dass der deutsche Sozialstaat nicht befriedigend funktioniert, dafür liefert die Praxis am Sozialgericht zahlreiche Hinweise. Woran dies liegt, daran scheiden sich aber die Geister, wie der folgende Kommentar eines jungen Berliner Sozialrichters zeigt. Dass die Unzufriedenheit der Betroffenen einer zunehmenden Versorgungsmentalität und Erwartungshaltung geschuldet sei, bezweifelt Thurn angesichts der realen Kürzung sozialpolitischer Leistungen in den vergangenen Jahrzehnten.

I.

Nach Thomas Flints „Erfahrungen als Richter in der Sozialgerichtsbarkeit“ herrscht in Deutschland inzwischen eine „Versorgungsmentalität“, die einhergeht mit „Freiheitsverzicht“ und „Verantwortungsentledigung der Gesellschaft“ an den Staat, ohne dass dadurch größere „Zufriedenheit der Einzelnen“ erreicht würde. Die „fordernde Erwartungshaltung“, wonach es „nie genug“ sei, sondern „immer mehr werden“ müsse, führe mit dazu, dass sich „den Beteiligten im Sozialgerichtsverfahren das geltende Recht […] kaum als einfach erkennbar und in der Sache gerecht erklären lässt“. Statt mehr Sozialstaat brauche es „mehr Freiheit und Eigenverantwortung“ für eine „vitale Freiheitsordnung“ und einen „Kapitalismus mit menschlichem Antlitz“.

Als erst seit Anfang 2015 in der Sozialgerichtsbarkeit tätiger Richter kann ich nicht aus eigener Anschauung beurteilen, inwieweit sich die Erwartungen oder die Mentalitäten der Klägerinnen und Kläger langfristig verändert haben. Flints Beobachtung, wonach immer höhere Sozialleistungen erwartet würden, obwohl sie doch schon zu einer „enormen sozialen Sicherung und gesellschaftlichen Umverteilung“ geführt hätten, passt allerdings für meine Begriffe ohnehin schlecht in die heutige Zeit. Die Periode allgemeiner wohlfahrtsstaatlicher Expansion in der Bundesrepublik ist seit gut vier Jahrzehnten beendet; als letzte strukturelle Ausweitung wurde vor über 20 Jahren die Soziale Pflegeversicherung eingeführt. Seit der Jahrtausendwende sind dagegen bekanntlich – um es zurückhaltend zu formulieren – weder das Arbeitslosengeld ausgeweitet noch das Rentenniveau erhöht oder die Leistungen der Gesetzlichen Krankenversicherung erweitert worden. Die 2005 eingeführte, im Volksmund „Hartz IV“ genannte Grundsicherung für Arbeitssuchende nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) ist erst 2010 durch das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) für verfassungswidrig erklärt worden, weil die Regelbedarfe nicht in einem „transparenten und sachgerechten Verfahren realitätsgerecht sowie nachvollziehbar auf der Grundlage verlässlicher Zahlen und schlüssiger Berechnungsverfahren“ bemessen waren.[1] Ob diese und die zweite Grundsatzentscheidung des BVerfG zum SGB II vom Juli 2014 inzwischen hinreichend umgesetzt worden sind, wird rechtswissenschaftlich kontrovers diskutiert.[2] Von einer wohligen „Versorgung“ durch den Staat, die Leistungsberechtigten das Gefühl gibt, „gekauft worden zu sein“ (Flint), kann jedenfalls schwerlich die Rede sein.

Wenn Flint den „Freiheitsverzicht und die Verantwortungsentledigung der Gesellschaft gegen soziale Versorgung durch den Staat“ problematisiert, interpretiere ich das insofern vor allem als Nachklang liberal-konservativer Wohlfahrtsstaatskritik der zweiten Hälfte der „Bonner Republik“: Zu den damaligen Krisenwahrnehmungen gehörten jedenfalls der „Vormundschaftsstaat“ (Schelsky) oder der „Betreuungs- und Versorgungssozialismus des Wohlfahrtsstaates“ (Luhmann).[3] Und, ohne allzu ideologiekritisch werden zu wollen: Es fällt schon auf, dass regelmäßig ausgerechnet dann von „Besitzstandswahrung“ die Rede ist, wenn es um soziale Rechte von Menschen ohne größere Vermögen geht, nicht dagegen in den Debatten um die Vermögens- oder Erbschaftssteuer. Aus meiner Sicht ist das mehr als eine Begriffsverwirrung, gerade in einem Land mit einer – auch im Vergleich kapitalistischer Industrieländer – extremen und in den letzten Jahren noch einmal deutlich gewachsenen Ungleichheit in der Vermögensverteilung.[4]

II.

Ich verstehe Flints Artikel in erster Linie als Anregung, meine noch vergleichsweise kurze Erfahrung in der sozialgerichtlichen Eingangsinstanz zu reflektieren im Hinblick auf die Haltung und die Erfahrungen derjenigen, die gegen Bescheide der Jobcenter Klage erheben. Natürlich können derartige Praxiseindrücke nicht die sozialwissenschaftliche Forschung auf diesem Gebiet ersetzen. Auch ist mir klar, dass die Gruppe derjenigen, die sich gegen möglicherweise rechtswidrige Bescheide zur Wehr setzt, vermutlich nicht repräsentativ ist für die Gesamtheit der SGB II-Leistungsbeziehenden: In der gerichtlichen Praxis sind insbesondere diejenigen unsichtbar, die Jobcenter-Entscheidungen hinnehmen, weil sie resigniert haben oder nicht wissen, dass und wie sie dagegen vorgehen können. Völlig außen vor bleiben Menschen, die trotz Hilfebedürftigkeit nicht einmal mehr Anträge beim Jobcenter (oder beim Sozialamt) stellen.

Am aussagekräftigsten im Hinblick auf die Mentalität der klagenden Personen erscheinen mir, neben den persönlichen Schreiben derjenigen ohne anwaltliche Vertretung, ihre mündlichen Angaben im Laufe der Sitzungstage (wovon ich im Bereich des SGB II bislang gut 40 durchgeführt habe). Festgehalten werden sollte, dass es prinzipiell legitim und sinnvoll ist, wenn Menschen die Gerichte anrufen, um sich gegen mutmaßlich rechtswidrige Maßnahmen zu Lasten ihrer sozialen Rechte zu wehren. Es fällt auf, dass von den Klagen gegen die (ja bereits im behördlichen Widerspruchsverfahren überprüften) Bescheide der Jobcenter noch über zehn Jahre nach der Einführung des SGB II viele ganz oder zumindest teilweise erfolgreich sind: Nach den letzten Zahlen lag beispielsweise die Erfolgsquote am Sozialgericht Berlin bei ungefähr 50%.[5] Damit erfüllt die Sozialgerichtsbarkeit offensichtlich die essentielle rechtsstaatliche Funktion einer neutralen Überprüfung von Behördenentscheidungen. Wenn es beispielsweise um die Höhe der zu übernehmenden Miet- und Heizkosten ging, hatten in den letzten Jahren in Berlin die meisten Klagen Aussicht auf mindestens teilweisen Erfolg, weil nach der Rechtsprechung (zumal bei einer ungewöhnlichen Mietpreisdynamik) die behördlichen Grenzwerte zu niedrig bemessen waren, insbesondere bei den Heizkosten. Bei manchen anderen streitigen Rechtsfragen orientieren sich die für die Jobcenter maßgeblichen fachlichen Weisungen der Bundesagentur für Arbeit nicht an der Rechtsprechung bis hinauf zum Bundessozialgericht; es wird stattdessen offenbar – im Stile privatwirtschaftlicher Unternehmen – damit kalkuliert, dass im Zweifel nur ein kleiner Teil der Betroffenen Rechtsschutz suchen wird.

Ganz unabhängig von der Erfolgsträchtigkeit der Rechtsbehelfe habe ich aber wie Flint den Eindruck, dass die meisten Klagenden das gelebte Recht der Grundsicherung für Arbeitssuchende nicht als „einfach“ und „in der Sache gerecht“ wahrnehmen: Es dominieren vielmehr Unverständnis und Frustration. Die Bescheide der Jobcenter sind häufig nur schwer verständlich, auch für Personen mit Hochschulstudium (sogar für Juristinnen und Juristen, wie eine nicht-repräsentative Erhebung in meinem Bekanntenkreis ergab). Das liegt teilweise sicher an der Komplexität der Materie – tatsächlich dürfte es nur wenig andere Verwaltungsakte geben, die derart breit und zugleich tief ganz heterogene Lebensverhältnisse regeln. Zum Teil liegt es aber auch schlicht an der Sprache und der Gestaltung der behördlichen Schreiben und Berechnungsbögen, bei denen man selbst mit täglicher Übung nicht immer die entscheidenden Eintragungen erkennt. Auch die Antragsvordrucke und sonstigen Formulare, die Leistungsberechtigte ausfüllen (müssen), bestechen nicht immer durch Einfachheit und Klarheit. Verantwortlich für die Überforderung der Betroffenen sind aus meiner Sicht also nicht „gesellschaftliche Haltungen und Erwartungen […], die durch staatliches Recht nur enttäuscht werden können“ (Flint), sondern in erster Linie das geltende Recht und seine praktische Umsetzung.

Wenn Klägerinnen und Kläger vor Gericht über ihre Erfahrungen mit Jobcentern berichten, ist darüber hinaus viel von Bevormundung und fast kafkaesken Situationen die Rede: Von (mehrfach) eingereichten Unterlagen, die nie an der zuständigen Stelle ankommen, oder von Widersprüchen gegen die vollständige Ablehnung oder Versagung existenzsichernder Leistungen, deren Bescheidung mehrere Monate dauert, ohne dass über den Bearbeitungsstand verlässlich informiert würde. Im persönlichen Kontakt mit den Jobcentern machen (insbesondere ältere) Menschen teilweise die Erfahrung, dass ihrerseits überforderte Beschäftigte in herrischem Ton bestimmte Schemata abarbeiten, ohne mit Empathie auf die Lebensleistung ihrer „Kundschaft“ einzugehen. Vielfach wird es als demütigend empfunden, wenn man durch die Androhung einer Leistungsminderung („Sanktion“) dazu gedrängt wird, zum wiederholten Mal an einer als wenig effektiv erlebten Weiterbildungsmaßnahme teilzunehmen. Allgemein spielen offenbar Rassismuserfahrungen keine geringe Rolle, werden allerdings einem weißen Richter gegenüber meistens nur angedeutet. Kürzlich berichteten mir Gehörlose davon, dass bei verschiedenen Jobcenter-Terminen ein Sprachmittler für sie fehlte und man sie aufgefordert habe, sich selbst darum zu kümmern.

Angesichts solcher negativer Erlebnisse sind Gerichtsverfahren vielfach auch dann hilfreich für Leistungsberechtigte, wenn sie letztlich juristisch nicht erfolgreich enden. Denn sie bieten ihnen ein Forum, in dem sie mit ihrer Kritik an dem als unverständlich und bevormundend wahrgenommenen Behördenhandeln gehört werden. Die Gelegenheit, auf Augenhöhe mit einer Person vom Jobcenter zu sprechen, die umgekehrt etwa die Sachzwänge einer Massenverwaltung mit knapper Ausstattung schildert oder einfach bestimmte Vorschriften noch einmal erläutert, hat oft befriedende Wirkung. Häufig höre ich im Gerichtssaal sinngemäß, „so verständlich wie heute wurde mir XY noch nie erklärt“.

Mehrfach konnte ich übrigens feststellen, dass Klagen gegen Rückforderungsbescheide nicht in erster Linie des Geldes wegen erhoben worden waren, sondern um einen Vorwurf des Jobcenters auszuräumen. Entsprechend wurden die Klagen für erledigt erklärt, als die Behörde klarstellte, die Rückforderung werde nur noch mit einer nachträglichen Einkommenserzielung begründet, also nicht mehr auch mit einer Verletzung von Mitwirkungspflichten.

III.

Im sozialgerichtlichen Alltag werden politisch motivierte Gesetze angewendet, die mitunter weder von den Verfahrensbeteiligten, noch der Richterschaft als gerecht oder zweckmäßig angesehen werden. Solange Vorschriften nicht gegen das Grundgesetz verstoßen, führt daran in einem demokratischen Verfassungsstaat kein Weg vorbei. Das macht aber die gesellschaftliche Wahrnehmung, wonach etwa SGB II-Regelungen an Lebensrealitäten vorbeigehen oder aus anderen Gründen inhaltlich fragwürdig sind, nicht unberechtigt.

Flints Kritik an „mehr Sozialstaat, als die freiheitliche Gesellschaft und der freiheitliche Staat brauchen und als gut für beide ist“, klingt auch wie ein allgemeiner, noch nicht konkretisierter rechtspolitischer Anstoß. Gerade für das „eigenverantwortliche, kreative, auch verrückte Element“ einer Gesellschaft (Flint) befürworten Stimmen aus ganz unterschiedlichen politischen Lagern ein bedingungsloses Grundeinkommen (BGE) für sinnvoll. Immerhin könnten damit komplizierte Regeln und bevormundende bürokratische Strukturen abgeschafft werden. Andere sehen darin – abhängig insbesondere vom konkreten Modell des BGE – eher Rückschritte in der gesellschaftlich notwendigen Umverteilung, , beispielsweise der Kölner Armutsforscher Christoph Butterwegge.[6]

Aber schon innerhalb des bestehenden Existenzsicherungssystems ließen sich durchaus Regelungen freiheitlich reformieren. Die derzeitige Konzeption der Bedarfsgemeinschaft beispielsweise führt dazu, dass unverheiratete (in der Realität überwiegend weibliche) Leistungsberechtigte auf Einkommen oder Vermögen ihrer (überwiegend männlichen) Partner verwiesen werden, ohne dass sie diesen gegenüber zivilrechtliche Ansprüche hätten. In der gerichtlichen Praxis dürften die Verfahren für alle Beteiligten sehr unangenehm sein, in denen anhand privater bis intimer Details des Zusammenlebens ermittelt werden soll, ob ein wechselseitiger Wille vorhanden ist, „Verantwortung füreinander zu tragen und füreinander einzustehen“. Die typisierende Annahme oder Fiktion des SGB II, Hilfebedürftigkeit liege bei ausreichendem Gesamteinkommen einer Bedarfsgemeinschaft nicht vor, mag grundsätzlich nicht verfassungswidrig sein. Sie trägt jedenfalls nicht dazu bei, Individuen zu einer eigenständigen Lebensführung ohne persönliche finanzielle Abhängigkeit zu ermächtigen.

Insgesamt kann ich die Stoßrichtung von Flints Artikel zwar nicht teilen. Er hat aber aus meiner Sicht Recht, was die Bedeutung des Themas angeht: Es bleibt eine Kernfrage der Zukunft nicht nur für den Sozialstaat, sondern auch für die Demokratie, wie im Spannungsfeld „zwischen rechtlicher Freiheit und sozialer Ungleichheit“ (Flint) der Wohlfahrtsstaat dazu beitragen kann, gesellschaftliche Solidarität und individuelle Autonomie zu befördern.

JOHN PHILIPP THURN   Dr. jur., Jahrgang 1982, arbeitet als Richter auf Probe am Sozialgericht Berlin in den Sparten der Grundsicherung für Arbeitssuchende und der Rentenversicherung. Er ist Mitglied der Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF), die strategische Prozesse für Grund- und Menschenrechte führt (www.freiheitsrechte.org).

Anmerkungen:

1 Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Urteil des Ersten Senats vom 9. Februar 2010, BVerfGE 125,
175 – Leitsatz 3.

2 Siehe etwa Lenze, info also 2016, S. 250 ff.

3 Siehe Thurn, Welcher Sozialstaat?, 2013, S. 283 ff. (293), für Nachweise zu damaligen Diskursen. Vgl. ebenda, S. 299 zur linken Kritik an einer die autonome Lebenswelt bedrohenden „Verrechtlichung und Bürokratisierung“ durch sozialpolitische Programme (Habermas).

4 Siehe nur die Zahlen bei BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 17. Dezember 2014, BVerfGE 138, 136 (253 – Sondervotum Gaier/Masing/Baer).

5 Siehe http://www.berlin.de/gerichte/sozialgericht/presse/pressemitteilungen/2015/pressemitteilung.299785.php.

6 Siehe dazu den Beitrag von Butterwegge in diesem Heft.

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