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Revision der Bundes­re­gie­rung: Immer noch keine Rechts­si­cher­heit im Verfahren Gössner ./. Bundesamt für Verfas­sungs­schutz

12. Juni 2018

Bundesregierung und Bundesamt für Verfassungsschutz haben kürzlich Revision gegen das Berufungsurteil des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen eingelegt. Mit diesem Urteil war die über 38jährige geheimdienstliche Überwachung und Ausforschung des Rechtsanwalts, Publizisten und Bürgerrechtlers Dr. Rolf Gössner auch in zweiter Instanz für unverhältnismäßig und grundrechtswidrig erklärt worden (Az. 16 A 906/11). Mit seiner Entscheidung bescheinigt das OVG, wie schon das Verwaltungsgericht erster Instanz, dem beklagten Verfassungsschutz einen dauerhaften, schweren Verstoß gegen den Verfassungsgrundsatz der Verhältnismäßigkeit und gegen essentielle Grundrechte des Klägers. Aufgrund der „jahrzehntelangen, gezielt auf seine Person bezogenen Informationssammlung, -auswertung und -speicherung in Form einer Personenakte und der damit verbundenen Grundrechtseingriffe“, so das OVG, stehe dem Kläger ein „Rehabilitationsinteresse“ zu.

Auch die neue Bundesregierung mit ihrem zuständigen Innen- und Heimatminister Horst Seehofer (CSU) sieht sich offenbar nicht verpflichtet, diesen skandalösen Überwachungsfall endlich abzuschließen und die notwendigen Konsequenzen daraus zu ziehen. Im Gegenteil: Trotz eindeutiger Urteile in erster und zweiter Instanz zugunsten des Klägers, mit denen dem „Verfassungsschutz“ gehörig die Leviten gelesen werden, legte sie Revision gegen das Berufungsurteil ein. Damit landet diese kafkaeske Überwachungsgeschichte nach insgesamt 48 Jahren, und bisher zwölf Jahren Verfahrensdauer, vor dem Bundesverwaltungsgericht in Leipzig – mit ungewissem Ausgang. Das bedeutet: Der vom Bundesinlandsgeheimdienst „Verfassungsschutz“ praktisch zum „Staats- und Verfassungsfeind“ erklärte Kläger muss noch immer auf Rechtssicherheit und seine rechtskräftige Rehabiltierung warten – voraussichtlich wiederum jahrelang.

Die frühere Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) hatte bereits nach der Berufung in einem Presse-Interview zu diesem Fall gesagt: „Ich habe dafür null Verständnis. Die Behörde sollte die Gerichtsentscheidung endlich akzeptieren.“ Dieser Fall rufe geradezu nach politischen Konsequenzen. Doch offensichtlich wollen Bundesregierung und Bundesamt auch dieses Urteil nicht auf sich sitzen lassen, mit dem ihnen ein fast vier Jahrzehnte langer Grundrechtsbruch zur Last gelegt wird. Tatsächlich ist ein so lang währender Grundrechtsbruch gegenüber einem Bürger dieses Landes bislang wohl keinem anderen staatlichen Sicherheitsorgan gerichtlich bescheinigt worden; im Übrigen hätte dieses Urteil, würde es denn rechtskräftig, Auswirkungen auf gesetzliche Regelungen und künftige Überwachungstätigkeit: die schier uferlose Gesinnungsschnüffelei müsste jedenfalls erheblich eingeschränkt und parteilose Einzelpersonen und Berufsgeheimnisträger müssten künftig vor geheimdienstlicher Ausforschung weit besser geschützt werden. Genau dies wollen Bundesinnenminister und Bundesregierung offenkundig vermeiden und setzen mit ihrer Revision zumindest auf Zeit.

Rolf Gössner sieht im Urteil des Oberverwaltungsgerichts (OVG), dessen Begründung mittlerweile vorliegt, einen „gerichtlichen Sieg über geheimdienstliche Verleumdungen und Willkür sowie über antidemokratische Denk-, Interpretations- und Handlungsmuster eines staatlichen Sicherheitsorgans. Das ist eine erfreulich klare Entscheidung zugunsten der Meinungs-, Presse- und Berufsfreiheit und der informationellen Selbstbestimmung. Tatsächlich liest sich die Urteilsbegründung wie Nachhilfe-Unterricht für das Bundesamt für Verfassungsschutz: gerichtliche Nachhilfe in Sachen Demokratie, Bürgerrechte, Verfassung und Rechtsstaat.

Rechtsanwalt Dr. Udo Kauß: „Die beiden Urteile des Verwaltungsgerichts Köln und des OVG Nordrhein-Westfalen sind Meilensteine im Kampf gegen einen übergriffigen Inlandsgeheimdienst, dessen Gesinnungsschnüffelei und -kontrolle endlich rechtsstaatlich unterbunden werden müssen. Das gilt insbesondere auch hinsichtlich des Schutzes von Berufsgeheimnissen, die unter Überwachungsbedingungen nicht mehr zu gewährleisten sind.

Hintergrundinformationen:

* Im Anhang finden sich Hintergrund-Informationen zur Überwachungs- und Verfahrensgeschichte sowie die Persönliche Erklärung von Rolf Gössner, die er in der mündlichen Verhandlung am 13.03.2018 vor dem OVG Münster abgegeben hat. Daraus kann gerne zitiert werden. Vollständiger oder teilweise Abdruck nach Rücksprache.

* Grundaussagen des OVG-Berufungsurteils vom 13.03.2018 (Az. 16 A 906/11), gegen das sich die Revision der beklagten Bundesrepublik, vertreten durch das Bundesamt für Verfassungsschutz wendet:

(1) Das Oberverwaltungsgericht (OVG) NRW hat mit seiner Entscheidung vom 13.03.2018 die Berufung des beklagten Bundesamts für Verfassungsschutz (BfV) gegen dass Urteil des Verwaltungsgerichts Köln zurückgewiesen. Das Gericht stellt ausdrücklich fest, dass der Kläger – entgegen den verleumderischen Behauptungen des Verfassungsschutzes – weder selbst verfassungsfeindliche Positionen vertreten habe, noch habe er „linksextremistische“ Parteien oder Organisationen in deren verfassungsfeindlichen Zielen unterstützt. Der Kläger fordere, so das Gericht, in vielen seiner publizistischen Beiträge gerade die Einhaltung rechtsstaatlicher Standards und grundrechtlicher Freiheiten. Somit lagen im gesamten Be­obachtungszeitraum keine „ausreichenden tatsächlichen Anhaltspunkte für eine Be­obachtung des Klägers“ vor. Die zielgerichtete Beobachtung des Klägers und die damit verbundene Führung einer über 2.000seitigen Personenakte über ihn seien deshalb von Anfang an rechtswidrig und unverhältnismäßig.

(2) Die Richterinnen und Richter des OVG stellen fest, dass auch scharfe, provokante oder polemische Kritik an staatlicher Sicherheitspolitik und Sicherheitsorganen wie Polizei, Geheimdiensten oder Justiz kein Grund für eine geheimdienstliche Überwachung sein darf, genauso wenig wie Gössners substantiierte Kritik (das BfV verleumdet diese als „Agitation“ und „Diffamierung“) etwa am KPD-Verbot, an Berufsverboten, an der Polizeientwicklung oder am „Verfassungsschutz“ (VS) selbst. Dies gehöre zu der von Art. 5 GG geschützten „Machtkritik“ und zum politischen Meinungskampf in einer Demokratie.

(3) Das OVG hat deutlich gemacht und anerkannt, dass die jahrzehntelange geheimdienstliche Überwachung des Klägers mehrere grundrechtlich geschützte Freiheiten schwer beeinträchtigte: das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, die Meinungs-, Presse-, Wissenschafts- und Lehrfreiheit sowie die Berufsfreiheit. Wegen der mit einer Überwachung verbundenen Stigmatisierung („Extremistenstempel“) seien besonders seine beruflichen Tätigkeiten als Publizist und Rechtsanwalt betroffen. So sei er immer der Gefahr ausgesetzt gewesen, dass ihm aus der staatlichen Beobachtung berufliche und existentielle Nachteile erwachsen. Außerdem waren Berufsgeheimnisse wie Mandatsgeheimnis und Informantenschutz unter den Bedingungen der gezielten Überwachung nicht zu gewährleisten, die verfassungsrechtlich geschützten Vertrauensverhältnisse zwischen Anwalt und Mandant sowie zwi­schen Journalist und Informant also mehr als erschüttert.

(4) Das OVG befasst sich ausdrücklich mit dem von fremdem Geheimwissen (des Verfassungsschutzes) ausgehenden Effekt, sich dadurch einschüchtern und von der Ausübung seiner Grundrechte abschrecken zu lassen. Dieser Effekt müsse nicht nur im Interesse des betroffenen Einzelnen vermieden werden, sondern auch im Interesse der Allgemeinheit: „Auch das Gemeinwohl wird hierdurch beeinträchtigt, weil die informationelle Selbstbestimmung eine elementare Funktionsbedingung eines auf Handlungs- und Mitwirkungsfähigkeit seiner Bürger gegründeten freiheitlichen demokratischen Gemeinwesens ist.“

(5) Das OVG hatte in seinem Urteil die Revision wegen „grundsätzlicher Bedeutung“ der Rechtssache zugelassen; dabei werden in einem Revisionsverfahren nicht noch einmal die tatsächlichen Umstände des Falles untersucht, sondern lediglich das Urteil der vorherigen Instanz auf mögliche Rechtsfehler überprüft. Das Vorliegen solcher Rechtsfehler behauptet nun die Gegenseite mit ihrer Revision – während aus Klägersicht solche nicht zu erkennen sind. Deshalb ist die gesamte Überwachungsgeschichte mitsamt dem enormen Verfahrensaufwand nach Auffassung des Klägers weniger ein Fall für das Bundesverwaltungsgericht, als vielmehr für den Bundesrechnungshof – wegen enormer Verschwendung öffentlicher Gelder.

* Die Urteilsbegründung (PDF) kann gern beim Kläger bzw. seinem Rechtsbeistand (s.u.) abgerufen werden.

Für Rückfragen:

* Dr. Udo Kauß, Rechtsanwalt in Freiburg, Vorsitzender der Humanistischen Union/Landesverband Baden-Württemberg, die den Prozess gegen den Verfassungsschutz unterstützt. Kontakt: ra@rechtsanwalt-kauss.de

* RA Dr. Rolf Gössner, Kuratoriumsmitglied der Internationalen Liga für Menschenrechte, die zusammen mit weiteren Bürgerrechtsorganisationen, zahlreichen Politikern, Schriftstellern und Künstlern mehrfach gegen seine geheimdienstliche Überwachung protestierte und diesen Prozess ebenfalls unterstützt: goessner@uni-bremen.de

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