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Was die Statistik zur Verkehrs­da­te­n­ab­frage nicht verrät

24. September 2009

Eine kleine Lesehilfe der Humanistischen Union zur Statistik des Bundesjustizamtes über die Überwachung von Telekommunikations-Verkehrsdaten im Jahre 2008

Das „Gesetz zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung und anderer verdeckter Ermittlungsmaßnahmen…“ vom 21. Dezember 2007 führte erstmals eine jährliche Berichtspflicht über die Nutzung von Verkehrsdaten der Telekommunikation ein. Diese Statistik soll Auskunft geben über die Anzahl der Verfahren, in denen Strafverfolger die Kommunikationsdaten abfragen. Eine wirkliche Beurteilung, wie viele Bürgerinnen und Bürger von der Vorratsdatenspeicherung betroffen sind, und welche freiheitlichen Folgekosten diese Überwachung des Kommunikationsverhaltens mit sich bringt, erlaubt die Statistik jedoch nicht, in ihr fehlen wichtige Angaben:

  • Die Anzahl überwachter Anschlüsse: Die Anordnung einer Verkehrsdatenabfrage erstreckt sich meist auf alle Kommunikationsanschlüsse eines Beschuldigten. In einer Studie von Albrecht, Grafe & Kilchling (2008), in der vor allem die Überwachung von Mobilfunkanschlüssen ausgewertet wurde, ergaben sich aus 1.257 Anordnungen 1.909 überwachte Anschlüsse (Verhältnis ca. 1:1.5). Bei der Überwachung des E-Mail-Verkehrs dürfte die Anzahl der Konten (Mailadressen), die den Überwachten gehören und von einer Anordnung betroffen sind, deutlich höher liegen. 
  • Die Anzahl überwachter Nicht-Beschuldigter: Es ist ein frommer Glaube, dass sich die Überwachung des Kommunikationsverhaltens nur gegen jene richtet, die in einem Ermittlungsverfahren als Verdächtige behandelt werden. Die bereits zitierte Studie von Albrecht, Grafe & Kilchling (2008) kam zu dem Ergebnis, dass in 70% der Fälle die überwachten Anschlüsse völlig unverdächtigen Kontakt- oder Begleitpersonen gehörten, gegen die nicht ermittelt wurde.
  • Die Anzahl überwachter Kommunikationsvorgänge: Je nach Zeitraum, für den die Verkehrsdaten ausgewertet werden, und der Nutzungsfrequenz des Anschlusses betrifft die Überwachung mehr oder weniger Kommunikationsvorgänge. Wie viele Kommunikationsvorgänge von einer Anordnung betroffen sein können, zeigt ein Beispiel, das der Bundesrat zitiert: Demnach waren in einem Ermittlungsverfahren „mehrere Millionen Daten zu verarbeiten und auszuwerten.“ (BR-Drs. 275/07-Beschluss, S. 13).
  • Die Anzahl der von der Überwachung Betroffenen: Die Überwachung eines TK-Anschlusses betrifft nicht nur dessen Inhaber oder Nutzer, sondern auch alle Personen, die mit diesen Anschlüssen in Kontakt stehen. Innerhalb von drei Monaten – der Zeitraum, auf den sich eine Verkehrsdatenabfrage erstrecken kann – dürften die meisten Personen mit nahezu ihrem gesamten Umfeld in Kontakt stehen, das dann als Anrufende oder Angerufene ins Visier der Ermittler geraten kann.
  • Die Relevanz der Überwachungsergebnisse für die Strafverfolgung: Es gibt bisher keine empirischen Daten darüber, welchen Stellenwert Verkehrsdaten als Beweismittel haben. Ob sie am Ende wirklich so bedeutsam für die Strafverfolgung sind, wie häufig behauptet, wird angesichts zahlreicher Manipulations- und Umgehungsmöglichkeiten bezweifelt. Um jenseits von Vermutungen sichere Erkenntnisse zu erhalten, müsste der Einfluss von Verkehrsdaten auf die gerichtliche Entscheidungsfindung erfasst werden – was bisher nicht geschieht. 
  • Die Anzahl der (nicht-)benachrichtigten Personen: Das Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung schreibt vor, dass Betroffenen einer Verkehrsdatenüberwachung nachträglich zu informieren sind, damit sie wenigsten nachträglichen Rechtsschutz gegen die Überwachung in Anspruch nehmen können. Die Erfahrung lehrt aber, dass solche Benachrichtigungen oft unterbleiben, die Betroffenen nichts von ihrer Überwachung erfahren.
  • Die Kosten der Überwachung: Weder der Aufwand, den die Kommunikationsprovider für die Infrastruktur der Verkehrsdatenerfassung und -speicherung aufbringen mussten, noch die Kosten für die Auswertung der Daten werden bisher erfasst.
  • Schließlich repräsentiert die Verkehrsdatenstatistik für 2008 auch nicht den wahren Datenhunger der Ermittlungsbehörden: Der Zugriff auf die Verkehrsdaten ist seit einer vorläufigen Anordnung des Bundesverfassungsgerichts vom 11. März 2008 stark eingeschränkt. Die Abfrage von Verkehrsdaten zur Aufklärung ‚einfacher‘, mittels Telekommunikationsgeräte begangener Delikte, ist seitdem nicht mehr zulässig. Daraus ergeben sich die geringen Fallzahlen für Abfragen nach § 100g Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 in der Statistik.

Literatur:

Statistik des Bundesjustizamtes zur Verkehrsdatenüberwachung 2008, abrufbar unter: http://www.bundesjustizamt.de -> Themen -> Justizstatistik -> Telekommunikationsüberwachung

Hans-Jörg Albrecht, Adina Grafe und Michael Kilchling: Rechtswirklichkeit der Auskunftserteilung über Telekommunikationsverbindungsdaten nach § § 100g, 100h StPO. Forschungsbericht im Auftrag des Bundesministeriums der Justiz. Forschungsgruppe Kriminologie des Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht. Freiburg, Februar 2008. 499 Seiten.

Gustav Heinemann-Initiative & Humanistische Union (Hrsg.), Graubuch Innere Sicherheit. Die schleichende Demontage des Rechtsstaates nach dem 11. September 2001. Berlin 2009 (zur TK-Überwachung insbes. Kapitel 12 und 13)

Jens Puschke, Vorratsdatenspeicherung – beschränkt oder bestätigt? Mitteilungen der HU Nr. 200 (April 2008), S. 6/7

Sven Lüders, Zwischen Ignoranz und Nebelkerzen versinkt ein Grundrecht. Die Einführung der Vorratsdatenspeicherung in Deutschland, Mitteilungen der HU Nr. 199 (Dezember 2007), S. 1-5

Humanistische Union: Stellungnahme zum Referentenentwurf eines „Gesetz zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung und anderer verdeckter Ermittlungsmaßnahmen sowie zur Umsetzung der Richtlinie 2006/24/EG“. Berlin, Januar 2007 (zur Berichtspflicht vgl. S. 12 u. 26)

Weitere Informationen zum Thema unter www.humanistische-union.de/shortcuts/vds.

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