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Reali­täts­fremd, überflüssig und verfas­sungs­recht­lich fragwürdig – die neuerlichen Pläne der Großen Koalition zur verein­fachten Abschuss­be­fugnis im Luftsi­cher­heits­ge­setz

09. April 2014

Die jetzt bekannt gewordene Absicht der Großen Koalition, das Grundgesetz (GG) zu ändern, um die Bekämpfung von terroristischen Luftangriffen im Inneren durch die Bundeswehr möglich zu machen, ist nach Auffassung des Vorsitzenden der Humanistischen Union Werner Koep-Kerstin „ein weiterer Tabubruch, mit dem die verfassungsrechtliche Trennung von Polizei und Militär, von innerer und äußerer Sicherheit immer unschärfer wird“.

Die neue Initiative füge sich in die Politik der Bundesregierung, „von bisher bewährten Grundsätzen eines verfassungsrechtlichen und friedenspolitischen Konsenses abzurücken“, erklärte Koep-Kerstin. So sehe der Koalitionsvertrag auch eine Aufweichung des sog. Parlamentsvorbehaltes bei Auslandseinsätzen vor.

Noch 2006 hatte das Bundesverfassungsgericht eine Abschussbefugnis im damaligen Luftsicherheitsgesetz in wesentlichen Teilen für grundgesetzwidrig erklärt, weil die Inkaufnahme der Tötung von Passagieren beim Abschuss eines von Terroristen entführten Flugzeugs u.a. gegen die Menschenwürde (Art. 1 GG) und das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 GG) verstößt. Im Blick auf mögliche Opfer am Boden hieß es, Leben dürften nicht gegeneinander aufgerechnet werden. Mit einer Plenarentscheidung beider Senate des Bundesverfassungsgerichtes vom 3. Juli 2012 wurde allerdings die Tür zum Einsatz der Bundeswehr im Inneren mit Kriegswaffen geöffnet – wenn auch nur für „Ausnahme-Situationen katastrophischen Ausmaßes“, und nur dann, wenn sich keine unbeteiligten Zivilisten an Bord befinden und zivile Opfer am Boden weitgehend auszuschließen sind.

Durch eine Änderung von Artikel 35 GG will die Bundesregierung jetzt die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen dafür schaffen, dass in solchen Ausnahme-Situationen der Abschuss entführter Flugzeuge nicht mehr kollektiv von der Bundesregierung, sondern von dem/der Verteidigungsministerin allein angeordnet werden dürfte. „Das Vorhaben der Großen Koalition zur erneuten Abschussbefugnis im Luftsicherheitsgesetz ist realitätsfremd und offenbart ein Verfassungsverständnis, das die Staatsräson über die Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger stellt“, erklärt der Verfassungsrechtler und Vorstandsmitglied der Humanistischen Union, Prof. Martin Kutscha. „Woher will der Minister genau wissen, ob wirklich nur Terroristen an Bord sind? Soll die „versehentliche“ Tötung unschuldiger Zivilisten durch den Abschuss dann als „Kollateralschaden“ abgetan werden?“ Wie ein Abschuss über dicht besiedelten Gebieten zu gewährleisten ist, bei dem keine Zivilisten am Boden gefährdet werden, bleibe das Geheimnis der Bundesregierung. „Das Vorhaben der Bundesregierung ist einmal mehr symbolische Sicherheitspolitik. Es schafft keinerlei Mehr an Sicherheit; es ist Ausdruck einer verfassungsrechtlich fragwürdigen Regelungswut“, so Kutscha. „Nicht alles ist politisch geboten, was verfassungsrechtlich theoretisch möglich ist“ ergänzt der Vorsitzende der Humanistischen Union, Koep-Kerstin.

Die Entscheidung des BVerfG vom 3. Juli 2012 wurde seinerzeit massiv kritisiert, weil das Gericht in den Augen vieler BeobachterInnen die zulässigen Grenzen einer Auslegung des Grundgesetzes überschritten und sich selbst zum Verfassungsgeber aufgeschwungen habe. So attestierte auch der an der Entscheidung beteiligte Verfassungsrichter Reinhard Gaier in seinem Sondervotum, dass der Plenarbeschluss „die Wirkungen einer Verfassungsänderung“ habe. Das Grundgesetz habe mit gutem Grund auf dem Hintergrund historischer Erfahrungen mit deutschem Militarismus „den grundsätzlichen Ausschluss der Streitkräfte von bewaffneten Einsätzen im Inland zu einem fundamentalen Prinzip des Staatswesens“ gemacht, so Gaier weiter.

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