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Ausufernde Telefon­über­wa­chung im Straf­ver­fah­ren? Bemerkungen zur Aushöhlung des Art. 10 GG

Burkhard Hirsch

Grundrechte-Report 1998, S. 131-137

Die elektronischen Entwicklungen haben die Kommunikationsformen der Menschen revolutioniert – und ebenso die Möglichkeiten des Staates zur heimlichen Überwachung. Geradezu ehrbar hat die Rechtsordnung das Durchsuchen einer Wohnung geregelt: offen, mit einem Durchsuchungsbefehl, in Gegenwart des Betroffenen oder eines Zeugen, zeitlich begrenzt. Elektronische Überwachungen der Gespräche sind heimlich. Sie sollen die normalen Abwehrreaktionen eines Menschen überwinden, nicht gegen sich selbst, einen Verwandten oder beruflich Schutzbefohlenen auszusagen.

Erst nach der Wiedervereinigung wurde einer breiten Öffentlichkeit bekannt, welche technischen Möglichkeiten für das Abhören von Telefongesprächen entwickelt worden sind. Gespräche über Richtfunk – ein sehr großer Teil aller Ferngespräche – können auch über sehr große Entfernungen abgehört werden. Computer ermöglichen es, die Telefonnummern von Beteiligten und Stichworte in beliebiger Zahl zu wählen, bei deren Benutzung das gewünschte Gespräch aus dem riesigen Wortsalat herausgefischt und aufgezeichnet wird. Es gehört wenig Phantasie zu der Erkenntnis, daß diese Möglichkeiten nicht nur der STASI hatte. Handys waren lange Zeit nicht abhörbar – das hat sich geändert. Man kann durch sie auch feststellen, wo sich der Nutzer (genauer: seine Chipkarte) befindet. Er muß sein Gerät nicht einmal benutzen. Es genügt die Stand-by-Schaltung. Es gibt benutzerfreundliche Geräte, die man zu diesem Zweck von außen aktivieren kann. Der Justitiar des ZDF berichtet, daß die Staatsanwaltschaft Frankfurt auf dem Weg der Telefondatenüberwachung die Kontaktpersonen aus dem Umfeld von Dr. Schneider ermittelte – kurz danach wurde er verhaftet.

Telefonüberwachungen wurden in der Bundesrepublik im Rahmen der sogenannten Notstandsgesetze legalisiert. Es bestand zwar kein Notstand, aber es ging um die Ablösung der alliierten Vorbehaltsrechte. Das G-10-Gesetz führte nicht nur die Telefonkontrolle in die Strafprozeßordnung ein, sondern auch die Telefonkontrolle durch den Verfassungsschutz ohne gerichtliche Kontrolle. Für die Strafprozeßordnung war der ursprüngliche Straftatenkatalog damals – 1968 – bescheiden: Hoch- und Landesverrat, Straftaten gegen die Landesverteidigung und die Truppen der Alliierten, Mord und Totschlag, Raub und räuberische Erpressung, Verschleppung, Mädchenhandel, Kindesentführung und – natürlich – Münzverbrechen. Dabei blieb es nicht: Der Katalog wurde durchschnittlich alle zwei Jahre, zuletzt durch das Verbrechensbekämpfungsgesetz von 1994, ausgedehnt. Er bezieht sich heute auf über 80 Tatbestände unterschiedlichster Qualität. Besonders bemerkenswert ist auch die zusätzliche gesetzliche Regelung des § 39 Außenwirtschaftsgesetz, wonach die Zollbehörde beim Verdacht strafbarer Waffenexporte schon im Vorfeld eines Strafverfahrens die Telefonate ganzer Unternehmen abhören kann.

Über den Umfang der strafprozessualen Kontrollen, ihre Dauer, die Zahl der erfaßten Anschlüsse, Gespräche und Teilnehmer, den Erfolg der Maßnahmen und ihre Kosten liegen keine gesicherten Erkenntnisse vor. Nur das Land Baden-Württemberg ist durch Landtagsbeschluß vom 1. Dezember 1994 verpflichtet worden, dem Landtag jährlich über Telefonüberwachungsmaßnahmen zu berichten. Die Bundesregierung hat erklärt, sie bemühe sich seit 1994 um eine aussagefähige Statistik. Erstmals 1997 hat der Bundesjustizminister Zahlen von Bund und Ländern für das Vorjahr veröffentlicht. Die Anzahl der Verfahren mit Entscheidungen nach § § 100a, 100b StPO wird mit 1798, die Anzahl der Betroffenen nach § 100a Satz StPO – also der Beschuldigten und der unmittelbar mit ihnen zusammenhängenden Personen – mit 3172 angegeben. Selbst wenn man für Baden-Württemberg 360 Verfahren und gut 800 Betroffene hinzurechnet, muß man die Richtigkeit dieser Zahlen bezweifeln.

Ebenfalls für 1996 hat nämlich die Bundesregierung (BT-Drucks. 13/7341 v. 26. 3. 97) nach den Angaben der Netzbetreiber (!) 6428 Anordnungen über Telefonkontrollen nach § 100a StPO mit insgesamt 9002 Anschlüssen angegeben – zu den statistischen Angaben der Länder gegenüber dem Bundesjustizminister eine unerklärbare Differenz. Bei den 377 vom BKA überwachten Anschlüssen gehörten 211 den Beschuldigten, 166 „sonstigen“ Personen. Bei den 104 vom Generalbundesanwalt beantragten Anordnungen richteten sich nur 16 gegen Beschuldigte, 86 gegen „sonstige“ Personen und 2 auf öffentliche Telefonzellen. Die Mehrzahl der Überwachungen habe zwei bis drei Monate gedauert, die Gesamtkosten bei BKA und GBA lagen bei rund einer Million Mark.

Die Bundesregierung sah sich nicht in der Lage, irgendwelche Auskünfte über die Dauer der überwachten Gespräche, über die Zahl der tatsächlich erfaßten, in den Anordnungen nicht genannten Personen, über berufliche Geheimnisträger, über Ergebnisse, Erfolge, über die Zahl der nachträglichen Benachrichtigungen, Rechtsmittel oder über die Verwendung von Erkenntnissen zu Lasten Dritter zu geben. Sie wußte auch nicht, in wieviel Fällen beantragte Überwachungen von Richtern abgelehnt worden sind. Diese Antwort ist in Anbetracht der grundrechtlichen Relevanz schlicht ein Armutszeugnis.

Man muß also schätzen, wie viele Personen tatsächlich bei Telefongesprächen abgehört wurden. In den USA rechnet man mit 101 Personen pro Fall. Für die Bundesrepublik muß man also davon ausgehen, daß im Jahr 1996 etwa 500000 Personen in eine Telefonkontrolle gerieten, ohne es zu wissen oder nachträglich benachrichtigt zu werden. Natürlich liegen auch keinerlei Zahlen darüber vor, in wie vielen Fällen der BND aufgrund der neuen Ermächtigung des Verbrechensbekämpfungsgesetzes von der Möglichkeit Gebrauch gemacht hat, auf der Grundlage von Wortbanken satellitengestützte internationale Telefongespräche oder Faxverbindungen aufzunehmen, von denen ein Teilnehmer Deutscher ist. Man wird aber davon ausgehen können, daß die Anfangsphase vorbei ist, in der der BND noch nicht mit Wortbanken arbeiten konnte.

Natürlich stellt sich die Frage, ob sich die für den strafrechtlichen Bereich geschilderten Maßnahmen quantitativ im international üblichen Rahmen halten. Diese Frage ist zu verneinen. Über Frankreich und Italien gibt es kein zuverlässiges empirisches Material. In der Schweiz werden etwa 400 Abhörgenehmigungen jährlich erteilt, überwiegend im Bereich der Drogenkriminalität. In Großbritannien wurden in den letzten zehn Jahren durchschnittlich etwa 500 Anordnungen jährlich erteilt. Dabei handelt es sich aber sowohl um Entscheidungen in der Gefahrenabwehr wie in der Strafverfolgung. Etwa 60 Prozent der Fälle beziehen sich auf die Drogenkriminalität.

Die genauesten Zahlen gibt es über die USA aus dem jährlichen Bericht an das Repräsentantenhaus. Im Jahr 1985 wurden 670 Fälle der elektronischen Überwachung angeordnet, 1992 waren es 919, im Jahr 1996 immerhin 1149 Fälle, davon etwa 70 Prozent Telefonüberwachungen. Ablehnungen beantragter Überwachungen wurden nicht bekannt. Etwa 70 Prozent bezogen sich auf Drogenkriminalität und verbotenes Gücksspiel, die ursprüngliche Dauer von 28 Tagen wurde in der überwiegenden Mehrheit verlängert, in der Regel auf maximal drei Monate. Durchschnittlich wurden in jedem Fall 101 Personen abgehört, etwa 80 Prozent der belauschten Gespräche waren irrelevant. Über 60 Prozent der Anordnungen ergingen in New York und New Jersey, in 27 Staaten wurden überhaupt keine Telefonkontrollen angeordnet. Irgendeine meßbare Auswirkung auf die Kriminalitätsentwicklung in den Ländern ohne Telefonkontrollen hat diese „Enthaltung“ nicht gehabt.

Der Vergleich mit den USA zeigt den außerordentlichen, ja erschreckenden Umfang der Telefonkontrollen in der Bundesrepublik: Trotz dreifach größerer Bevölkerung gibt es in den USA nur weniger als ein Fünftel der bei uns üblichen Abhörmaßnahmen – und das in Deutschland ohne jede öffentliche Kontrolle!

Wie könnte eine solche Kontrolle aussehen?

1. Die Entscheidung über Abhörmaßnahmen sollte auch in Eilfällen nur von einem Richterkollegium getroffen werden können. An dem Verfahren ist ein Anwalt zu beteiligen, der von der Anwaltskammer benannt wird und im öffentlichen Auftrag die Interessen der Betroffenen vertritt. Abhörmaßnahmen bei Personen mit gesetzlicher Schweigepflicht sollten grundsätzlich nur dann zulässig sein, wenn die Person selbst einer Straftat verdächtig ist. Erklärt das Kollegium eine Abhörmaßnahme für zulässig, dann sollte es vierzehntägig über den Stand und die Ergebnisse der Maßnahme informiert werden und bei ihrem Ende darüber entscheiden müssen, welche Ergebnisse polizeilich und gerichtlich verwendbar sind. Das Abhörprotokoll sollte ausschließlich bei dem Gericht des Kollegiums verwahrt werden.

2. Die zulässige Höchstdauer einer Kontrolle sollte – einschließlich Verlängerung – drei Monate nicht überschreiten. Dabei sollte eine Verlängerung nur zulässig sein, wenn neue Tatbestände vorgetragen werden. Unzulässige Aufnahmen sind ersatzlos zu löschen. In den USA wird in einem solchen Fall die gesamte Aufnahme, ob teilweise zulässig oder gar nicht, unverwertbar – ein wichtiges Prinzip, das wesentlich zur Selbstkontrolle der ermittelnden Behörde beiträgt. Die Benachrichtigung des Betroffenen von der Abhörmaßnahme hat spätestens zwei Jahre nach Abschluß, auf jeden Fall aber vor Eröffnung des Hauptverfahrens zu erfolgen. Dabei sind die für verwertbar erklärten Teile des Protokolls zu den Gerichtsakten zu nehmen.

3. Bundestag und Landtagen ist ein jährlicher Bericht vorzulegen, in dem enthalten ist: entscheidendes Gericht, Zahl und Art aller genehmigten und abgelehnten Überwachungsmaßnahmen, Anlaß, Dauer, Zahl der tatsächlich berührten Personen, Art ihrer Beziehung zum Betroffenen, Anteil der relevanten Gespräche, Empfänger der ermittelten Informationen, Erfolge, Löschungen, Kosten, Zeitpunkt der Benachrichtigung der Betroffenen und Ergebnis eines ggf. ergriffenen Rechtsmittels, Dauer und Grund einer fortdauernden Nichtbenachrichtigung.

Man kann unschwer vorausagen, daß der Deutsche Bundestag in seiner breiten Mehrheit auch nur entfernt ähnliche Mechanismen nicht beschließen wird. Wir haben im Bereich der „inneren Sicherheit“ in den letzten beiden Legislaturperioden eine Aufrüstung ohnegleichen erlebt, die im Großen Lauschangriff einen nur vorläufigen Höhepunkt findet. Gebetsmühlenartig werden weiterhin die bekannten Dogmen heruntergeleiert: schärfere Gesetze, höhere Strafen, mehr Kontrollen, weg mit den lästigen Bürgerrechten, denn wir sind der Staat! Die eigentlich notwendigen kriminalpolitischen Erfordernisse bleiben vernachlässigt: eine moderne Drogenpolitik, die diesen Namen verdient, die Befreiung der Polizei von bürokratischem Firlefanz, eine bessere Jugendarbeit, eine intensivere Betreuung der Aussiedler, die Motivierung der kommunalen Behörden, der Stadtplaner, Jugendämter, Architekten usw. zum sicherheitsbewußten Handeln, die bessere Anwendung des sogenannten Beschleunigten Verfahrens im Strafverfahren und des Vereinfachten Verfahrens in der Jugendgerichtsbarkeit.

Es ist Zeit zur Erneuerung.

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