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Wer schützt die Verfassung?

Till Müller-Heidelberg

Grundrechte-Report 1997, S. 11-13

Jahr für Jahr legen der Bundesinnenminister und seine Länderkollegen ihre Verfassungsschutzberichte vor. In ihnen wird der Öffentlichkeit dargelegt, welche „Erkenntnisse“ die deutschen Verfassungsschutzbehörden über verfassungsfeindliche oder -widrige Bestrebungen von Bürgerinnen und Bürgern oder Organisationen gewonnen haben. Dieser Informationen bedürfe es – so Bundesinnenminister Manfred Kanther im letzten Verfassungsschutzbericht vom August 1996 -, „weil die Gegner unserer Verfassung nicht selten ihre wahren Ziele verschleiern, Scheinbekenntnisse zum Grundgesetz ablegen oder durch Umwertung von Verfassungsnormen, politischen und juristischen Begriffen vermeintlich als Verfechter demokratischer Prinzipien auftreten“. Die Botschaft ist eindeutig: Verfassungsfeindlich gesinnte Bürgerinnen oder Bürger gefährden unsere freiheitlich demokratische Grundordnung, deren Kernbestand sich aus den Grundrechten unserer Verfassung ergibt, und die zuständigen Behörden des Bundes und der Länder müssen die so bedrohte Verfassung schützen. Der Bürger als Sicherheitsrisiko, Vater Staat als Beschützer.

Das Gegenteil jedoch ist richtig. Keine der in den Verfassungsschutzberichten genannten Personen und Organisationen hat je ernsthaft unsere Verfassung bedroht. Und soweit sie tatsächlich eine potentielle Gefahr waren, ist sie nicht durch die Verfassungsschutzbehörden gebannt worden, sondern durch den Souverän der Verfassung selbst, das Volk. Die terroristischen Organisationen, zum Beispiel die RAF, wurden nicht etwa wirksam durch Verfassungsschutzbehörden bekämpft (schon gar nicht wurde irgendeine ihrer Aktionen durch die Verfassungsschutzbehörden verhindert), sondern sie fanden mit ihren Gewaltaktionen keinen Widerhall in der Bevölkerung und verloren dadurch an Bedeutung. Die scheinbaren Anfangserfolge von NPD, DVU und den Republikanern wurden nicht von Verfassungsschutzbeamten gestoppt, sondern von mündigen Wählerinnen und Wählern, die ihre mögliche Gefährlichkeit für Demokratie und Rechtsstaat erkannten und ihnen mit dem Stimmzettel eine Abfuhr erteilten, die sie in die Bedeutungslosigkeit zurückfallen ließ. Und die stärkste Verfassungsschutzbehörde, die es je auf deutschem Boden gegeben hat, der Staatssicherheitsdienst der DDR mit über 100000 hauptamtlichen Mitarbeitern, hat es nicht fertiggebracht, „seine“ Verfassung gegen das Volk zu schützen. Der Schutz der Verfassung und ihrer Grundrechte ist Aufgabe der demokratisch und rechtsstaatlich engagierten Bürgerinnen und Bürger selbst, wie es erstmals im Mai 1990 elf Bürgerrechtsorganisationen aus der damaligen DDR und BRD in einem gemeinsamen Aufruf erklärt haben (dokumentiert in Heft 17 der Schriftenreihe der Humanistischen Union: „Weg mit dem Verfassungsschutz, der (un)heimlichen Staatsgewalt“).

Während also keine Person und keine Organisation seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland jemals ernsthaft ihre freiheitlich demokratische Grundordnung hat gefährden können, gehen solche Gefährdungen, insbesondere für die Bürger- und Menschenrechte, permanent von staatlichen Organen aus. Dies ist nicht verwunderlich: Macht neigt dazu – wie wir seit Montesquieu wissen -, sich auszubreiten, ihre Grenzen zu sprengen. Die in unserer Verfassung verankerten Grundrechte sollen davor schützen, daß vorübergehende Nützlichkeitserwägungen oder wechselnde Mehrheiten in Parlament und Regierung je nach scheinbarer Opportunität in die Freiheiten der Bürgerinnen und Bürger eingreifen. Während die Sicherheitsbehörden des Staates dazu neigen, in jedem Menschen ein Sicherheitsrisiko zu sehen, ist das Menschenbild des Grundgesetzes der sich frei entfaltende, selbständige und bis zum Beweis des Gegenteils verfassungstreue Bürger.
Vier deutsche Bürgerrechtsorganisationen – Humanistische Union, Gustav-Heinemann-Initiative, Komitee für Grundrechte und Demokratie sowie Bundesarbeitskreis kritischer Juragruppen – legen mit diesem Buch erstmals ein gemeinsames Projekt vor, in dem deutlich werden soll, daß die Grundrechte und die freiheitlich demokratische Grundordnung nicht von Bürgern und ihren Organisationen gefährdet und vom Staat (den Verfassungsschutzbehörden) geschützt werden, sondern daß umgekehrt die Gefährdungen von öffentlichen Institutionen ausgehen und der Schutz der Verfassung durch die Bürger selbst geleistet werden muß! Da die Grundrechte konstitutiv für den demokratischen Rechtsstaat sind, lohnt es sich, sie zu verteidigen.
Die staatlichen Verfassungsschutzberichte beleuchten jeweils das vorausgegangene Jahr. So hält es auch dieser Grundrechte-Report aus alternativer Sicht. Nicht sämtliche Fehlentwicklungen der vergangenen Jahre und Jahrzehnte werden nachgezeichnet, sondern das Augenmerk richtet sich auf die letzten eineinhalb Jahre; auch hier kann der Grundrechte-Report keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Die einzelnen Beiträge haben exemplarischen Charakter. Sie bewegen sich auf unterschiedlichen Darstellungsebenen, sind mal fallorientierter, mal genereller. Das Grundgesetz schützt den Pluralismus der Wertvorstellungen – dies findet seinen Ausdruck in den unterschiedlichen kritischen Maßstäben der Autorinnen und Autoren.

Es geht nicht allein um zahlreiche Eingriffe in die Grundrechte durch öffentliche Institutionen; wir fragen auch nach dem aktuellen Stellenwert der „Staatsziele“ des Grundgesetzes und stellen einige positive Entwicklungen zum Ausbau des demokratischen und freiheitlichen Rechtsstaates dar. Ist es symptomatisch, daß neben bürgerrechtlichen Aktionen (letzter Beitrag des Buches) in dieser Positivliste ausschließlich gerichtliche Entscheidungen, zum Beispiel des Bundesverfassungsgerichts, des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte des Europarates und des Gerichtshofes der Europäischen Union, zu verzeichnen sind? Wie ist in diesem Zusammenhang zu bewerten, daß nach den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zum Kruzifix in Schulen und zum Tucholsky-Zitat von höchsten staatlichen Repräsentanten verfassungsfeindliche Kritik am obersten deutschen Gericht geübt und dazu aufgerufen wurde, seine Entscheidungen durch neue Gesetze in Bayern oder im Bund zu unterlaufen? Warum fehlt es an gesetzgeberischen Initiativen oder Verwaltungspraktiken, die den demokratischen Rechtsstaat ausbauen statt abbauen?

Ausgangspunkt für die staatlichen Verfassungsschutzberichte sind angebliche Sicherheitsbedürfnisse; Ausgangspunkt für den Grundrechte-Report sind Menschenwürde, Grundrechte und Rechtsstaat. Denn: „Der Mensch, der bereit ist, seine Freiheit aufzugeben, um Sicherheit zu gewinnen, wird beides verlieren“ (Benjamin Franklin, „Verfassungsvater“ der USA). Dieses alljährlich als Kontrapunkt zu den offiziellen Verfassungsschutzberichten deutlich zu machen ist Aufgabe des Grundrechte-Reports. Themenvorschläge für die nächste Ausgabe sind den Herausgebern willkommen.

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