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Bayerns Sonderweg beim § 218. Schwangere im Offen­ba­rungs­zwang, Ärztinnen und Ärzte im finan­zi­ellen Würgegriff

Sabine Berghahn

Grundrechte-Report 1997, S. 183-188

1. Schwan­ger­schafts­ab­bruch – das unendliche Konflikt­thema

Die bundesdeutsche Reform des Schwangerschaftsabbruchrechts ist eine unendliche Geschichte: Nachdem der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts mit Urteil vom 28.5.1993 wesentliche Teile des Reformkompromisses zum Abtreibungsrecht (Schwangeren- und Familienhilfegesetz vom 27.7.1992) für verfassungswidrig erklärt, das der reformerischen Fristenregelung innewohnende „Beratungskonzept“ aber gebilligt hatte, brachte die Gesetzgebung des Bundes im zweiten Anlauf 1995 schließlich ein Gesetz zustande (Schwangeren- und Familienhilfeänderungsgesetz (SFHÄndG) vom 21.8.1995). Damit wurde das ursprüngliche Reformwerk den Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts angepaßt. Auch diese „Reform der Reform“ trug deutliche Züge eines Kompromisses, obgleich die vom Karlsruher Verfassungsgericht gesetzten Entscheidungsparameter – gegen die Grundrechte ungewollt schwangerer Frauen und für einen Gebärzwang, für die Beurteilung des lediglich beratenen Schwangerschaftsabbruchs (ohne Indikation) als Unrecht und gegen die Krankenkassenfinanzierung von solchen Abbrüchen – gehorsam in Paragraphen umgesetzt wurden. Wegen der Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat war die Regierungskoalition aus CDU/CSU und FDP aber darauf angewiesen, die SPD-Fraktion im Bundestag grundsätzlich dafür zu gewinnen, die neuen Regelungen mitzutragen. Anderenfalls wäre das „Nachbesserungsgesetz“ wie 1994 am Bundesrat gescheitert. Bei der Suche nach einem gemeinsamen Nenner mußten die abtreibungsrechtlichen Hardliner also zurückstecken.

Ein Streitpunkt war die Ausgestaltung der Mitwirkungspflicht der schwangeren Frau bei der Konfliktberatung. Die Beratung, die dem Schutz des ungeborenen Lebens zu dienen hat, ist gemäß dem Bundesgesetz „ergebnisoffen“ zu führen; sie soll die Frau nicht belehren oder bevormunden ( § 5 Abs. 1 Schwangerschaftskonfliktgesetz, SchKG = Bestandteil des SFHÄndG). Einerseits umfaßt sie „das Eintreten in eine Konfliktberatung; dazu wird erwartet, daß die schwangere Frau der sie beratenden Person die Gründe mitteilt, derentwegen sie einen Abbruch der Schwangerschaft erwägt“ ( § 5 Abs. 2 Nr. 1 SchKG). Im anschließenden Satz wird andererseits aber klargestellt, daß der Beratungscharakter es ausschließe, „daß die Gesprächs- und Mitwirkungsbereitschaft der schwangeren Frau erzwungen wird“.

Nach diesem zwar nicht zufriedenstellenden, aber immerhin pragmatischen Ausgang einer Reform, die durch die deutsche Vereinigung notwendig geworden war, hätte man eigentlich erwarten dürfen, daß ein so mühsam errungener gesetzgeberischer Kompromiß staatlicherseits in allen Landesteilen akzeptiert wird. Aber die CSU in Bayern setzte gegen den heftigen Widerstand der Opposition von SPD und Grünen und warnenden Stimmen aus der Schwesterpartei CDU im Juli 1996 landesrechtliche Verschärfungen durch. Abweichend vom Bundesrecht wird Schwangeren demnach eine explizite Mitwirkungspflicht an der Beratung (ohne faktisches Schweigerecht) auferlegt. Zudem dürfen in Bayern niedergelassene Ärztinnen und Ärzte, die ambulante Abbrüche vornehmen, ihre Praxis künftig zu nicht mehr als 25 Prozent aus Abbrüchen nach dem Beratungsmodell finanzieren. Auf diese Weise ist eine weitere Runde vor dem Bundesverfassungsgericht eröffnet worden.

2.Der Sonderweg des bayerischen Gesetzgebers verstößt gegen Bundesrecht und Grundgesetz

Zunächst einmal zur Offenbarungspflicht der schwangeren Frau in der Beratung: Die bayerische Regelung setzt die nicht zur Mitwirkung bereite Frau vollends ins Unrecht und bietet zudem die Handhabe, Mitwirkung durch die Drohung der Beraterin oder des Beraters zu erzwingen, die Beratungsbescheinigung zu verweigern. Ohne Bescheinigung darf jedoch kein Abbruch erfolgen. Die Regelung widerspricht offenkundig dem Bundesrecht, welches gerade zum Ausdruck bringt, daß die Gesprächs- und Mitwirkungsbereitschaft der schwangeren Frau nicht erzwungen werden darf. Der Bund hat hier von seiner Gesetzgebungskompetenz legitimerweise „so weit“ Gebrauch gemacht (vgl. Art. 72, 74 GG), daß das Land keine abweichende Regelung mehr treffen durfte. Gemäß Art. 31 GG („Bundesrecht bricht Landesrecht“) ist die bayerische Regelung daher unzulässig und nichtig.

Die Regelung verstößt aber auch inhaltlich gegen Grundrechte der betroffenen Frau, insbesondere gegen deren Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG), Gewissensfreiheit (Art. 4 Abs. 1 GG) und individuelles Selbstbestimmungsrecht (= Handlungsfreiheit, Art. 2 Abs. 1 GG). Denn indem die Offenbarung so höchstpersönlicher Gedanken, Gefühle, Motive und Umstände auf staatliche Veranlassung hin erzwungen werden soll, wird der Kern der genannten Grundrechte verletzt. Die Frau gilt nicht mehr als mündiges und selbstverantwortliches Individuum mit Gewissen und Selbstwertgefühl; es wird ihr sogar der letzte Ausweg der passiven Verweigerung genommen. Der psychologische und rechtlich-symbolische Druck soll dazu eingesetzt werden, ihren Willen zu brechen. Sie wird zum Objekt einer staatlich angeordneten Prozedur gemacht, was Art. 1 Abs. 1 GG, dem Schutz der Menschenwürde, und der Zentralnorm des Grundgesetzes widerspricht.

Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil zwar die Mitwirkung der Schwangeren an der Aufklärung der Situation und der Abbruchgründe als „unerläßlich“ bezeichnet, aber ebenso hervorgehoben, daß sie nicht erzwungen werden kann (BVerfGE Bd. 88, 203ff, 284/285). Es folgte der Einsicht, daß auch eine angenommene Mitwirkungspflicht durch das elementare verfassungsrechtliche Verbot begrenzt wird, in Kernbereiche der Persönlichkeit einzugreifen. Damit löste das Gericht selbst den Widerspruch grundrechtskonform zugunsten eines faktischen Schweigerechts der Schwangeren auf. Es ist angesichts der Entscheidungspräferenz des Zweiten Senats für die Austragungspflicht der schwangeren Frau gleichwohl vorstellbar, daß er die im Bundesrecht – wenn auch nur objektivrechtlich und nicht als subjektives Recht (vgl. Monika Frommel in „Kritische Justiz“, 3/1993, S. 324ff, 327) – formulierte (faktische) Verweigerungsfreiheit der Frau ganz oder teilweise verwirft, wenn ihm die Frage vorgelegt wird, unter welchen Umständen die Beratungsbescheinigung verweigert werden darf.

Der gesetzlich festgelegte Offenbarungszwang für Schwangere in Bayern verletzt auch die Grundrechte von Beraterinnen und Beratern. In ihre fachliche Berufsausübungsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) und eigene Gewissensfreiheit (Art. 4 Abs. 1 GG) wird, sofern sie die angeordnete Mitwirkungspflicht und Maßgabe zur Erzwingung der Offenbarung wirklich in jedem Einzelfall ernstnehmen, empfindlich eingegriffen. Denn sie müßten gegen ihr Gewissen und ihre Fachkompetenz versuchen, die Mittel der Beschämung und des Druckausübens einzusetzen, um Frauen zur Darlegung der Gründe zu veranlassen.

Zur Einschränkung ambulanter Abbruchmöglichkeiten: Wird es durch die Verschärfung des Berufsrechts für niedergelassene Ärztinnen und Ärzte in Bayern zu gefährlich, ambulante Abtreibungen vorzunehmen, so kommt dies einer landesweiten Verhinderung derartiger Abbrüche nach dem Beratungsmodell gleich. Stationäre Abbrüche in Krankenhäusern sind deutlich teurer und in Bayern ohnehin kaum zu erlangen, weil sich viele – nicht nur kirchliche – Klinikleitungen verweigern.

Es ist aus bundesstaatlicher Sicht schon bedenklich genug, daß der verfassungsgerichtlich gebilligten Bestimmung, wonach die Länder für ein ausreichendes Angebot an Abbrucheinrichtungen zu sorgen haben (vgl. § 13 Abs. 2 SchKG, Art. 31 Abs. 4 Einigungsvertrag), in Bayern nur mit Obstruktion bzw. Ignoranz begegnet wird. Der bayerische Gesetzgeber versucht nun zusätzlich, die dort vor 1992 geltende, restriktive Rechtslage wiederherzustellen, nach der ambulante Abbrüche unzulässig waren. Da das Bundesrecht seitdem zwingend vorsieht, daß für ambulante Abbrüche lediglich die sachlich-medizinischen Voraussetzungen für die notwendige Nachbehandlung gegeben sein müssen ( § 13 Abs. 1 SchKG), lassen sich ambulante Abtreibungen nicht mehr so einfach auf administrativem Wege unterbinden. Daher greift Bayern mit den neuen Sonderregelungen nunmehr zu anderen Restriktionsmaßnahmen gegen niedergelassene Ärztinnen und Ärzte. Insbesondere sehen die neuen Sonderregelungen, die erst zum 1.Juli 1997 in Kraft treten, vor, daß eine Abbrucheinrichtung in Bayern von einem (staatlich anerkannten) Gynäkologen geführt werden muß. Es erscheint unverhältnismäßig, diese spezifische staatliche Zulassung zu fordern, wenn die fachliche Kompetenz auch auf andere Weise sichergestellt sein kann (z. B. bei einem Facharzt für Chirurgie).

Noch bedenklicher ist jedoch die Erschwerung, daß sich eine Praxis nur bis zu 25 Prozent aus Abbrüchen (nach dem Beratungsmodell) finanzieren darf. Denn diese Vorschrift zu befolgen ist so gut wie unmöglich. Gerade wenn es eine Ärztin oder ein Arzt ernst damit meint, ungewollt schwangeren Frauen zu einem gleichermaßen medizinisch sicheren wie psychologisch-organisatorisch behutsamen Abbruch zu verhelfen, der als ambulanter Eingriff bezahlbar bleibt, bedarf es in der Regel einer gewissen Spezialisierung der Praxis auf Schwangerschaftsabbrüche. Die gesetzeskonforme Mischung von Geburtshilfe und Abtreibungen in einer Praxis ist unrealistisch, zumal in einem Bundesland, in dem nur ganz wenige Ärzte oder Ärztinnen bereit sind, Abbrüche vorzunehmen.

Daß die Verschärfung des ärztlichen Berufsrechts, jedenfalls die 25-Prozent-Klausel, gegen das Bundesrecht verstößt und damit ebenfalls nach Art. 31 GG unwirksam ist, ergibt sich vor allem aus der Zwecksetzung entsprechender bundesrechtlicher Regelungen, die die Voraussetzungen einheitlich festlegen und wohnortnahe Abbrucheinrichtungen sicherstellen sollen. Der finanzielle Würgegriff, der Ärztinnen und Ärzten in Bayern nun droht, verstößt aber außerdem gegen die Berufsfreiheit des Art. 12 Abs. 1 GG, weil er völlig unverhältnismäßig ist. Hier sind vor allem Aspekte der Berufsausübung berührt, möglicherweise aber auch die Berufswahlfreiheit. Zwingende Gründe des Gemeinwohls bzw. Rechtsgüterschutzes (Schutz des ungeborenen Lebens) können diese für einzelne Ärzte existenzbedrohende Regelung nicht rechtfertigen. Gerade spezialisierte Praxen haben es finanziell sogar viel weniger nötig, abtreibungswillige Frauen etwa in ihrem Vorhaben zu bestärken, um entsprechende Honorare zu erwirtschaften, als man dies für eine ärztliche Mischpraxis befürchten dürfte.

3.Wie sind die Aussichten, gegen den bayerischen Alleingang erfolgreich vorzugehen?

Eine „abstrakte Normenkontrolle“ kann von einem Drittel der Bundestagsabgeordneten, von der Bundesregierung oder einer Landesregierung in Karlsruhe beantragt werden. Maßstab der verfassungsrechtlichen Prüfung wäre bei dieser Verfahrensart zunächst der Art. 31 GG, also die Frage, ob hier gegen Bundesrecht verstoßen wurde. Diese Frage würde bezüglich der 25-Prozent-Klausel, vermutlich auch im Hinblick auf weitere berufsrechtliche Verschärfungen, mit großer Wahrscheinlichkeit vom Bundesverfassungsgericht bejaht werden.

Käme es darüber hinaus zu einer inhaltlichen Überprüfung von Bestimmungen am Maßstab der Grundrechte, so bestünde bezüglich des Offenbarungszwangs beim Zweiten Senat eine gewisse Gefahr, daß die Senatsmehrheit die Gelegenheit dazu benutzen würde, nun doch kasuistische Verschärfungen zur Durchsetzung von Offenbarungserwartungen zu formulieren (s. o.). Jedenfalls hegt die bayerische Seite derartige Hoffnungen (vgl. Interview mit Sozialministerin Barbara Stamm in Frankfurter Rundschau vom 3.6.96). Ähnliches wäre bei Verfassungsbeschwerden von betroffenen Frauen, die zudem erst nach Erschöpfung des Rechtswegs erhoben werden könnten, zu befürchten. Wegen der allgemein strafrechtlichen Problematik hätte wiederum der Zweite Senat zu entscheiden. Dagegen ist der Erste Senat, der als liberaler eingeschätzt wird, zuständig, wenn es schwerpunktmäßig um die ärztliche Berufsfreiheit geht. So erscheinen die inzwischen erhobenen Verfassungsbeschwerden zweier betroffener Ärzte am ehesten aussichtsreich. Da die Ärzte bereits mit dem Inkrafttreten des bayerischen Gesetzes unmittelbar in ihren Rechten verletzt sind bzw. sein werden, brauchten sie den Rechtsweg nicht zu erschöpfen, sondern konnten gleich Verfassungsbeschwerde erheben und eine einstweilige Anordnung gegen das Inkrafttreten der Gesetzesbestimmungen beantragen. Der Erste Senat könnte aus dem anstößigen Regelungszusammenhang heraus auch den landesgesetzlichen Offenbarungszwang für schwangere Frauen überprüfen und – vielleicht – für unwirksam erklären.

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