Themen / Sozialpolitik

Die Menschen­würde, doch antastbar

04. Dezember 2019

In: Mitteilungen 240 (3/2019), S. 6-9

Es ist schon erstaunlich, mit welcher Schnelligkeit und Leichtigkeit über das jüngste Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den Sanktionen in der Grundsicherung (volkstümlich Hartz IV genannt) hinweggegangen und hinweggeschrieben worden ist. „Breite Zustimmung“ titelt „Zeit Online“ kurz nach der Verkündung am 5. November. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) spricht von einem „sehr weisen“ und „ausgewogenen“ Urteil, das „eine Chance auf gesellschaftliche Befriedung“ biete und Rechtssicherheit in der 15-jährigen Debatte. Wenn er sich da nicht täuscht.
So empfiehlt sich ein genauer Blick in das Urteil 1 BvL 7/16 und seine beiden Vorgänger-Urteile aus dem Jahr 2010 und 2012. Alle drei Urteile fällte der 1. Senat, der über die Grundrechte wacht. Vor neun Jahren ging es um das Geld in der Grundsicherung, zwei Jahre später um die Frage, was Asylbewerbern zusteht. Nun im, dritten Urteil, um die Strafen, wenn sich Arbeitslose verweigern, zumutbare Arbeit oder andere Angebote der Jobcenter anzunehmen. Die Richterinnen und Richter haben inzwischen gewechselt: Nur noch ein Richter, Johannes Masing, war an allen drei Urteilen beteiligt. Zumindest er hätte sich an dem einstimmigen Urteil nicht beteiligen und in einem Sondervotum auf einen Widerspruch hinweisen sollen: Denn in seiner nun fast zehnjährigen Rechtsprechung verfängt sich das höchste Gericht in seiner eigenen Setzung zur unantastbaren Menschenwürde.
So las sich in dem Urteil vom 9. Februar 2010 im ersten Leitsatz in aller Deutlichkeit und Klarheit: „Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art.1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG sichert jedem Hilfebedürftigen diejenigen materiellen Voraussetzungen zu, die für seine physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind.“ Dieses Grundrecht, so heißt es in dem zweiten Leitsatz weiter, „ist dem Grunde nach unverfügbar und muss eingelöst werden, bedarf aber der Konkretisierung und stetigen Aktualisierung durch den Gesetzgeber, der die zu erbringenden Leistungen an dem jeweiligen Entwicklungsstand des Gemeinwesens und den bestehenden Lebensbedingungen auszurichten hat. Dabei steht ihm ein Gestaltungs-pielraum zu.“ Diesen höchst richterlich gesetzten Maßstab legte der 1. Senat auch zwei Jahre später an das Asylbewerberleistungsgesetz an (1 BvL 10/10 vom 18. Juli 2012). Er wiederholte die Garantie eines „menschenwürdigen Existenzminimums“ als Grundrecht und weitete dieses als ein Menschenrecht aus, das „deutschen und ausländischen Staatsangehörigen, die sich in der Bundesrepublik aufhalten, gleichermaßen zu(steht).“ Und auch migrationspolitisch nicht zu instrumentalisieren sei. Beide Urteile enthalten keine Bedingungen an die Bürgerinnen und Bürger, kein Wohlverhalten.
Die Richterinnen und Richter korrigieren sich selbst
Und nun das dritte Urteil zum menschenwürdigen Existenzminimum. Setzen die Richterinnen und Richter auf die schnelle Vergesslichkeit in Politik und Medien? Oder passen sie sich der Grundströmung in der deutschen Bevölkerung an, die sich empört, wenn Clan-Chefs im Porsche vorfahren, um „Stütze“ zu kassieren oder wohlgenährte Männer sich über die Boulevard-Presse bei den Richtern bedanken, dass ihnen Hartz IV auf dem Silbertablett serviert wird?
In dem Urteil vom 5. November korrigieren sich die Richter und Richterinnen selbst, relativieren die unantastbare Menschenwürde und machen sie antastbar. Zwar wiederholen sie im ersten Leitsatz das Grundrecht auf eine Sicherung der „physischen und soziokulturellen Existenz“ und betonen, dass dieser Anspruch auch nicht durch „unwürdiges“ Verhalten verlorenginge. Dann folgt das große Aber.
Dieses Aber hat einen Namen: der Nachranggrundsatz, dem das Grundgesetz nicht entgegen stehe. Danach kann der Gesetzgeber „abverlangen“, „selbst zumutbar an der Vermeidung oder Überwindung der eigenen Bedürftigkeit aktiv mitzuwirken“( zweiter Leitsatz). Was aber ist eine zumutbare Aktivität? Und was verbirgt sich hinter dem Abverlangen?
Der 1. Senat windet sich, die unantastbare Menschenwürde und die staatliche Möglichkeit, soziale Leistungen an Bedingungen und Sanktionen zu knüpfen, irgendwie grundrechtlich abzusichern. Er verwahrt sich gegen staatliche Bevormundung und verlangt bei der aktiven Mitwirkung „Respekt vor der autonomen Selbstbestimmung des Einzelnen“. Das wäre der Ansatz gewesen, sich kritisch mit der Praxis auseinanderzusetzen und die Wirkung der Sanktionen, die bei jüngeren und älteren Arbeitslosen, bei Frauen mit Kindern oder Männern mit Familie höchst unterschiedlich sind, zu überprüfen. So blieb es bei einem vagen Schutz und dem formulierten Unbehagen der Richterinnen und Richter (Fundstelle: Randnotiz 141): Die Mitwirkungspflichten dürften auch in der Praxis nicht „zur Bevormundung, Erziehung oder Besserung missbraucht werden“. Hier schimmert auch die Geschichte des Sozialrechts durch, die in der Weimarer Republik mit einer Gesetzgebung gegen die „Arbeitsscheuen“ begann. In seinem Urteil streift der Senat dieses trübe Kapitel.
Eigentlich zielt diese Passage auf die Anhörungen der Verbände, Gewerkschaften, Institute und Wissenschaftler sowie des Ministeriums über die Praxis der Sanktionen (hier vor Gericht nur die Praxis für die über 25jährigen). Ihren Unmut darüber drücken die Richter und Richterinnen deutlich aus: aus den Stellungnahmen, Studien und Begutachtungen ergebe sich kein „durch tragfähige Daten gefülltes Bild“. Das ist eine samtig verpackte Ohrfeige für den Gesetzgeber (zur Erinnerung: es war die rot-grüne Regierungskoalition in Berlin), der eine „regelmäßige und zeitnahe“ Überprüfung vorgegeben habe. „Doch liegt eine solche umfassende Untersuchung für sanktionierte Mitwirkungspflichten … nicht vor.“ Auch fehlten eindeutige empirische Erkenntnisse, ob der Zweck alle Mittel heilige und die Betroffenen durch Leistungsentzug oder auch nur die Androhung motiviert würden, sich an der Überwindung ihrer Hilfsbedürftigkeit stärker zu beteiligen.
Vom Grundrecht auf ein Existenz-minimum bleibt nicht viel übrig
Nach diesen für Politik und die begleitende Wissenschaft vernichtenden Feststellungen wäre es folgerichtig gewesen, Aufgaben an den Gesetzgeber zurückzugeben und die bisherige Praxis der Sanktionen vorerst zu kippen, dann wohl auch für alle Altersgruppen, nicht nur die über 25-Jährigen, um die es in diesem Fall ging. So wie es der 1. Senat vor neun Jahren mit den „freihändig geschätzten“ Geldleistungen für die Erwachsenen und vor allem die Kinder getan hatte. Der jetzige Senat aber lässt sich trotz aller Bedenken gegenüber den empirischen Erkenntnissen auf die abgestuften Sanktionen ein und wägt ab, wann das menschenwürdige Existenzminimum nicht einzulösen sei. Die Richterinnen und Richter geben dem Gesetzgeber einen weiten Gestaltungsspielraum und gehen in ihrem Urteil den Befürwortern der Sanktionen sehr weit entgegen. Zwar halten sie eine Sperre über drei Monate für „deutlich zu lang“ und empfehlen mehr Flexibilität oder die kürzeren Sperrzeiten für die unter 25-Jährigen (sechs Wochen). Auch den Geldentzug bis zu 30 Prozent winken sie mit geringen Auflagen wie einer mündlichen Anhörung durch. Und selbst die Kürzungen um 60 Prozent seien im Einzelfall nicht auszuschließen, „wenn sich dies tragfähig belegen lässt“. Da bleibt von dem Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum nicht mehr viel übrig.
Vollends nähern sich die Richterinnen und Richter aber gegen Ende der Urteilsbegründung der Geschichte mit den Arbeitsscheuen. Es geht im Kern um die Zumutbarkeit von Arbeit und Arbeitsangeboten für Menschen in der Grundsicherung. Auch diesen Punkt wollte das Sozialgericht Gotha, das dieses gesamte Verfahren angestoßen hatte, vom Bundesverfassungsgericht überprüfen lassen: Haben die Jobcenter das Grundrecht auf Berufswahlfreiheit zu achten? Der Fall, den das Gothaer Gericht zum Anlass für seinen Gang nach Karlsruhe nahm, ist einer der extremen Verweigerung von Mitwirkung und Eigenverantwortung. Aber die Karlsruher Richter gehen nicht auf diesen Einzelfall ein, sondern sagen allgemein: die Arbeitslosenversicherung (SGB III) und die Grundsicherung (SGB II) seien strukturell verschieden. Aus Artikel 12 des Grundgesetzes zur Berufswahlfreiheit lasse sich „kein Recht auf einen bestimmten Arbeitsplatz oder unveränderten Arbeitslohn“ ableiten. Der Gesetzgeber verfolge mit den Sanktionen, mit dem „Fördern und Fordern“ ein legitimes Ziel. Daher: Wenn jemand die Aufnahme einer ihm angebotenen zumutbaren Arbeit verweigere und damit nicht mitwirke, aus der Hilfsbedürftigkeit heraus zu kommen, dann urteilen die Richterinnen und Richter ruppig: „Wird eine solche tatsächlich existenzsichernde und im Sinne des § 10 SGB II zumutbare Erwerbstätigkeit ohne wichtigen Grund im Sinne des § 31 Abs.1 Satz 2 SGB II willentlich verweigert, obwohl im Verfahren die Möglichkeit bestand, dazu auch etwaige Besonderheiten der persönlichen Situation vorzubringen, die einer Arbeitsaufnahme bei objektiver Betrachtung entgegenstehen könnten, ist daher ein vollständiger Leistungsentzug zu rechtfertigen.“ Der Ärger über den konkreten Fall in Gotha ist spürbar. Aber rechtfertigt er letztlich doch den erziehenden Staat, der „unwürdiges“ Verhalten bestraft? Und lenkt dieser Schluss nicht von Zumutungen in Jobcentern ab, über die es „tragfähige Daten“ und Erkenntnisse gibt? Nachdenklichere Antworten auf diese Fragen wären angebrachter als ein „Weiter so“. Sie könnten zur tatsächlichen gesellschaftlichen Befriedung beitragen.
zunächst erschienen in Faustkultur: https://faustkultur.de/4104-0-Jutta-Roitsch-ueber-das-Hartz-IV-Urteil-des-BVerfG.html

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