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Das Rückwir­kungs­verbot und die deutsche Vereinigung

Gerald Grünwald

Grundrechte-Report 1998, S. 267-272

An den Bestimmungen des Grundgesetzes sind mehrfach Veränderungen vorgenommen worden, durch die Grundrechte eingeschränkt wurden. Dem Art. 103 Abs. 2 ist anderes widerfahren: Er lautet heute noch ebenso wie 1949 – aber das Bundesverfassungsgericht hat ihm seine Geltung zu einem Teil abgesprochen. Das Rückwirkungsverbot – so heißt es in dem Beschluß vom 24. Oktober 1996 (BVerfGE 95, 96) – gelte für die Aburteilung von in der DDR begangenen Handlungen nicht uneingeschränkt.

Will man die Bedeutung dieser faktischen Teilaufhebung eines Verfassungssatzes erfassen, so ist es angebracht, seine Entstehung und die Rechtsentwicklung bis zu jener Entscheidung zu betrachten.

Nach der Niederringung des Dritten Reiches hatten die Alliierten im Statut des Internationalen Militärtribunals und danach im Kontrollratsgesetz Nr. 10 – das auch von deutschen Gerichten anzuwenden war – angeordnet, daß Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu bestrafen seien „ohne Rücksicht darauf, ob sie das nationale Recht des Landes, in welchem die Handlung begangen worden ist, verletzen“. Damit wurde das Prinzip, daß eine Tat nur nach den bereits zur Tatzeit geltenden Gesetzen bestraft werden kann, durchbrochen. Angesichts der Ungeheuerlichkeit der Taten wollte man sicherstellen, daß die für sie Verantwortlichen sich nicht mit Erfolg darauf berufen könnten, im Einklang mit den Gesetzen des NS-Staates (oder des jeweiligen Tatortes) gehandelt zu haben.

Die Väter des Grundgesetzes entschieden sich hingegen dafür, das Prinzip des Art. 103 Abs. 2 ohne jede Ausnahme festzuschreiben. Der Ausschluß rückwirkender Strafbarkeitserklärung war fortan auch auf die im Dritten Reich vorgenommenen Handlungen anzuwenden. Damit sollten freilich nicht etwa die von der NS-Staatsführung angeordneten oder gebilligten Taten allesamt straflos gestellt werden; vielmehr ging man davon aus, daß die geheimgehaltenen Anordnungen der Staatsführung auch nach dem damaligen Staatsrecht keine Rechtsnormen gewesen seien. So blieben die systematische Ermordung von Juden, Sinti und Roma, die Tötung von Geisteskranken, die Erschießung gefangengenommener Kommissare der Roten Armee strafbar, weil die sie anordnenden unveröffentlichten Befehle das gesetzliche Tötungsverbot nicht einzuschränken vermochten. (Später, in den sechziger Jahren, setzte ein Streit darüber ein, ob damit das nationalsozialistische Staatsrecht zutreffend erfaßt sei.) Soweit sich die Unterdrückungsmaßnahmen jedoch in den Bahnen von Gesetzen (oder gesetzesgleichen Verordnungen) entfalteten, schützten diese nun unter der Geltung des Grundgesetzes diejenigen, die sie angewendet hatten, vor Strafe.

Die Tatsache, daß das Rückwirkungsverbot in das Grundgesetz ohne eine Einschränkung aufgenommen worden war, führte zu einem bemerkenswerten Vorgang bei der Ratifizierung der Europäischen Menschenrechtskonvention: Diese Konvention enthält in Art. 7 Abs. 1 ebenfalls das Prinzip, daß ein Verhalten nur bestraft werden kann, wenn es bereits zur Zeit der Begehung für strafbar erklärt war. Abs. 2 dieser Bestimmung läßt jedoch eine Ausnahme zu. Er lautet im englischen Text: „This article shall not prejudice the trial and punishment of any person for any act or omission which, at the time it was committed, was criminal according to the general principles of law recognized by civilised nations.“ Das bedeutet, daß eine Bestrafung solcher Handlungen zulässig und nicht durch die Konvention untersagt ist. In der deutschen Übersetzung (die unverbindlich ist) heißt es fälschlich: „Durch diesen Artikel darf (!) die Verurteilung oder Bestrafung einer Person nicht ausgeschlossen werden …“ Damit schien die Menschenrechtskonvention eine Verpflichtung zur Bestrafung solcher Handlungen ohne Rücksicht auf ihre Strafbarkeitserklärung zur Tatzeit zu enthalten. Das veranlaßte die Bundesrepublik, beim Beitritt zu der Konvention einen Vorbehalt bezüglich des Art. 7 Abs. 2 zur Wahrung des Art. 103 Abs. 2 des Grundgesetzes zu erklären. Damit war man zwar einem Mißverständnis erlegen, aber dieses war insofern fruchtbar, als nochmals deutlich wurde: Das Grundgesetz gewährt über die Menschenrechtskonvention hinausgehend Schutz vor Strafe, es läßt Ausnahmen vom Rückwirkungsverbot nicht zu.

(Eine der Menschenrechtskonvention entsprechende Regelung ist auch im Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte enthalten, den die Bundesrepublik 1973 ratifiziert hat. Hier ist die Übersetzung der Ausnahmebestimmung (Art. 15 Abs. 2) jedoch korrekt: „Dieser Artikel schließt die Verurteilung oder Bestrafung … nicht aus …“ Dementsprechend sah auch die Bundesrepublik keinen Anlaß für einen Vorbehalt.)

Als 1989/90 die rechtlichen Regelungen für den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik auszuarbeiten waren, stand es für alle Rechtskundigen außer Frage, daß eine rückwirkende Erstreckung des Strafrechts der Bundesrepublik auf das Gebiet der DDR nicht in Betracht kam und ebensowenig der Erlaß von Sondergesetzen zur Ahndung als strafwürdig angesehener Taten. Dementsprechend wurde in den Einigungsvertrag eine Bestimmung (Art. 315 EGStGB) aufgenommen, die besagt, daß in der DDR begangene Handlungen nur so weit zu bestrafen sind, als dies dem zur Tatzeit geltenden DDR-Recht entspricht und zugleich auch dem neu eingeführten Recht der Bundesrepublik. (Nur für einige wenige Tatbestände, für die das Strafrecht der Bundesrepublik schon zuvor Geltung über die Grenzen hinaus beansprucht hatte, sollte es allein auf dieses ankommen.)

Ist es Voraussetzung für die Bestrafung einer Handlung, daß sie (auch) nach den Gesetzen der DDR strafbar war, so bedeutet das für die Prozesse gegen Grenzsoldaten, die auf Flüchtende geschossen haben: Ihre Bestrafung hängt davon ab, ob sie die Bestimmungen des DDR-Grenzgesetzes eingehalten oder verletzt haben. Dieses sah den Schußwaffengebrauch als äußerstes Mittel zur Verhinderung unerlaubter Grenzüberschreitungen vor, wobei „das Leben von Personen nach Möglichkeit zu schonen“ war. Demnach war es strafbar, wenn ein Flüchtling erschossen wurde, obwohl die Flucht bereits gescheitert war oder durch mildere Mittel sicher verhindert werden konnte (und der Schütze dies erkannte), straflos andererseits der Schußwaffengebrauch als letztes Mittel, selbst wenn dabei der Tod in Kauf genommen wurde.

Die Gerichte haben jedoch auch Soldaten verurteilt, die sich entsprechend dem Grenzgesetz verhalten hatten, und dazu verschiedene Begründungen dafür vorgetragen, daß die Bestimmungen des Grenzgesetzes die Täter nicht vor Strafe bewahren könnten. Sodann wurden auch Mitglieder des Nationalen Verteidigungsrates der DDR und schließlich Politbüromitglieder als für das Grenzregime verantwortlich verurteilt.

Alle Argumente, die dartun sollten, daß man das DDR-Recht so (um-)interpretieren könne, daß auch durch den Wortlaut des Grenzgesetzes gedeckte Taten strafbar gewesen seien, wurden in der rechtswissenschaftlichen Literatur als nicht stichhaltig kritisiert.

Das Bundesverfassungsgericht – das in dem Beschluß vom 24. Oktober 1996 die Verfassungsbeschwerden von Mitgliedern des Nationalen Verteidigungsrates und eines Angehörigen der Grenztruppen zurückwies – hat denn auch jene Argumente zur Rechtfertigung der Bestrafung nicht übernommen. Es hat nicht versucht, die Bestrafung als mit dem Prinzip des Art. 103 Abs. 2 vereinbar hinzustellen. Vielmehr hat es erklärt, daß in der besonderen Situation der Ablösung des Rechts der DDR – „eines Staates, der weder die Demokratie noch die Gewaltenteilung noch die Grundrechte verwirklichte“ – eine Ausnahme von diesem Prinzip anerkannt werden müsse. Die DDR habe im Bereich schwersten kriminellen Unrechts die Strafbarkeit durch Rechtfertigungsgründe ausgeschlossen und damit die in der Völkerrechtsgemeinschaft allgemein anerkannten Menschenrechte in schwerwiegender Weise mißachtet. Das Gebot materieller Gerechtigkeit verlange in einem solchen Falle die Nichtbeachtung des die Strafbarkeit ausschließenden Gesetzes.

Die Entscheidung ist in den Medien ganz überwiegend positiv aufgenommen worden. Dies erscheint auch verständlich, wenn man davon ausgeht, daß die durch das Grenzgesetz gedeckten Handlungen schwere Verletzungen der allgemein anerkannten Menschenrechte gewesen seien. (Diese Bewertung kann man in Zweifel ziehen, wenn man die rigorosen Bestimmungen über den Gebrauch von Schußwaffen betrachtet, die an den Grenzen anderer Staaten gelten.)

Auch wenn man von der Prämisse – schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen – ausgeht, ist die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts verfehlt. Der Art. 103 Abs. 2 läßt, wie dargelegt, keine Ausnahme zu. Selbst wenn man sich eine Situation vorstellt, in der es um die Ahndung von Mordtaten ginge, die denen unter dem Nationalsozialismus vergleichbar, aber durch Gesetz gedeckt wären, wäre es nicht zulässig zu erklären: „Hier gilt Art. 103 Abs. 2 nicht.“ Vielmehr bestünde in einer solchen Situation die Legitimation dafür, daß im Wege der Verfassungsänderung Bundestag und Bundesrat mit den erforderlichen Mehrheiten in den Art. 103 Abs. 2 eine Einschränkung einfügen und damit den Weg für ein Gesetz eröffnen würden, das mit der erforderlichen Bestimmtheit die rückwirkend für strafbar zu erklärenden Handlungen bezeichnet.

Das Bundesverfassungsgericht hat mit seiner Billigung rückwirkender Strafbarkeitserklärung die Entscheidungskompetenz und damit die Verantwortung des Parlaments für Verfassungsänderungen und für den Erlaß einfacher Gesetze ausgeschaltet. Eine Verfassungsänderung ist nicht vollzogen worden. Ein einfaches Gesetz, das die Ahndung von in der DDR begangenen Taten regelt, liegt allerdings vor – und zwar mit dem der Verfassungsgerichtsentscheidung entgegengesetzten Inhalt: der im Einigungsvertrag enthaltene Art. 315 EGStGB, der für die Bestrafung die Strafbarkeit auch nach den Gesetzen der DDR voraussetzt und dabei keine Einschränkungen bezüglich der Schüsse an Mauer und Grenze – die ja durchaus bekannt waren – vorsieht.

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