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Ungleich­wer­tige Lebens­ver­hält­nisse zwischen Ost und West

Hermann Klenner

Grundrechte-Report 1998, S. 246-250

Daß in Deutschland oder in irgendeinem anderen Land die Lebensverhältnisse für alle gleich werden, ist sinnvollerweise weder zu begehren noch zu befürchten. Ebensowenig wie zu begehren oder zu befürchten ist, daß wir alle gleich sind in unseren Fähigkeiten und Fertigkeiten, unseren Charakteren und Bedürfnissen, unserem Geschlecht und unserem Schicksal.

Das Grundgesetz, die nach wie vor provisorische Verfassung Deutschlands, gebietet in seinem Art. 3 die Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz und in seinem Art. 33 die staatsbürgerliche Gleichstellung aller Deutschen im gesamten Bundesgebiet. Gleiches soll gleich, Ungleiches soll ungleich behandelt werden. Vom Gesetzgeber und vom Gericht. Alles andere ist Willkür, ist ungerecht, ist Verfassungsbruch.

Nun gehören die Grundrechte des Menschen und der Bürgerin wie des Bürgers zu ihren Lebensverhältnissen, die zwar nicht dieselben und nicht einmal die gleichen sind für alle, von denen aber besonders wichtige den gleichen Schutz genießen sollen. Es geht jedoch um noch mehr. Die Präambel des Grundgesetzes spricht davon, daß die Einheit Deutschlands vollendet sei, und der hier zu behandelnde Art. 72 davon, daß in seinem Verantwortungsbereich der Bund das Gesetzgebungsrecht für die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse und für die Wahrung der Rechts- und Wirtschaftseinheit habe. Formal ist die Einheit Deutschlands seit dem Beigetretensein der DDR zur BRD, also seit dem 3. Oktober 1990 um 0 Uhr, vollendet, real aber sind die Lebensverhältnisse innerhalb des vereinigten Deutschlands in einem Ausmaß ungleich, daß sie als nicht gleichwertig charakterisiert werden müssen. Die Einheit Deutschlands ist also unvollendet.

Daraus folgt aber auch die Verantwortung des Bundes, sein Gesetzgebungsrecht zur Herstellung und Wahrung, wenn auch nicht gleicher, so doch gleichwertiger Lebens-, Rechts- und Wirtschaftsverhältnisse wahrzunehmen. Und damit ist auch das Recht auf Herstellung und Wahrung der Gleichwertigkeit ihrer Lebensverhältnisse in ganz Deutschland im allgemeinen und im besonderen das zwischen den neuen und den alten Bundesländern impliziert.

Die Rede soll hier nicht bloß von Einzelfällen und nicht bloß von Lokalem (so schlimm das schon wäre) sein. Die Rede ist vielmehr von einem flächendeckenden Dauerdelikt, von Grundgesetzverletzungen durch Tätigkeit wie durch Untätigkeit der Bundesorgane. Es handelt sich hierbei nicht um einen politischen Ermessenstatbestand, den man so oder auch ganz anders sehen kann, nicht um einen dem Parlament, der Regierung und den Gerichten freigestellten Beurteilungsspielraum. Diese Angelegenheit ist objektivierbar, zu einem beträchtlichen Teil sogar quantifizierbar:

Deutschland ist im Oktober 1997 geteilter als im Oktober 1990: Der Vereinigungseuphorie droht nach sieben Jahren Einheit eine Vereinigungsphobie zu folgen, im Westen vermutlich mehr als im Osten. In Ostdeutschland herrschen andere Lebensverhältnisse als in Westdeutschland, jedenfalls nicht gleichwertige – und das auf vielen Gebieten. Keine Aussicht auf Änderung, schon gar nicht im Selbstlauf. Wäre man boshaft, könnte man von den neuen Bundesländern als von einer Sonderzone innerhalb Deutschlands sprechen oder von einer Kolonie im Ergebnis von Kolonisierungen. Die Arbeitslosigkeit ist doppelt so hoch wie in den alten Bundesländern (tendenziell geht die Schere weiter auseinander), die Einkommen sind um 20 bis 30 Prozent geringer, nur die Preise sind so gut wie gleich.

Die Unterschiede sind fundamentaler Art. Nicht 1989, wohl aber 1997 ist der Osten Deutschlands das rückständigste Wirtschaftsgebiet innerhalb der jetzt zur Europäischen Union gehörenden Länder. Es weist alle Merkmale eines wirtschaftlichen Notstandsgebietes auf. Gleichzeitig gibt es keine Region in Europa, in der sich die Produktionsmittel, insbesondere die industriellen, zu einem so geringen Prozentsatz im Eigentum ihrer Bewohner befinden. Die Betriebe von annähernd 90 Prozent der in Ostdeutschland tätig gewesenen Arbeiter und Angestellten wurden an westdeutsche Investoren verkauft, teilweise auch an sie verschleudert.

Das dem Eigentumsstatus des Grundgesetzes eigentlich widersprechende (dennoch gesetzlich festgelegte) Prinzip „Rückgabe vor Entschädigung“ hat zu einer Recht und Unrecht ununterscheidbar machenden Vertreibung ostdeutscher Besitzer (Mieter und Pächter) sowie Eigentümer geführt, wie sie beispiellos ist in der innerdeutschen Rechtsgeschichte. Zwei Millionen Hektar Wälder und Felder ostdeutschen Besitzes und Eigentums (darunter Teile von Naturschutzgebieten) werden zu Vorzugsbedingungen und gewiß nicht an diejenigen verkauft, die den Grund und Boden auch bearbeiten werden oder auch nur in der letzten Generation hier gelebt haben. Selbst die Bodenreform, die in Ostdeutschland im wesentlichen dem Feudalismus ein Ende bereitete, droht rückgängig gemacht zu werden.

Die infolge einer verkehrten Vereinigungspolitik bewirkte Monopolisierung des ostdeutschen Produktiveigentums in den Händen westdeutscher Banken, Konzerne, Versicherungen und Handelsketten könnte nachträglich den Gesetzgeber auf den Plan rufen. Das Recht dazu hätte er: Art. 74, Ziffer 16 erteilt dem Bund die Gesetzgebungsvollmacht zur „Verhütung des Mißbrauchs wirtschaftlicher Machtstellung“.

Die Ungleichwertigkeit der Lebensverhältnisse zwischen Ost und West zeigt sich auch darin, daß ganze Schichten der ostdeutschen Bevölkerung unter ein rechtssystemwidriges Sonderrecht gestellt sind und offensichtlich gestellt bleiben sollen. Wenigstens verwiesen sei auf die Umfunktionierung von Teilen des Rentenrechts in eine Art Strafrecht, in dessen (offensichtlich auf lebenslänglich beabsichtigtem) Ergebnis formell und materiell berechtigt erworbene Rentenansprüche unter Verletzung des Gleichheitsgebotes und des Eigentumsschutzes des Grundgesetzes „abgeschmolzen“ werden; im Ergebnis erhalten Hochschullehrer des Ostens unter 40 Prozent der Rentenbezüge ihrer Westkollegen. Ferner sei hingewiesen auf die „Abwicklungen“ speziell im Universitäts- und Volksbildungsbereich, die zu einer kaum rückgängig zu machenden Intelligenz-Massenarbeitslosigkeit geführt haben.

Die Verteilungskämpfe zwischen West und Ost sind auch solche zwischen Reich und Arm. Und sie zielen auf die Substanz der sozialstaatlichen Demokratie im Interesse derjenigen, die Deutschland als Ganzes zu einem Profitstandort pur zu machen längst begonnen haben. Wo Föderalismus geboten ist, ist eine Regionalisierung von Lebensverhältnissen in der Form einer Aufsplitterung in hier mehr und dort weniger gleichwertige nach dem methodischen Vorbild der lean-production-Konzeption noch lange nicht erlaubt.

Nach Meinungsumfragen sind mehr als 70 Prozent der ostdeutschen Bevölkerung der Auffassung, sie seien nicht gleichberechtigt. Das ist die subjektive Seite eines Vorgangs, dessen objektive Seite das Vorhandensein ungleichwertiger Lebensverhältnisse in Deutschland ist. Es ist eine alte und doch immer wieder neu sich anzueignende Erkenntnis, daß die Gleichheit des einzelnen vor dem Gesetz zur Farce wird, wenn die tatsächlichen Chancen der Bürgerinnen und Bürger, diese auch wahrzunehmen, allzu ungleich sind. Da der Hüter der Verfassung, jedenfalls in einer Demokratie, keine staatliche Institution, sondern das Volk ist, haben dessen Bürgerbewegungen ein weites Feld vor sich, um den Gesetzgeber zur Herstellung und Wahrung gleichwertiger Lebens-, Wirtschafts- und Rechtsverhältnisse zu veranlassen.

Literatur:

Daniela Dahn, Westwärts und nicht vergessen, Berlin 1996.

Wolfgang Dümke, Fritz Vilmar, Kolonisierung der DDR, Münster 1995.

Unfrieden in Deutschland. Weißbuch, Bd. 1-5, Berlin 1992 bis 1997.

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