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Recht und Gerech­tig­keit. Rückwir­kende straf­recht­liche Abrechnung mit der DDR?

Felix Herzog

Grundrechte-Report 1997, S. 205-209

Auch im siebten Jahr nach der Wende hält die Diskussion um die strafjustitielle Aufarbeitung des DDR-Staatsunrechts unvermindert an. Betroffene haben an die europäische Öffentlichkeit appelliert, der Verfolgungspraxis der bundesdeutschen Justiz Einhalt zu gebieten, weil sie rechtsstaatswidrig sei. Was die eine Seite als Siegerjustiz denunziert, wird von der anderen Seite als rechtsstaatlich gebotene Verfolgung von menschenrechtsverachtendem kriminellen Unrecht aufgefaßt. In die Debatte spielt weiterhin hinein, daß aus dem Umgang der BRD-Justiz mit NS-Unrecht weitreichende Schlußfolgerungen gezogen werden: Die Befürworter einer konsequenten Verfolgung des DDR-Staatsunrechts beklagen das Versagen der BRD-Justiz in der strafjustitiellen Aufarbeitung der NS-Verbrechen und ziehen aus diesem Schuldbekenntnis den Schluß, daß der Rechtsstaat sich diesmal bewähren müsse. Die Vertreter der These von der Siegerjustiz sehen durch die Verfolgung des DDR-Staatsunrechts die alte linke These bestätigt, daß die deutsche Justiz auf dem rechten Auge blind sei und in der Verfolgung von Kommunisten besonderen Ehrgeiz zeige.

Auf der verfassungsrechtlichen Ebene wird diese Debatte unter dem Chiffre „Rückwirkungsverbot“ geführt. Gegen eine Strafbarkeit von DDR-Staatsunrecht wird vorgebracht, daß sämtliche nunmehr angeklagten Handlungen überwiegend dem damaligen geschriebenen, jedenfalls aber dem praktizierten Recht der DDR, der „dialektischen Einheit von sozialistischer Gesetzlichkeit und Parteilichkeit“ entsprochen hätten. Wenn man nun unter Verweis auf Menschenrechte, das Naturrecht oder das Völkerrecht diese normative Ordnung suspendiere und die unter ihrer Geltung begangenen Taten als Unrecht verfolge, werde unter Verletzung von Art. 103 Abs. 2 GG rückwirkend die Strafbarkeit hergestellt. Dem wird entgegengehalten, daß das Rückwirkungsverbot aus seiner Entstehungsgeschichte verstanden werden müsse. Es sei eine Errungenschaft der Aufklärung und der bürgerlichen Revolutionen im Kampf gegen den Willkürstaat und folglich Abwehrrecht des Bürgers gegen den Staat. Die geschichtliche Erfahrung und der internationale Rechtsvergleich lehrten, daß kaum ein totalitäres Regime darauf verzichtet habe, seiner späteren Verfolgung durch eine Legalisierung des Unrechts vorzubeugen.

Die heutigen Strafverfahren gehen zu einem nicht geringen Teil auf Ermittlungen der DDR-Justiz und auf Strafanzeigen von Bürgerinnen und Bürgern der DDR nach der Wende zurück. Nach dem rechtsstaatlichen Legalitätsprinzip war die bundesdeutsche Justiz dazu verpflichtet, dem Verdacht von kriminellen Handlungen der ehemaligen DDR-Staatsführung und ihrer Organe nachzugehen. Mit der Problematik des Rückwirkungsverbotes haben sich die Staatsanwaltschaften, Tat- und Revisionsgerichte intensiv auseinandergesetzt. Dabei sind nicht immer überzeugende Argumentationen gefunden worden, es hat sich aber eine ausgewogene Position entwickelt, die in dem Mauerschützen-Beschluß des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 24.Oktober 1996 ihren Ausdruck gefunden hat.

Das Bundesverfassungsgericht baut seine Entscheidung von den unbestrittenen Essentials her auf: Das Rückwirkungsverbot ist eine Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips und soll Rechtssicherheit gewähren, indem der Staat an die Gesetze gebunden und für den Bürger das Vertrauen begründet wird, daß nur ein solches Verhalten strafrechtlich verfolgt wird, für das der Gesetzgeber die Strafbarkeit und die Höhe der Strafe im Zeitpunkt der Tat gesetzlich bestimmt hat. Im Interesse dieses Vertrauensschutzes gebietet Art. 103 Abs. 2 GG auch, einen bei Begehung der Tat bestehenden Rechtfertigungsgrund weiter anzuwenden, auch wenn dieser im Zeitpunkt des Strafverfahrens entfallen ist. Von dieser gesetzespositivistischen Seite her erfüllt das Rückwirkungsverbot – so das Gericht – „seine rechtsstaatliche und grundrechtliche Gewährleistungsfunktion durch eine strikte Formalisierung“.

Hierdurch können jedoch Rechtssicherheit und Gerechtigkeit als Elemente der Rechtsidee in ein Spannungsverhältnis zueinander geraten, das Gustav Radbruch als Antinomie der Rechtsidee bezeichnet hat. Unter dem Eindruck des NS-Unrechtsregimes und der Schwierigkeiten seiner strafjustiziellen Aufarbeitung auf der Grundlage eines positivistischen Rechtsverständnisses hat Radbruch die These entwickelt, daß zwar das positive Gesetz regelmäßig um der Rechtssicherheit willen respektiert werden müsse; das gelte aber dann nicht mehr, wenn „der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß das Gesetz als unrichtiges Recht der Gerechtigkeit zu weichen hat“ (sog. Radbruchsche Formel).

Die Aufarbeitung des DDR-Staatsunrechts durch die bundesdeutsche Justiz steht nun vor dem Problem, daß die bundesdeutschen Gerichte unter Beachtung der formalen Seite des Rückwirkungsverbots eine in der DDR begangene Tat nur dann bestrafen können, wenn sie auch schon zur Zeit der Begehung in der DDR mit Strafe bedroht war.

Nimmt man die sogenannten Mauerschützen-Verfahren als Beispiel, so bestand in der DDR für die Durchsetzung des Grenzregimes (auch mit tödlichen Folgen für den „Republikflüchtling“) im Zusammenspiel von § 27 Grenzgesetz der DDR mit § 213 Strafgesetzbuch der DDR unter Einhaltung bestimmter Voraussetzungen ein Rechtfertigungsgrund, ja selbst bei Nichteinhaltung dieser Voraussetzungen folgte aus der Befehlslage an der Grenze und der Staatspraxis der DDR faktisch ein Rechtfertigungsgrund für die Tötung von „Grenzverletzern“.

Die Vertreter des strikten Positivismus gehen davon aus, daß die Rechtslage und die Staatspraxis der DDR als (gelebte) geltende Rechtsordnung zum Zeitpunkt der Taten beachtlich sei; Todesschüsse an der Grenze seien in der DDR gerechtfertigt und jedenfalls faktisch nicht mit Strafe bedroht gewesen, ihre Bestrafung durch die bundesdeutsche Justiz könne nur unter Verletzung des Rückwirkungsverbotes erfolgen.

Der relative Positivismus orientiert sich zwar am Wortlaut der DDR-Gesetze, fordert aber eine methodisch korrekte, rechtsstaatliche Auslegung und hält gesetzeswidrige Taten, auch wenn sie durch Befehlslage und Staatspraxis gedeckt waren, für strafbar, da sie von der DDR-Justiz hätten verfolgt werden müssen. Das Rückwirkungsverbot wird auf diese Weise nicht ohne methodische Fragwürdigkeiten umspielt: Gleichsam hinter dem Rücken aller Akteure der DDR-Justiz soll jenseits der Praxis immer schon eine Option der menschenrechtsfreundlichen Auslegung existiert haben – eine bloße Fiktion.

Konsequenter ist die strikte naturrechtliche Position; sie verweist auf die Verletzung von Menschenrechten durch das DDR-Grenzregime und stellt insofern überhaupt in Abrede, daß der Bestrafung das Rückwirkungsverbot entgegenstehen könnte: „Menschenrechtsverbrechen sind stets strafbar zur Zeit ihrer Begehung; werden sie erst nach dem Ende einer menschenrechtsverachtenden Diktatur wirklich bestraft, so ist das keine rückwirkende Bestrafung, sondern das Einfordern einer Strafbarkeit, die seit der Tatbegehung bestanden hat“ (Naucke).

Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes (BGH) ist durch eine völkerrechtsbezogene Anwendung der Radbruchschen Formel gekennzeichnet. Danach entstanden durch die Rechtslage und Staatspraxis der DDR „Rechtfertigungsgründe, die einer Durchsetzung des Verbots, die DDR zu verlassen, Vorrang vor dem Lebensrecht von Menschen gaben, die nichts weiter wollten, als ohne Gefährdung anerkannter Rechtsgüter die innerdeutsche Grenze zu überschreiten“. Derartigen Rechtfertigungsgründen kommt nach der BGH-Rechtsprechung wegen ihres „offensichtlichen, unerträglichen Verstoßes gegen elementare Gebote der Gerechtigkeit und gegen völkerrechtlich geschützte Menschenrechte keine Wirksamkeit zu, da der Verstoß so schwer wiegt, daß er die allen Völkern gemeinsamen, auf Wert und Würde des Menschen bezogenen Rechtsüberzeugungen verletzt“. In einem solchen Fall müsse „das positive Recht der Gerechtigkeit ausnahmsweise weichen“. Normativer Anknüpfungspunkt im Völkerrecht ist dabei insbesondere der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 19.Dezember 1966. Art. 103 Abs. 2 GG steht nach der BGH-Rechtsprechung folglich einer Bestrafung nicht entgegen.

Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 24.Oktober 1996 fügt dieser Rechtsprechung den Gedanken hinzu, daß das Rückwirkungsverbot nur bei demokratisch rechtsstaatlicher Kontinuität absoluten Vertrauensschutz gewähren könne: „Rechtsstaatliche Anknüpfung“ für Art. 103 Abs. 2 GG sei „das unter den Bedingungen der Demokratie, der Gewaltenteilung und der Verpflichtung auf die Grundrechte zustande gekommene und damit den Forderungen materieller Gerechtigkeit prinzipiell genügende Strafrecht“. Diese „besondere Vertrauensgrundlage“ entfalle für die Rechtfertigung des DDR-Grenzregimes, da „die in der Völkerrechtsgemeinschaft allgemein anerkannten Menschenrechte in schwerwiegender Weise“ mißachtet worden seien. Würde die Strafrechtspflege der Bundesrepublik sich durch das Rückwirkungsverbot an entsprechende Rechtfertigungsgründe gebunden fühlen, würde sie „zu ihren rechtsstaatlichen Prämissen in Widerspruch geraten“. Der nach der Staatspraxis der DDR bestehende Rechtfertigungsgrund für die Tötung von Grenzverletzern ist danach als extremes staatliches Unrecht im Hinblick auf den Vertrauensschutz durch Art. 103 Abs. 2 GG unbeachtlich.

Diese Position ist keine rückwirkende Abrechnung mit der DDR, sondern stellt das Rückwirkungsverbot in den Zusammenhang zur Gerechtigkeitsaufgabe des Strafrechts: Wenn das Strafrecht diejenigen Normen und Werte behaupten soll, die für das menschliche Zusammenleben in gegenseitiger Achtung unverzichtbar sind, dann muß es auch, ja gerade gegen die Mißachtung von Bürgerrechten durch den Staat vorgehen. Dies gilt auch, wenn diese Mißachtung, die Unterdrückung und Verfolgung von Bürgern durch den Staat unter Vorspiegelung der Rechtsform geschieht und durch Staats-, ja Justizorgane umgesetzt wird. Wie soll sich das Strafrecht überhaupt noch legitimieren können, wenn Makrokriminalität, die Beraubung, Knechtung, Mißhandlung, ja Tötung von Staats wegen unter Verweis auf die Gesetzeslage und ständige Staatspraxis zum Tatzeitpunkt für unverfolgbar erklärt wird?

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