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Transparenz vs. Daten­schutz: Wissen­schaftler suchen Zugang zum Vereins­a­r­chiv der Humanis­ti­schen Union

Mitteilungen22201/2014Seite 10-12

Mitteilungen Nr. 222 (3/2013), S. 10-12

Göttinger Forschungs­in­stitut will frühere sexual­po­li­ti­sche Diskus­si­onen in der HU untersuchen

Spätestens am 22. August 2013 hatte die Debatte um frühere Diskussionen über Pädophilie bei den Grünen auch die Humanistische Union (HU) erreicht: Das Göttinger Institut für Demokratieforschung, das im Auftrag der grünen Partei deren Geschichte untersucht, bat an diesem Tag um Zugang zum Vereinsarchiv der HU. Die Forscher untersuchen seit dem Frühjahr „Umfang, Kontext und die Auswirkungen pädophiler Forderungen in den Milieus der Neuen Sozialen Bewegung / Grünen“. Kein Wunder, dass sie dabei auch auf die Humanistische Union und deren sexualpolitische Debatten stießen, engagier(t)en sich doch zahlreiche HU-Mitglieder von Beginn an in dieser Partei.

Der HU-Bundesvorstand hatte – nach neuerlichen Debatten um pädophiliebefürwortende Positionen in den 1970er/1980er Jahren – bereits im Frühsommer überlegt, dass er die Vereinsunterlagen zu dem Thema für eine externe Untersuchung zugänglich machen will. Sein Anliegen war es, die früheren sexualpolitischen Debatten der HU einmal „von außen“, unter wissenschaftlicher Perspektive bewerten zu lassen. Insofern kam die Anfrage des Göttinger Instituts gerade recht.

So wollten wir eigentlich an dieser Stelle unsere Mitgliedschaft informieren, wie und nach welchen Regeln die HU dem Göttinger Institut einen Zugang zum Vereinsarchiv gewährt und welche Erkenntnisse wir uns von dieser Untersuchung erhofften. Doch daraus wurde leider nichts. Der Vorstand und die Göttinger Wissenschaftler konnten sich nicht auf eine vertragliche Grundlage für den Archivzugang verständigen. Alle vom Institut vorgelegten Entwürfe waren trotzt intensiver Diskussionen am Ende für die HU nicht annehmbar. Umgekehrt lehnte das Institut alle Regelungsvorschläge der HU ab. Im Mittelpunkt stand dabei für die HU die Wahrung datenschutzrechtlicher Ansprüche ihrer Vereinsmitglieder, über die im HU-Archiv Informationen enthalten sind – während das Göttinger Institut auf einem vollen, unkontrollierten Zugang zu den Akten bestand.

Die Ausein­an­der­set­zung im Zeitraffer

Bei der ersten Anfrage erkundigt sich eine Institutsmitarbeiterin nach der Existenz und dem Ort eines Vereinsarchivs. „Im Rahmen eines Forschungsprojektes wären einige Unterlagen für uns ggf. von Interesse.“ Titel und Gegenstand des Forschungsprojekts werden übrigens nicht genannt.

Die HU gibt zu erkennen, dass sie den Forschungsgegenstand erkannt hat und bittet um eine Mustervereinbarung zum Archivzugang, die den Datenschutzansprüchen Genüge tut.

Das Institut legt einen ersten Vertragsentwurf vor: Dieser sieht einen „uneingeschränkten Zugriff“ des Instituts auf die Archivalien der HU vor; zugriffs- und nutzungsberechtigt sollen „alle im Dienste der Wissenschaft tätigen Mitarbeiter des Instituts“ sein, die mit der Studie betraut sind. Persönliche Angaben der Betroffenen werden vom Institut „in der Regel nur bei besonderem öffentlichem Interesse, nach den Regeln guter wissenschaftlicher Praxis und im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften, insbesondere der Urheber- und Persönlichkeitsrechte veröffentlicht.“

Die HU bittet den Datenschutzbeauftragten um Rat, wie sie verfahren soll und eine datenschutzkonforme Archiveinsicht umsetzen kann. Dessen Beurteilung: Aufgrund der besonders schutzwürdigen Daten, der gesetzlichen Grundlagen zur Fremdeinsicht in solche Daten und der Datenschutzordnung des Vereins ist eine Vorabinformation der Betroffenen sowie eine verbindliche Erklärung über die Publikationsregeln unumgänglich. Entsprechend diesen Kriterien überarbeitet die HU den Entwurf.

Das Institut weist den Vorschlag pauschal zurück und teilt mit, dass die „vorgeschlagene Vereinbarung zur Nutzung des Archivguts nicht dem entspricht, was im Sinne unserer Forschungen gewährleistet sein müsste.“ Außerdem gibt das Institut jetzt zu erkennen, dass es nur an Unterlagen interessiert ist, die älter als 30 Jahre sind.

Die HU bittet das Institut um konkrete Hinweise, wie denn eine Kompromisslösung aussehen könnte, die sowohl die datenschutzrechtlich unumgängliche Vorabinformation der Betroffenen (durch die HU) als auch das Forschungsinteresse nach unzensiertem Aktenzugang berücksichtige.

Das Institut legt einen weiteren Vertragsentwurf vor: Dieser sieht einen „unbeschränkte[n] Zugriff“ des Instituts auf alle Akten vor, die älter als 30 Jahre sind. Alle Fragen zum Aktenzugang, die „im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften, insbesondere des Datenschutzrechtes, disponibel sind“, sollen sich am Bundesarchivgesetz (BArchG) orientieren. (Welche datenschutzgesetzlichen Vorschriften anzuwenden sind, wird nicht benannt. Außerdem würde das die Datenschutzordnung der HU ausschließen.)

Die HU weist das Institut darauf hin, dass das BArchG für die HU keine einschlägige Rechtsgrundlage ist (deshalb nicht vorrangig vor Datenschutzverpflichtungen angewandt werden kann); zudem die normale Schutzfrist gem. § 5 Abs. 2 BArchG 30 Jahre nach dem Tod der Betroffenen (und nicht 30 Jahre nach Aktenerstellung) umfasst; alle Materialien im Bundesarchiv von den Archivgebern auch „vorsortiert“ sind. Ihre Kriterien fasst die HU in einem überarbeiteten Vertragsentwurf zusammen.

Das Institut sieht keine Grundlage für eine Vereinbarung mit der HU: Die Vorsichtung des Materials durch die HU (um die Betroffenen zu informieren) sei nicht mit einer wissenschaftlichen Arbeitsweise vereinbar. „Wie sollen wir sonst nachvollziehen, ob Sie durch die Herausgabe des Materials nicht bewusst Informationen auslassen, die ein schlechtes Licht auf die Humanistische Union werfen?“ Zudem wird der HU unterstellt, sie benutze die datenschutzrechtlichen Einwände nur als Vorwand: „Wenn die Humanistische Union aber kein Interesse hat, zu einer wissenschaftlichen Aufarbeitung eines düsteren Kapitels der Grünen Geschichte (wie auch der Geschichte der Humanistischen Union selbst) beizutragen, dann müssen wir das natürlich akzeptieren, aber dann sollten Sie es auch deutlich sagen, damit wir daraus die passenden Schlüsse ziehen.“

So weit zu Ablauf und Stil der Verhandlungen mit dem Göttinger Institut für Demokratieforschung. Neben den Datenschutzfragen enthielten die Vertragsentwürfe des Instituts weitere „Unannehmlichkeiten“ für die HU: So wollten die Göttinger Wissenschaftler etwa durchsetzen, dass die Vereinbarung über den Archivzugang vertraulich bleibt und die Vertraulichkeit nur von Seiten des Instituts aufgehoben werden dürfte, nicht jedoch von der HU. Das hätte es Vorstand und Geschäftsführung praktisch untersagt, die eigene Mitgliedschaft oder die Öffentlichkeit über den Archivzugang zu informieren.

Wie weiter?

Im Herbst hat der Bundesvorstand beschlossen, sich selbst ein umfassenderes Bild über die sexualpolitischen Debatten der früheren HU zu verschaffen. Dazu beauftragte er Martina Kant mit der Sichtung der verschiedenen Unterlagen im Vereinsarchiv – u.a. die Protokolle und Korrespondenz von Vorsitzenden, Vorstand und Beirat; die vorhandenen Unterlagen aus Regionalverbänden sowie die Publikationen (vorgänge, Mitteilungen, Broschüren). Nach dem Abschluss ihrer Recherchen will der Vorstand vorerst interne Gespräche mit den noch lebenden Beteiligten suchen – um ein besseres Verständnis für Anlässe, Motive und Art jener Debatten zu entwickeln. Zugleich soll der Frage nachgegangen werden, welchen Gewinn, aber möglicherweise auch welche negativen Folgen (etwa für Betroffene sexuellen Missbrauchs) die Liberalisierungsdebatten in der HU hatten. Deshalb wird die HU auch das Gespräch mit ihnen suchen. Die Ergebnisse dieser Recherchen und Gespräche werden wir in geeigneter Form dokumentieren und (vereins-)öffentlich zur Diskussion stellen.

Es muss jedoch nicht bei der internen Aufarbeitung bleiben: Der Vorstand beschloss ebenso, dass die entsprechenden Vereinsunterlagen – unter Einhaltung datenschutzrechtlicher Standards – auch für eine externe, wissenschaftliche Untersuchung zugänglich gemacht werden sollen. Als Grundlage dafür dient der gemeinsam mit dem Berliner Datenschutzbeauftragten sowie weiteren Experten von der HU erarbeitete Vertragsentwurf für den Archivzugang, der die vorherige Einwilligung der Betroffenen voraussetzt.

Vereinsmitglieder können die verschiedenen Vertragsentwürfe des Göttinger Instituts und der HU in der Bundesgeschäftsstelle abrufen. WissenschaftlerInnen, die sich mit dem sexualpolitischen Debatten innerhalb der HU beschäftigen wollen, wenden sich bitte unter der Angabe ihres Forschungsprojektes an die Bundesgeschäftsstelle. Dort erhalten sie das Muster der Vereinbarung über den Archivzugang.

Veröf­fent­li­chungen der Göttinger Forscher zum Thema

Stephan Klecha u.a.: Die Pädophilendebatte bei den Grünen im programmatischen und gesellschaftlichen Kontext. Erste und vorläufige Befundezum Forschungsprojekt. Institut für Demokratieforschung der Georg-August-Universität Göttingen, Dezember 2013, abrufbar unter http://www.demokratie-goettingen.de

Franz Walter & Stephan Klecha, Distanzierungstango in der Pädofrage, in: F.A.Z. v. 11.8.2013

Franz Walter, Franz Walter über die Pädophilie- Debatte: „Es widert mich an“, Spiegel Online v. 15.8.2013, abrufbar unter  http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,916676,00.html.

Franz Walter & Stephan Klecha, Irrwege des Liberalismus, Spiegel Online v. 28.8.2013, abrufbar unter http://www.spiegel.de/politik/deutschland/paedophilie-debatte-irrwege-des-buergerrechtsliberalismusa-918872.html.

dies., Die fatale Schweigespirale, die tageszeitung v. 16.9.2013, abrufbar unter http://www.taz.de/!123786/.

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