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Geheim­dienste und Polizei: Trennung als Macht­be­schrän­kung

Jürgen Seifert

Grundrechte-Report 1997, S. 189-192

Nach dem Grundgesetz ist es Aufgabe der Länder, durch ihre Polizei für die öffentliche Sicherheit in der Bundesrepublik zu sorgen. Der Bund besitzt nach dem Grundgesetz (Art. 73 Nr. 10) lediglich die Gesetzgebungskompetenz für die Zusammenarbeit des Bundes und der Länder in der Kriminalpolizei, für den Bundesverfassungsschutz, das Bundeskriminalamt, den Bundesgrenzschutz und für internationale Verbrechensbekämpfung.

Heute hat sich der Bundesgrenzschutz zu einer Polizeireserve des Bundes entwickelt (mit spezifischen Aufgaben auf Bahnhöfen und Flughäfen sowie nachrichtendienstlichen Befugnissen an den Grenzen). Zum Schutz der öffentlichen Sicherheit sind Bundesinstitutionen entstanden, die inzwischen Faktoren der Macht geworden sind, wie man sich dies bei der Schaffung des Grundgesetzes nicht vorgestellt hat: Neben dem Bundeskriminalamt (BKA) und dem Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) stehen der Bundesnachrichtendienst (BND) und das Amt für Sicherheit der Bundeswehr mit dem Militärischen Abschirmdienst (MAD). Die meisten dieser Dienste sind für sich gewichtiger als die Gesamtheit der Landeskriminalämter bzw. der Landesämter für Verfassungsschutz. Zuständigkeiten überschneiden sich. In der Regel wissen nur noch Experten über die unterschiedlichen Aufgaben und Befugnisse Bescheid.

Vor allem das BKA, das BfV und der BND haben im „Kalten Krieg“ und in der Auseinandersetzung mit dem Terrorismus im Verhältnis zu den Länderpolizeien und -ämtern einen überdimensionalen Ausbau durchsetzen können. Es wäre angesichts der Haushaltslage konsequent gewesen, wenn bei diesen drei Apparaten nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Systeme und dem Scheitern des Terrorismus Personal- und Sachmittel radikal gekürzt worden wären. Doch es hat weder einen Stellenabbau noch eine Kürzung der Finanzen gegeben. Statt dessen sind alle drei Bundesämter in die Offensive gegangen.

Das BKA (und die Polizeien der Länder) streben an, mittels elektronischer Überwachung („großer Lauschangriff“) und durch verdeckte Ermittler schon im „Vorfeld strafbarer Handlungen“ ermitteln zu können.

Das BfV versucht, die Zuständigkeit für die Observation von „Scientology“ und die Befugnis für die Vorfeld-Beobachtung der „organisierten Kriminalität“ zu erlangen.

Der BND hat erreicht, daß eine Rechtsgrundlage für die in der Vergangenheit aufgebaute „elektronische Aufklärung“ im Äther nachgeschoben wurde und seine Befugnisse auf kriminelle Delikte ausgedehnt wurden. Der Dienst verteidigt jetzt (nach einer einstweiligen Anordnung des Bundesverfassungsgerichts) das angestrebte Recht zur Weitergabe von Daten, die durch ein „elektronisches Filtern“ des Fernmeldeverkehrs zwischen der Bundesrepublik und dem Ausland mit Hilfe von „Wortbanken“ aufgefangen werden.

Diese Apparate sind heute so mächtig, daß sie durch Ausnutzen der von ihnen in den vergangenen Jahrzehnten geschaffenen spezifischen Einflußchancen, durch selbstgeschaffene Fakten (Beispiel: Plutoniumschmuggel) und durch das Vorlegen von Statistiken und internationalen Vergleichen selbst in der Lage sind, politische Kampagnen zu entfachen (sofern die politische Führung dies nicht verhindert). Die jeweils spezifischen und zeitverschobenen Kampagnen dieser Apparate haben dazu geführt, daß in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen wurde, in welchem Umfang es bei den neugeforderten Befugnissen auch um einen Konkurrenzkampf von BND, BKA und BfV geht. In den Medien wurde das Problem kaum aufgegriffen, daß die angestrebten Befugnisse zugleich die bisherige Trennung zwischen Außen- und Inlandsnachrichtendienst und das Trennungsgebot zwischen Polizei und Geheimdiensten antasten.

Dieses Trennungsgebot ist in Abgrenzung gegen die Verschmelzung von nachrichtendienstlichen und polizeilichen Befugnissen in der Praxis der Gestapo und des „Reichssicherheitshauptamtes“ des NS-Regimes entwickelt worden. Seine Grundlage ist das Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes: Institutionen, die mit nachrichtendienstlichen Mitteln der Aufklärung und des Beobachtens im Vorfeld von Gefahren dienen, sollen strikt getrennt werden von polizeilichen Institutionen, die mit Eingriffs- und Zwangsbefugnissen ausgestattet sind und deren Befugnisse auf Gefahrenabwehr und Strafverfolgung begrenzt sind.

Eine solche Trennung ist auch deshalb geboten, weil polizeiliche Institutionen (anders als Geheimdienste) einer uneingeschränkten rechtlichen und parlamentarischen Kontrolle unterliegen. In einem Rechtsstaat müssen bei einem Strafverfahren alle Ermittlungsakten der Strafverfolgungsbehörden vorgelegt werden.

Sobald BND und Verfassungsschutz Zuständigkeiten zur Bewältigung der „organisierten Kriminalität“ erhalten, nehmen sie als Geheimdienste außerhalb der üblichen Kontrolle Funktionen im Rahmen der Ermittlung von Straftaten wahr; wenn umgekehrt die Polizei „im Vorfeld“ konkreter Gefahren agiert, das heißt, ohne Anhaltspunkte für eine Straftat verdeckte Ermittler einsetzt oder Maßnahmen elektronischer Überwachung („großer Lauschangriff“ etc.) ergreift, wendet sie nachrichtendienstliche Mittel an und wildert in dem Bereich, der den Geheimdiensten vorbehalten sein soll. Damit bedroht die Ausweitung der Aufgaben von Geheimdiensten auf „organisierte Kriminalität“ ebenso wie die Vorfeldtätigkeit der Polizei mit nachrichtendienstlichen Mitteln verfassungsrechtliche Rechtsschutzgarantien. Zugleich stellt der Ausbau polizeilicher Kompetenzen für die Vorfeldobservation die Legitimationsgrundlage für den Verfassungsschutz in Frage. Wozu noch Verfassungsschutz, wenn die Polizei dasselbe darf und tut?

Dagegen wird eingewandt, die unterschiedlichen Aufgaben und Zuständigkeiten der Ämter oder Dienste blieben gewahrt; der BND und das BfV leisten praktisch nur Amtshilfe für die strafrechtlichen Ermittlungen, die Polizei gäbe ihre Erkenntnisse über verfassungsfeindliche Tätigkeiten an den Verfassungsschutz weiter. Zudem gäbe es im Bundeskanzleramt einen Koordinator.

Doch die Erfahrung zeigt, daß sich solche Amtshilfe verselbständigt und daß vor Ort zum Beispiel verdeckte Ermittler oder V-Personen verschiedener Ämter oder Dienste aufeinanderstoßen, ohne voneinander zu wissen. Besondere Probleme treten dann auf, wenn aus einem Sicherheitsapparat des Bundes heraus operiert und mit einer Institution eines Landes kooperiert wird. Die Untersuchungsausschüsse über den Privatagenten Werner Mauss (Niedersachsen) und über den Plutoniumschmuggel (Bund) zeigen, in welcher Weise solche Amtshilfe Mißbrauch möglich macht, weil auf Landesebene vorausgesetzt wird, daß auf Bundesebene alles kontrolliert wird (und umgekehrt).

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