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Stellung­nahme zur Verfas­sungs­be­schwerde der Frau Fereshta Ludin - BvR 1436/02 -

10. Januar 2003

Till Müller-Heidelberg

Das nachfolgende Gutachten lag dem Bundesverfassungsgericht als einzige unabhängige schriftliche Verbandsstellungnahme zur Berücksichtigung bei der Entscheidung vor.

Die angegriffenen Entscheidungen verletzen die Beschwerdeführerin in ihren Grundrechten aus Art. 4 Abs. 1, Art. 12 Abs. 1 und Art. 33 Abs. 3 GG. Daß die Nichteinstellung der Beschwerdeführerin in den Schutzbereich dieser Grundrechte fällt, haben die Verwaltungsgerichte zutreffend erkannt.

Die Verwaltungsgerichte stützen ihre Entscheidungen wesentlich darauf, daß der Eingriff in diese Rechte gerechtfertigt sei, weil der Staat in Erfüllung seiner Pflicht zur Neutralität in Glaubens- und Weltanschauungsfragen gehandelt habe. Dabei stützen sie sich vor allem auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Kruzifix im Klassenzimmer (BVerfGE 93,1).

Das überzeugt jedoch schon im Ansatz nicht. Die Neutralitätspflicht verlangt vom Staat Zurückhaltung in Angelegenheiten des Glaubens. Er darf sich als Staat nicht für oder gegen eine Religion einsetzen. In der genannten Entscheidung zum Kruzifix wird die Neutralitätspflicht auch nicht zur Rechtfertigung eines Grundrechtseingriffs in Anspruch genommen. Vielmehr folgert das Bundesverfassungsgericht daraus, daß es dem Staat verwehrt ist, in den Schulen aktiv und einseitig für das Christentum zu werben und damit die Glaubensfreiheit Andersdenkender zu verletzen.

Vorliegend geht es aber nicht um einen Akt aktiver Parteinahme für eine bestimmte Religion oder durch den Staat. Die Kleidung der Lehrer ist keine staatliche Veranstaltung und gehört auch nicht zur staatlich verantworteten Ausstattung der Schulen. Es gibt keine Amtstracht der Lehrer. Vielmehr kleiden sich diese nach eigenem Geschmack und Gutdünken. Soweit sie damit eine religiöse oder weltanschauliche Bindung zum Ausdruck bringen, ist diese Äußerung nicht dem Staat zuzurechnen. Deshalb – und nur deshalb – ist auch nichts dagegen einzuwenden, daß eine Vielzahl von Lehrkräften eine Halskette mit einem Kreuz trägt, häufig genug als Geschenk erhalten anläßlich der Kommunion, der Firmung oder Konfirmation als christliches Glaubenssymbol.

Allerdings kann der Staat – die Schulverwaltung – verpflichtet sein, zum Schutz der Religionsfreiheit der Schulkinder und ihrer Eltern tätig zu werden, wenn ein Lehrer beim Unterricht einseitig für eine bestimmte Religion oder Weltanschauung wirbt und dadurch Grundrechte der Kinder oder Eltern beeinträchtigt. Dies mag man als „vorsorgende Neutralität“ kennzeichnen (so BVerwGE 109, 40 ). Soweit bei einer solchen Intervention in Grundrechte des Lehrers eingegriffen wird, ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten: Die einander entgegenstehenden Grundrechtspositionen sind gegeneinander abzuwägen und in ein Verhältnis praktischer Konkordanz zu bringen. Demnach kam es vorliegend darauf an, ob die Nichteinstellung der Beschwerdeführerin durch Art und Schwere der durch sie zu befürchtenden Grundrechtsbeeinträchtigungen gerechtfertigt war.

Diese Frage hat das Bundesverwaltungsgericht zwar aufgeworfen, es ist ihr aber nicht ernstlich nachgegangen. Seine Ausführungen dazu sind einseitig und unvollständig. So geht es auf die konkrete Grundrechtsbetroffenheit der Beschwerdeführerin mit keinem Wort ein, sondern begnügt sich insoweit mit allgemein gehaltenen Ausführungen dazu, daß diese in ihrer Religionsfreiheit sowie ihren Grundrechten aus Art. 33 Abs. 3 Satz 1 GG beeinträchtigt wird. Nachzutragen ist dazu:

Nach den tatsächlichen Feststellungen der Verwaltungsgerichte befolgt die Beschwerdeführerin mit dem Tragen des Kopftuches ein von ihr als verbindlich betrachtetes Glaubensgebot, dessen Einhaltung Teil ihres religiösen Bekenntnisses ist und ihre islamische Identität prägt. Sie wird daher durch die angegriffenen Entscheidungen vor die Alternative gestellt, entweder ihrem Glauben untreu zu werden und ihre islamische Identität zu verleugnen oder auf den aus Art. 33 Abs. 2 GG abgeleiteten Anspruch auf Einstellung als Lehrerin zu verzichten, den sie im Bewerbungsverfahren nach dem Grundsatz der Bestenauslese bereits erworben hatte. Mit diesem Verzicht wäre zugleich die zwangsweise Preisgabe einer Berufswahl verbunden, für die sie eine mehrjährige Ausbildung durchlaufen und zwei staatliche Prüfungen abgelegt hat. Insgesamt ist ihre Betroffenheit als besonders schwere Beeinträchtigung der einschlägigen Grundrechte zu werten.

Zu den entgegenstehenden Grundrechtspositionen der Schulkinder und ihrer Eltern verhält sich das Bundesverwaltungsgericht weitaus eingehender. Gleichwohl ergeben sich aus seinen Ausführungen keine Hinweise auf eine reale Beeinträchtigung. In tatsächlicher Hinsicht wird die Schutzbedürftigkeit der Schulkinder rein spekulativ begründet. Das Bundesverwaltungsgericht meint, es sei schwierig einzuschätzen, ob das Kopftuch als sichtbares Zeichen eines religiösen Bekenntnisses Einfluß auf die Schüler habe, und fügt hinzu, Einwirkungen der durch das Kopftuch sybolisierten Glaubensinhalte ließen sich jedenfalls nicht ausschließen. Die danach allenfalls mögliche Grundrechtsbeeinträchtigung umschreibt es mit dem Hinweis, die mit dem Kopftuch sinnfällig zum Ausdruck gebrachte Glaubensüberzeugung könne einzelnen Schülern durchaus als vorbildhaft und befolgungswürdig erscheinen. Welche Glaubensinhalte durch das Kopftuch symbolisiert werden und inwiefern diese mit christlichen oder abendländischen Überzeugungen nicht im Einklang stehen, erörtert es nicht. So weichen die Verwaltungsgerichte der an sich naheliegenden Frage aus, ob in der bloßen Sichtbarmachung der Zugehörigkeit zu einer nichtchristlichen Religion überhaupt schon eine werbende Kraft liegen kann, die die Kinder in ihrem eigenen Glauben verunsichern könnte. Und warum das offenbar für zulässig gehaltene Tragen einer Halskette mit dem christlichen Kreuzsymbol anders zu bewerten sein sollte, wird ebenfalls nicht erörtert.

Im übrigen gibt es für die muslimische Tradition, Haupthaar und Hals der Frau zu bedecken, durchaus Parallelen zu christlichen Anschauungen über eine geziemende Bekleidung der Frau. Dieser Tradition fühlten sich noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor allem verheiratete Frauen verpflichtet, in pietistischen Kreisen wird sie bis heute befolgt. Die Redensart, daß eine Frau mit der Eheschließung „unter die Haube“ komme, knüpft an diese aus dem Christentum stammende Sitte an. Die Kopftracht der Nonnen, die ihr Leben ganz dem ewigen Heil gewidmet haben, ähnelt dem muslimischen Kopftuch weitgehend und geht wohl auch auf dieselben spirituellen Wurzeln zurück.

Auch insofern unterscheidet sich der vorliegende Fall deutlich von der Anbringung eines Kruzifixes im Klassenzimmer, das ganz bestimmte, zentrale Glaubensinhalte des Christentums anschaulich symbolisiert und insofern weitaus eher missionierende Wirkungen auf Andersgläubige ausüben kann als das Kopftuch.

Außer Betracht lassen die Gerichte, daß das Erscheinungsbild einer Lehrerin, die sich mit dem muslimischen Kopftuch zu ihrer Religion bekennt, auch geeignet sein kann, den Kindern den Gedanken der religiösen Toleranz nahe zu bringen, ein Prinzip, das fester Bestandteil unserer christlich geprägten Kultur (so etwa BVerfGE 93, 1 ) und „tragendes Prinzip freiheitlicher Demokratie“ (BVerfGE 33, 23, 32) ist. Die Chance, daß die Schulkinder durch eine einzelne muslimische Lehrerin zu Offenheit und Toleranz hingeführt werden können, ist umso naheliegender, als der Schulbetrieb insgesamt durch christlich geprägte „Denktraditionen, Sinnerfahrungen und Verhaltensmuster“ bestimmt wird (BVerfGE 93, 1 ). So hat auch der französische Staatsrat in seiner Entscheidung vom 27. November 1989 zum muslimischen Kopftuch (wenn auch bei Schülerinnen) zu Recht betont, daß die Schule nicht nur die Aufgabe hat, Wissen zu vermitteln, sondern daß sie auch zur Entwicklung der Persönlichkeit von Kindern beitragen und zum Respekt vor dem Individuum mitsamt seiner Herkunft und in seiner Verschiedenheit erziehen soll.

Nachdem das Bundesverwaltungsgericht die Betroffenheit der Beschwerdeführerin sachlich ignoriert und die Schutzbedürftigkeit der Kinder und Eltern auf rein spekulativer Grundlage („nicht auszuschließen“) begründet hat, meint es offenbar, auf eine Abwägung im Sinne der Herstellung praktischer Konkordanz völlig verzichten zu können. Unvermittelt gelangt es zu der Erkenntnis, daß die Schulbehörden auf die Spannungslage nur durch die Nichteinstellung der Beschwerdeführerin hätten reagieren können. Eine andere Lösung sei nicht möglich. Bereits die Eröffnung einer Einwirkungsmöglichkeit auf die Kinder verletze Glaubensfreiheit und Elternrecht. Auch ein „Grundrechtseingriff durch Zuwarten“, bis sich Einflüsse des Tragens eines Kopftuches auf die Kinder zeigten und die Eltern dagegen Abwehrrechte geltend machten, sei unzulässig. Gründe für diese sehr weitgehenden Ansichten finden sich im angegriffenen Urteil nicht.

Das ist als Versuch, zwei Grundrechtspositionen zu praktischer Konkordanz zu bringen, nicht mehr nachzuvollziehen. Teilweise beruht der Fehler bereits darauf, daß das Bundesverwaltungsgericht sich offenbar kein konkretes Bild von der tatsächlichen Betroffenheit der Beschwerdeführerin in ihrer Religions- und Berufsfreiheit gemacht hat. Unzulänglich sind darüber hinaus die Erwägungen zu den möglichen Einwirkungen auf die Schüler durch eine Lehrerin, die das muslimische Kopftuch im Unterricht trägt. Die möglichen positiven pädagogischen Wirkungen eines solchen Erscheinungsbildes hat es schlicht ignoriert. Darauf ist weiter oben schon hingewiesen worden.

Auffallend ist zudem der Wertungswiderspruch zu dem Urteil des 6. Senats des Bundesverwaltungsgerichts zu der neuen Kruzifixregelung (BVerwGE 109, 40). Darin wird den nichtchristlich eingestellten Schülern und Eltern zugemutet, sich mit einer offenen Intervention gegen die staatlich veranlaßte Anbringung eines Kruzifixes zur Wehr zu setzen, obwohl sie sich durch eine solche Intervention nach der Lebenserfahrung mit hoher Wahrscheinlichkeit Angriffen und auch Benachteiligungen aussetzen werden (vgl. BVerwGE a.a.O. S. 49). Mit der Widerspruchsmöglichkeit werde den Andersdenkenden eine zumutbare, nicht diskriminierende Ausweichmöglichkeit geboten, so daß dem Grundsatz der Freiwilligkeit noch hinreichend Rechnung getragen werde (a.a.O. S. 51). Diese Entscheidung wird vom 2. Senat vorliegend mit Stillschweigen übergangen und kein einziges Mal zitiert. Hält man beide Urteile des Bundesverwaltungsgerichts, die in einem Abstand von drei Jahren ergangen sind, nebeneinander, so läßt sich der Eindruck einer einseitigen Parteinahme des Gerichts zugunsten einer christlichen Schulerziehung nicht von der Hand weisen. Im Kontext einer Entscheidung, die die Neutralitätspflicht des Staates in Fragen der Religion unterstreicht, ist eine solche Tendenz besonders peinlich.

Richtigerweise hätten die Gerichte erkennen müssen, daß eine Lehrerin durch das Befolgen der religiösen Bekleidungsvorschrift des Kopftuchzwangs die Religionsfreiheit der Schulkinder und ihrer Elern nicht beeinträchtigt. Für sich genommen ist das Kopftuch weder anstößig noch symbolisiert es bestimmte unchristliche Glaubensinhalte. Zwar mag es vorkommen, daß einzelne Kinder oder ihre Eltern am Kopftuch Anstoß nehmen. Eine derartige Haltung, die sich nur an dem bloßen Anderssein festmachen kann, wird aber durch Art. 4 Abs. 1 GG nicht geschützt. Von einer Muslimin unterrichtet zu werden, die als solche durch eine besondere Kleidung erkennbar ist, kann ein Christenkind in seinem Glauben ernstlich nicht anfechten. Daß es Andersgläubige gibt, die vorbildliche Menschen und zudem klug und sympathisch sein können, ist eine auch Kindern geläufige und zudem pädagogisch wertvolle Erkenntnis, die zu vermitteln auch eine christlich geprägte Schule sich angelegen sein lassen sollte. Weitergehende missionierende Einflüsse sind nicht erkennbar und von den Gerichten auch nicht als möglich behauptet worden. Daher hat zu Recht das VG Lüneburg in seiner umfassend begründeten Entscheidung vom 16.10.2000 – 1 A 98/00 (NJW 2001, 767) das religiös begründete Tragen eines Kopftuches nicht als zulässigen Grund angesehen, einer Bewerberin die Einstellung als Lehrerin zu verweigern. Das Kopftuch der Lehrerin ist – wie die Halskette mit Kreuzanhänger – nicht Ausdruck einer staatlichen religiösen Äußerung, sondern individuelles, durch Art. 4 GG geschütztes Bekenntnis der Trägerin zu ihrer eigenen Religion.

Selbst wenn man dies anders sieht, ist die Nichteinstellung unverhältnismäßig. Sollten Eltern oder Kinder sich tatsächlich gegen den Einsatz der Beschwerdeführerin unter Berufung auf die Religionsfreiheit und das elterliche Erziehungsrecht wenden, so stehen der Schulverwaltung eine Reihe von Möglichkeiten offen, mit denen sie angemessen reagieren kann. Solche Möglichkeiten stellt das Bundesverwaltungsgericht in seiner Rechtfertigung des Kruzifixes im Klassenzimmer durchaus in Rechnung (a.a.O. S. 50 f). Das Naheliegendste ist ein klärendes Gespräch mit den betroffenen Eltern. Außerdem kann die Lehrerin in einer anderen Klasse eingesetzt oder – wenn anders keine Abhilfe möglich erscheint – auch an eine andere Schule versetzt werden. Abschließend bleibt darauf hinzuweisen, daß es vorliegend um die Begründung eines Beamtenverhältnisses auf Probe geht, das der Staat beenden kann, wenn sich die Beschwerdeführerin als Lehrerin nicht bewährt.

Rechtsanwalt Dr. Till Müller-Heidelberg
Bundesvorsitzender

Zur Entscheidung des BVerfG vgl. auch die HU-Pressemitteilung vom 24.9.2003: Bald Kopftuch-Verbot an deutschen Schulen?

Links

Text der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 24.9.2003 im Verfahren BvR 1436/02 („Kopftuch-Entscheid“)

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