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Kurze Ewigkeit oder Wie Regierungen die parla­men­ta­ri­sche Kontrolle aushebeln

Ulrich Finckh

Grundrechte-Report 1998, S. 195-199

Ausgerechnet die Rechtschreibreform, nicht das Schengener Abkommen, nicht EU-Vorschriften über die Größe von Äpfeln oder NATO-Beschlüsse, nein, die Rechtschreibreform hat eine grundlegende Schwäche der derzeitigen demokratischen Praxis bei uns wie in Europa ingesamt aufgezeigt. Die Regierungen werden zu Gesetzgebern und hebeln die Rechte der Parlamente aus. Erst nach den ersten Gerichtsurteilen gegen die Rechtschreibreform schlugen die Kultusminister eine gesetzliche Regelung durch einen Staatsvertrag vor. Was an einer vergleichsweise unwichtigen Regelung kritisiert wurde, zeigt ein grundsätzliches Problem.

Die Bindung aller staatlichen Macht an Recht und Gesetz sowie die gegenseitige Begrenzung und Kontrolle der Macht sollen sichern, daß die Verfassung eingehalten wird. Diese kennt grundlegende Prinzipien, die auf jeden Fall gelten sollen: Unveränderlich, sozusagen nach Art. 79 Abs. 3 GG mit „Ewigkeitsgarantie“ ausgestattet, sind im Grundgesetz die Art. 1 und 20. Damit sind nach Art. 1 Menschenwürde und deshalb nach Art. 19 der Wesensgehalt der Grundrechte und nach Art. 20 Demokratie, Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit, Sozialstaatlichkeit und Föderalismus grundlegende Verfassungsprinzipien, die selbst mit sonst verfassungsändernden Mehrheiten (zwei Drittel in Bundestag und Bundesrat) nicht verändert werden dürfen. Wird nun aber die politische Praxis diesen Verfassungsbestimmungen gerecht?

Zur Demokratie gehören als grundlegende Prinzipien mindestens freie Willensbildung, direkte, geheime Wahlen, Gewaltenteilung, parlamentarische Kontrolle der Exekutive und Öffentlichkeit. Diese unaufgebbaren Prinzipien werden zunehmend ausgehebelt durch eine Praxis, die Regierungsabsprachen an die Stelle der verfassungsmäßigen Gesetzgebung setzt. Im Kleinen geschieht das selbst dann in der Kultusministerkonferenz (KMK), wenn Absprachen den Parlamenten vorgelegt werden. Welcher Landtag ist denn in der Lage, die Absprachen der Landesregierungen wirksam zu kontrollieren? Praktisch hebeln die einstimmigen Absprachen der demokratisch gewählten Kultusminister gleicherweise die parlamentarische Kontrolle und die föderalistische Struktur unseres Bundesstaates aus, weil es keine oder zu viele und zu kleine parlamentarische Gegenüber gibt. Die Rechtschreibreform wurde nur nach Absprache als Verwaltungsvorschrift an den Parlamenten vorbei geregelt. Deshalb die Bedenken mancher Gerichte. Der Unterschied zur bisherigen Praxis, sich nach „dem Duden“ zu richten, scheint gering. Während der Duden aber nur die tatsächliche Sprachentwicklung nachvollzog, die in Publikationen aller Art zu beobachten war, wollte die KMK vorschreiben, und das ist etwas prinzipiell anderes. Viel wichtiger als die KMK-Entscheidung sind jedoch die, bei denen es um Krieg und Frieden gehen kann.

Besonders problematisch ist deshalb die Regierungszusammenarbeit im internationalen Bereich. In der EU ist die Exekutive, bestehend aus den Regierungen der Mitgliedsstaaten und dem Präsidenten der Kommission, nicht nur de facto der Gesetzgeber, sondern auch de jure. Gesetzgebungsinitiativen kann nur die Kommission ergreifen, Gesetze beschließen kann nur der Rat. Das Europäische Parlament bleibt – abgesehen vom Haushalt – weitgehend außen vor. Die Exekutive, also die Regierungen und die Kommission, setzen sich an die Stelle des Gesetzgebers; von Gewaltenteilung und wirksamer parlamentarischer Kontrolle kann keine Rede mehr sein. Als Gesetzgeber fungieren also die Minister, die zum Beispiel in Deutschland vom Kanzler eingesetzt sind und keinerlei parlamentarische Legimation haben! Auf Grund der Beschlüsse des Rates erläßt die Kommission dann Richtlinien und Verordnungen, die dem nationalen Recht gegenüber Vorrang haben, so daß auch die nationalen Parlamente ausgeschaltet sind. Im Grunde können alle Parlamente den Regierungen nur noch Empfehlungen geben und hoffen, daß diese beachtet werden, oder kritische Diskussionen anzetteln, die allenfalls bei späteren Regelungen Wirkung zeigen.

Um das EU-Parlament ganz auszuschalten, werden nicht wenige Regelungen bisher nur als Regierungsabsprachen getroffen: vom Schengener Abkommen über die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik bis zu Europol. Die europäische Regierungspolitik heute entspricht so formal weitgehend der vor- und antidemokratischen Politik der Regierungen des Deutschen Bundes in der reaktionären Metternich-Ära. Auch wenn die Regierungen demokratisch gewählt wurden, handeln sie wie Feudalherren.

Nicht besser ist es in der NATO, die überhaupt kein Parlament kennt, sondern nur eine unverbindliche parlamentarische Versammlung. Dabei kann der NATO-Rat, in dem bestenfalls Minister, oft nur die Botschafter der Mitgliedsländer sitzen, auch für unser Land über Krieg und Frieden entscheiden (Art. 80a Abs. 3 GG), sofern die Bundesregierung zustimmt. Der Bundestag kann diese Entscheidung nur mit der absoluten Mehrheit seiner Mitglieder, also der die Regierung tragenden „Kanzlermehrheit“, überstimmen.

Die beschriebene Praxis verletzt offensichtlich die grundlegenden demokratischen Regeln der Gewaltenteilung, weil Regierungen selbst zu Gesetzgebern werden und parlamentarische Kontrolle weitgehend ausgeschaltet ist. Von geheimen direkten Wahlen der Legislative kann keine Rede sein, weil ja die indirekt gewählten Regierungen oder ihre Botschafter entscheiden. Öffentlich schließlich erfolgen die Entscheidungen über Gesetze, Richtlinien, sogar über Krieg und Frieden auch deshalb nicht, weil alle Regierungskonferenzen von der KMK über den Europäischen Rat bis zum NATO-Rat nicht öffentlich beraten und entscheiden.

Natürlich gibt es auch Entscheidungen, die von den Parlamenten ratifiziert werden müssen. Aber welches Parlament ist in der Lage, Regierungsvereinbarungen abzulehnen, die auf der Übereinstimmung vieler Länder basieren? Regelmäßig trauen sich das höchstens die Parlamentarier in den USA, wenn mal ein Abkommen nicht so ist, wie die dortigen parlamentarischen Mehrheiten es wünschen.

Während in den USA, Frankreich und den Staaten, die sich an deren Strukturen orientieren, die Exekutive vorrangig vom direkt gewählten Staatspräsidenten geleitet und bestimmt wird und das Parlament ein echtes Gegenüber bildet, ist in vielen Staaten, vor allem in konstitutionellen Monarchien, aber auch in Deutschland und Italien, die Exekutive so gut wie ganz auf die vom Parlament gewählte Regierung übergegangen. Die Mehrheit der Legislative bestimmt die Exekutive, so daß sie selbst regiert und dann die eigene Regierung auch noch selbst kontrollieren soll. Wenn sichergestellt ist, daß regelmäßig gewählt wird und Gesetzgebung wie Regierungshandeln öffentlich sind, kann das funktionieren. Wenn aber die Regierungen unter Ausschluß der Öffentlichkeit sich mit anderen Regierungen zusammentun und dabei auch noch selbst Gesetzgeber werden, wird die Mehrheitsdemokratie ohne echte Gewaltenteilung problematisch und ist vor Machtmißbrauch nicht mehr ausreichend geschützt. Unkontrolliertes Exekutivhandeln ist das Gegenteil von Demokratie, es ist typisch für eine Diktatur. Auf dem Umweg über übergreifende Institutionen werden – das wird immer deutlicher – die mit Ewigkeitsgarantie versehenen Verfassungsgrundlagen unseres Grundgesetzes ausgehebelt. Eine kurze Ewigkeit …

Seit einiger Zeit formiert sich aber auch Widerstand. Im Jahr 1997 wurde mindestens an zwei Stellen in der Bundesrepublik Deutschland dieses Thema grundsätzlich aufgegriffen. Die 40 im „Forum Menschenrechte“ zusammengeschlossenen Nichtregierungsorganisationen haben sich mit einem Kongreß in Bonn die Empfehlungen zu eigen gemacht, die ein „Rat der Weisen“ für eine soziale und demokratische Entwicklung der EU vorgelegt hat. Über diese Vorschläge hinaus wurden für Europa mehr Demokratie, insbesondere mehr parlamentarische Rechte und Kontrolle, sowie ein umfassender Katalog einklagbarer Grund- und Menschenrechte gefordert.

Eine andere Protestbewegung knüpfte auf Initiative der Gustav-Heinemann-Initiative an die „Forderungen des Volkes in Baden“ an, die 1847 in Offenburg beschlossen wurden. So wie vor 150 Jahren Verfassungs- und Menschenrechte gegen die Reaktion der regierenden Fürsten wieder eingefordert wurden, so ist es auch heute an der Zeit, die Rechte der Menschen zu verteidigen und sie wieder geltend zu machen, wo sie mißachtet werden. Die Strukturen und Regeln der Demokratie sind so wichtig, daß ihre Mißachtung jeden Demokraten alarmieren muß.

Literatur:

Forum Menschenrechte, Für ein Europa der politischen und sozialen Rechte, Material Nr. 8, Bonn 1997.

Ulrich Finckh (Hrsg), Für Freiheit und soziale Gerechtigkeit: Zukunftsaufgaben der Bürgerrechtsbewegung in Deutschland und Europa, Stuttgart 1997.

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