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Der Lausch­an­griff - Auf dem Weg zum Kontroll­staat

Hans Lisken

Grundrechte-Report 1997, S. 138-142

Wer die häuslichen Gestapobesuche in der Erinnerung hat und auch die moderneren Spionagemethoden kennt, weiß, warum das Grundgesetz in Artikel 13 die staatliche Unverletzlichkeit der Wohnung bis auf die Fälle gemeiner Gefahr und der richterlich gestatteten offenen Durchsuchung zur Aufklärung strafbaren Tuns garantiert hat. Und selbst die richterlich gestattete Durchsuchung steht unter dem Vorbehalt jederzeitigen Rechtsschutzes nach Grund und Art. Auch das polizeiliche Eindringen in den Wohnbereich, sei es körperlich, sei es elektronisch, vollzieht sich in den gestatteten Fällen der akuten Gemeingefahr nicht heimlich, sondern öffentlich, zumindest teilöffentlich. Das „Visier des Staates“ bleibt offen.

Es gehörte zu den rechtsstaatlichen Errungenschaften in der neueren Verfassungsgeschichte, daß die Staatsgewalt im Inneren wie im Äußeren erkennbar auftrat. Die Uniform war das Schild, damit jedermann wußte, wer „etwas im Schilde“ führte. Auch für die Frage des strafbaren Widerstandes gemäß § 113 RStGB war es nicht ohne Bedeutung, ob der Amtswalter uniformiert war. Die Abkehr von diesem Öffentlichkeitsprinzip begann mit dem Wechsel von der offenen Kriegsführung im Ersten Weltkrieg zur getarnten Überlistung. Die Beachtung der älteren Haager Landkriegsordnung bestand in einem kaum noch erkennbaren Hoheitszeichen auf Tarnkappe oder Tarnanzug. Ähnlich folgte die Erfindung der Kripo in Zivil einem neuen Erfolgsdenken; gelegentlich wurden Beamte sogar als Frauen verkleidet eingesetzt. Allerdings wurde nicht mit falschen Ausweisen operiert. Kein Beamter wurde mit einer Verbrecherlegende ins „Milieu“ eingeschleust, um falsches Vertrauen zu erwecken. Vor allem blieb die fremde Wohnung tabu.

Aber sowenig wie die listenreiche Kriegsführung den Krieg überwunden oder „menschlicher“ gemacht hat, sowenig hat die „verdeckte“ Polizeiarbeit das Verbrechen eliminiert.

Dennoch werden die Protagonisten des Lauschangriffs nicht müde, die Befugnis zur heimlichen Wohnungsausforschung zu fordern, um der „organisierten Kriminalität“ besser Herr werden zu können. Dahinter steckt der unausrottbare Glaube an die Übermacht eines „starken Staates“, wobei Stärke eben nicht in einer gerechten Gesetzgebung, sondern in einem fortschreitenden Mehr an Eingriffsbefugnissen gesehen wird – so, als ob menschliches Verhalten wirklich durch Repression und Kontrolle maßgeblich gesteuert werden könnte. An die Freiheitsfähigkeit des Menschen wird immer weniger geglaubt. Die Sehnsucht nach Sicherheit vor den immanenten Risiken der Freiheit ist größer als die Freiheitssehnsucht. So endet das Streben nach Sicherheit in einer Strategie der Risikovermeidung durch vorbeugende Kontrollen.

Dies hat inzwischen in allen Polizeigesetzen dazu geführt, daß der Polizei neben der Gefahrenabwehr ausdrücklich auch die „vorbeugende Verbrechensbekämpfung“ als Aufgabe zugewiesen worden ist. Eine Legaldefinition gibt es zwar nicht, aber mit Hilfe der Befugnisnormen lassen sich gegebenenfalls auch Nichtstörer sowohl bei Gefahren als auch schon ohne Gefahren kontrollieren. Am weitesten gehen das bayerische Polizeiaufgabengesetz und das Polizeigesetz von Baden-Württemberg, die Jedermannkontrollen auf Fernstraßen auch ohne konkreten Anlaß zulassen.

Der nächste Schritt wird folgerichtig die Forderung sein, potentielle Täter bereits in ihren Behausungen aufzuspüren und zu beobachten. „Späheingriff“ wird diese Methode aus dem Abwehrmetier bereits treffend genannt.

Der sogenannte Lauschangriff, also das elektronische Aufzeichnen des in einer Wohnung gesprochenen Wortes, wird in einigen Bundesländern an eine akute Gemeingefahr im Sinne von Artikel 13 III GG gebunden, in anderen genügen weniger schwerwiegende Störungen, aber es muß immerhin noch eine akute Gefahr angenommen werden. Ohne Gefahr ist dies nicht erlaubt, noch nicht.

Auch bei der geplanten Lauschbefugnis zur Aufklärung strafbarer Handlungen wird noch an der Voraussetzung festgehalten, daß ein konkreter Tatverdacht gemäß § 152 II Strafprozeßordnung (StPO) vorliegen muß. In verschiedenen ministeriellen Vorentwürfen für ein neues BKA-Gesetz gab es schon weiter gehende Vorstellungen, die aber nicht ins Gesetzgebungsverfahren eingebracht wurden, weil dann die Chance, zu einer verfassungsändernden Mehrheit im Parlament zu kommen, gar nicht erreichbar erschien. Vor allem die Ländermehrheit wandte sich gegen eine Eliminierung der Eingriffsschwelle des § 152 II StPO, also gegen die Eliminierung des in Artikel 1 GG und Artikel 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verankerten Verbots zu Ermittlungseingriffen ohne konkreten Tatverdacht. Deswegen ist es bisher bei der Vorlage geblieben, das elektronische Belauschen bei Verdachtsfällen zu erlauben, die ähnlich schwerwiegen wie jene, die ein heimliches Abhören des Telefons gestatten ( § 100a StPO). Die SPD als Oppositionspartei ging auf diesen „Deal“ denn auch ein, wobei sie ihrerseits mit und ohne Hintersinn die erforderliche Änderung von Artikel 13 GG mit der Forderung nach einer Einschränkung der Eigentumsgarantie in Artikel 14 GG für den Fall zweifelhaften Vermögenszuwachses verknüpfte.

Das prinzipielle Festhalten an der Grundrechtsordnung steht also nicht mehr zur Diskussion. Es geht nur noch um die Modalitäten. Und wenn das Prinzip fällt wie bei der Relativierung des Asylrechts (1993) oder des Fernmeldegeheimnisses (1968), läuft die Entwicklung auf einen Leerlauf der relativierten Grundrechte hinaus. Der von Friedrich Karl Fromme in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 6. November 1996 vorgeschlagene Verzicht auf einen Grundrechtsschutz durch Verfassungsbeschwerde ist ein konsequenter Vorgriff auf diesen Abschied von der freiheitlich-demokratischen Grundordnung des alten Grundgesetzes (BVerfGE 5, 85). In dieselbe Richtung zielt die zunehmende Kritik am Ersten Senat des Bundesverfassungsgerichts wegen seines strikten Festhaltens an unbequemen Grundrechtsvorgaben, zum Beispiel beim Toleranzgebot, bei der Meinungsäußerungsfreiheit, beim Versammlungsrecht, beim Datenschutz und beim Rechtsschutz. Die stillen Versuche, dem Gericht nicht zu folgen, die schon seit einigen Jahren zu beobachten sind, werden alsbald als legitim ausgegeben werden. Am Ende haben wir einen anderen Staat.

Solche Verfassungsänderung ist und bleibt dann eine grundlegende Änderung unserer politischen Lebenswelt, weil es um Änderungen grundlegender Freiheitsrechte geht. Ihre Existenz konstituiert den Staat (Konrad Hesse). Ihre Änderung läßt also unseren Staat mit seiner bisherigen „Wertordnung“ (BVerfGE 7, 198) nicht fortbestehen.

In der Lebenswirklichkeit wird sich diese Umgestaltung des Staates allerdings erst dann spürbar bemerkbar machen, wenn die Machtinhaber von der Fülle der Freiheitsbeschränkungen einmal nachhaltig Gebrauch machen sollten. Noch haben die auf rund 4000 Fälle pro Jahr angewachsenen Telefonüberwachungen nicht jedermann betroffen gemacht, obwohl Wissende auch Unverfängliches schon lange nicht mehr unbefangen am Telefon erörtern. Selbst mündliche Abreden über „Frühstückskartelle“ werden lieber ins Ausland verlegt. Deshalb wird auch die erstrebte Befugnis zum elektronischen Belauschen von Gesprächen in Wohnungen wenig zur Aufklärung von Verdachtsfällen beitragen (Zahlen bei Lisken, ZRP 1993, 121). Die Folge wird sein, daß ein Mehr an Lauschangriffen und ein Lauschen im „Vorfeld“ konkreter Verdachtsmomente gefordert werden wird. Vor allem wird die Methode den Oligarchen der Macht nützen, wenn an der Spitze der Verdachtskataloge wie in § 100a StPO die sogenannten Staatsschutzdelikte stehen werden und schon im staatsgefährdenden „Milieu“ gelauscht werden darf. An die Stelle der rechtsstaatlich noch unzulässigen Zusammenarbeit von Verfassungsschutz und Polizei kann sodann die Polizeiarbeit treten; denn wo im „Vorfeld“ gelauscht werden darf, wird man den Einsatz „verdeckter Ermittler“ ebenfalls nicht länger – wie bisher – auf die Aufklärung begangener Verbrechen begrenzen.

Das alles wird dem „guten Zweck“ der Risikovermeidung dienen. Daß aber die Methoden unsittlich sind und einer früheren Verfassung widersprochen haben werden, wird verschwiegen und vergessen werden. An die Stelle des Freiheitsstaates wird der Kontrollstaat getreten sein. Das alles wird „rechtsstaatlich“ verlaufen, so daß die Mehrheit den fließenden Übergang vom Rechtsstaat zum Unrechtsstaat – wie so oft in der Geschichte – gar nicht bemerken wird. Denn auch im gesellschaftlichen Bereich wird man sich längst nicht mehr an „Treu und Glauben“ im Sinne eines redlichen Rechtsverkehrs orientieren, sondern am Vorteilsprinzip, an reinen Kosten-Nutzen-Relationen. Und zu dieser Welt des Materialismus paßt eine Staatsstruktur, die nicht der Freiheit als Staatsziel, sondern der privaten Besitzstandssicherung dient (krit. Denninger, Menschenrechte und Grundgesetz, 1994). Daß sich der Rechtsstaat vom Unrechtsstaat wesentlich durch die Methodenwahl unterscheidet, wird allenfalls als historischer Idealismus eines Perikles, Thomas, Kant oder eines Hermann Heller, Adolf Arndt oder Erhard Denninger überliefert werden. Dieser „Grundrechte-Report“ von 1997 wird dann ebenso wie das Verdikt des Bundesgerichtshofes zu den Erinnerungsstücken einer vergangenen „politischen Romantik“ zählen. Der Bundesgerichtshof hatte 1983 festgestellt (BGHSt 31, 296 = NJW 1983, 1569), daß die heimliche Aufzeichnung eines „Raumgespräches“ den unantastbaren Bereich der privaten Lebensgestaltung berühre, der unter dem absoluten Schutz der Grundrechte aus Artikel 2 I i. V. m. Artikel 1 I GG stehe und auf den die öffentliche Gewalt daher nicht einwirken dürfe, selbst nicht bei überwiegenden Interessen der Allgemeinheit.

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