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"Verdeckte Ermittler" unter­wan­dern Grundrechte

Rolf Gössner

Grundrechte-Report 1998, S. 205-211

Dunkle Gestalten …

Sie scheuen das Licht der Öffentlichkeit, täuschen, lügen und betrügen im Auftrag des Staates. Sie provozieren oder begehen Straftaten in dessen Dienst. Verdeckte Ermittler (VE) heißen die dunklen Gestalten mit Pensionsberechtigung. Im Unterschied zu V-Leuten, die aus dem kriminellen Milieu (z. B. Drogenszene) stammen und Informationen an die Polizei liefern, handelt es sich bei VE um Polizeibeamte, die mit neuer, auf Dauer angelegter Legende, mit Decknamen und falschen Papieren getarnt werden, um in den kriminellen Untergrund oder in politisch verdächtige Szenen eintauchen zu können.

… erobern das Polizei- und Strafprozeßrecht

Außer Schleswig-Holstein und Bremen haben inzwischen alle Bundesländer den Einsatz von VE in ihren Polizeigesetzen legalisiert – d. h. für den Gefahrenabwehrbereich im Vorfeld einer Gefahr oder zur Straftatenverhütung. Die vorläufig letzte Verrechtlichung erfolgte Ende 1997 im SPD-regierten Niedersachsen. Danach ist der Einsatz eines VE möglich, „wenn dies zur Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit einer Person erforderlich und die Aufklärung des Sachverhalts auf andere Weise nicht möglich erscheint“. Der VE-Einsatz und die damit verbundene heimliche Erhebung persönlicher Daten sind aber auch schon dann zulässig, wenn „Tatsachen die Annahme rechtfertigen“, daß die betroffenen Personen künftig „Straftaten von erheblicher Bedeutung“ begehen werden, und „wenn die Vorsorge für die Verfolgung oder Verhütung dieser Straftaten auf andere Weise nicht möglich erscheint“. Damit ist das vage Vorfeld von möglichen Straftaten für den VE-Einsatz zum Zwecke der Vorfeldaufklärung weit geöffnet – wobei auch „Kontakt- und Begleitpersonen“, also unbeteiligte und unverdächtige Dritte, nicht verschont werden ( § 36a NGefAG).

Mit dem VE-Einsatz sind zwangsläufig auch weitere – rechtlich höchst problematische – Konsequenzen verbunden: Urkundenfälschungen im Amt zur Legendenbildung; Verwirklichung von Täuschungs- bzw. Betrugstatbeständen bei der Teilnahme am Rechtsverkehr und zur Aufrechterhaltung der neuen Legende; das Recht, Wohnungen von Verdächtigen ohne richterlichen Durchsuchungsbefehl zu betreten; Lauschangriffe zur Absicherung des VE-Einsatzes in Wohnungen etc.

Rechtsethisch verwerfliche Methode?

Angesichts der Legalisierung des VE stellt sich die Frage, ob sich der Staat unlauterer, rechtsethisch verwerflicher Methoden zur Erreichung seiner Ziele bedienen darf oder ob er damit gegen die Grundrechte verstößt, die gemäß Art. 1 Abs. 3 alle staatlichen Tätigkeiten binden. Und ist der VE-Einsatz überhaupt kontrollierbar und abwehrfähig, oder unterläuft er mangels Kenntnis der Betroffenen Art. 19 Abs. 4 GG, der den Rechtsschutz gegenüber staatlichen Maßnahmen garantiert?

Geheimpolizeiliche Legendenbildung: Mit der Befugnis des VE, sich mit falschen Papieren am Rechtsverkehr zu beteiligen, wird ein ansonsten strafbares Unrecht als Mittel des „Rechtsgüterschutzes“ eingesetzt, wird eine Vielzahl von Menschen über das polizeiliche Eindringen in ihre Intimsphäre getäuscht. Der Polizeirechtler Ulrich Stephan weist darauf hin, daß eine vollständige Legende konsequenterweise auch das Vorleben des VE bis zurück in seine Kindheit einschließen müsse. Für eine „wasserdichte“ Legende müßten „Echtdaten Dritter“ verwendet werden: So müsse der VE gegenüber den infiltrierten Szenen auch angeben können, welche Schule er früher besucht hat und von welchen Lehrern er unterrichtet worden ist. Damit werden personenbezogene Daten der real existierenden Lehrer verwendet, obwohl eine Rechtsgrundlage hierfür nicht ersichtlich ist. Stephan: „Ich kann mir nicht vorstellen, daß es verfassungsrechtlich zulässig wäre, unbeteiligte Dritte ohne ihr Wissen in einen derart brisanten und für sie gefährlichen Bereich polizeilicher Ermittlungstätigkeit einzubeziehen. Dieser Aspekt führte in Baden-Württemberg zum politischen Streit, als bekannt geworden war, daß das Landeskriminalamt zum Zweck der Legendierung ohne Wissen der Eltern Daten eines tödlich verunglückten Kindes verwendet hat.“

Trend zum agent provocateur: Bisher ist es kaum jemals gelungen, mit klandestinen Polizeimitteln in den Kern von kriminellen Organisationen vorzustoßen – obwohl gerade dies ein Hauptziel des VE-Einsatzes ist. Im Gegenteil: Diese Methoden bleiben meist bei den kleinen Kriminellen hängen, die nur selten wirklich professionell arbeiten und die oft – insbesondere im Drogenbereich – erst durch klandestine Polizeimethoden zu „großen Fischen“ gekürt werden. Der Übergang zwischen VE bzw. V-Leuten und agents provocateurs ist fließend. Es liegt in der Natur dieser Einsatzmittel, daß die Eingeschleusten Straftaten „anschieben“ oder selbst begehen, um in der jeweiligen Szene glaubwürdig zu erscheinen.

Verflechtungsgefahr: Solche geheimpolizeilichen Ermittlungsmethoden – deren Kern der Einsatz von VE, V-Leuten und agents provocateurs bildet – neigen zu einer Angleichung von Kriminalpolizei und Kriminalität, nicht selten zu einer regelrechten Verflechtung.

Diese Verflechtungsgefahr hängt mit der Tatsache zusammen, daß längerfristig eingesetzte VE, die in eine kriminelle Organisation eingeschleust werden, sich dort kaum als stille Teilhaber oder Beobachter halten können. Und nicht aufzufallen und sich nicht selbst zu gefährden, sehen sie sich häufig gezwungen, „milieuangepaßt“ Straftaten zu begehen – auch wenn dies (noch) nicht legal ist. Ihm sei kein VE bekannt, versicherte etwa ein Richter am Amtsgericht Stuttgart, „der nicht Straftaten begehen oder decken mußte. Sei es zum Eigenschutz. Sei es, um seinen Ermittlungsauftrag nicht zu gefährden“ (Frankfurter Rundschau v. 11. 11. 1991). Mitunter erliegen VE ihrer angenommenen Rolle und wechseln die Seiten: avancieren zu Drogendealern, Zuhältern, Waffenhändlern. Die in der modernen Sicherheitspolitik angestrebte „Waffengleichheit“ mit der „Organisierten Kriminalität“ neigt offenbar zur „Waffenbrüderschaft“. Die Verflechtungen gehen häufig so weit, daß längerfristig als VE eingesetzte rückkehrwillige Beamte im Anschluß an ihr Untergrund-Leben regelrecht resozialisiert werden müssen.

Außer Kontrolle: Beim VE handelt es sich um einen polizeilichen Geheimagenten, beim VE-Einsatz um eine geheimdienstliche Tätigkeit. Dort aber, wo immer mehr polizeiliche Organisations- und Tätigkeitsbereiche in abgeschottete Geheimzonen verlagert werden, ist mangels Transparenz eine öffentliche und demokratische Kontrolle kaum noch möglich. Dies verstößt gegen das Demokratiegebot. Der VE-Einsatz darf nach der Strafprozeßordnung und einigen Polizeigesetzen prinzipiell schon nach Zustimmung der Staatsanwaltschaft durchgeführt werden; unter bestimmten Voraussetzungen ist die Zustimmung eines Richters vorgesehen. Doch an der Effektivität richterlicher Überprüfungen sind erhebliche Zweifel angebracht, denn der Richter ist ausschließlich auf die Darlegungen der Polizei angewiesen. Daß der Richtervorbehalt als rechtsstaatliche Sicherung bei verdeckten Maßnahmen versagt, zeigt der exzessive Umgang mit der Telefonüberwachung in Deutschland, die trotz richterlicher „Kontrolle“ jährlich fast siebentausendmal (1996) durchgeführt wird.

Trend zum Geheimprozeß: Die Geheimaktionen von VE und V-Leuten haben regelmäßig fatale Auswirkungen auf die späteren Strafverfahren gegen die von ihnen verdächtigten Personen: Solche Einsätze führen nämlich zwangsläufig zu verfassungsrechtlich höchst problematischen Geheimverfahren, in denen Zeugen gesperrt, Aussagegenehmigungen beschränkt, „Zeugen vom Hörensagen“ eingesetzt und geheime Ermittlungsakten dem Gericht sowie der Verteidigung vorenthalten werden. Solche aus dem verdeckten Einsatz resultierenden Praktiken, die dem Zweck der weiteren Verheimlichung der Identität von VE oder V-Leuten dienen, verstoßen gegen Prinzipien des rechtsstaatlichen, fairen Strafverfahrens, gegen die Grundsätze der Unmittelbarkeit, der Mündlichkeit und Waffengleichheit im Prozeß. Sie gehen zu Lasten der Angeklagten und ihres verfassungsrechtlich garantierten „rechtlichen Gehörs“.

Rechtsschutzlos: Spricht ein VE mit einem Verdächtigen, so wird letzterer naturgemäß vom VE nicht auf sein Aussageverweigerungsrecht hingewiesen. Damit wird ein Hauptverfahrensrecht des Beschuldigten, das Recht zu schweigen, mißachtet. Eine solche indirekt erzwungene Selbstbezichtigung verletzt die Menschenwürde. Darüber hinaus kann ein Gespräch zwischen VE und Verdächtigem gegen § 136 a StPO – Verbotene Vernehmungsmethoden – verstoßen, wonach die Freiheit der Willensentschließung und -betätigung des Beschuldigten nicht beeinträchtigt werden darf. Der Beschuldigte wird zumindest über die wahre Identität des VE getäuscht.

Der Schutz der Grundrechte ist auf den offen handelnden Staat ausgerichtet, denn sonst liefe der Grundrechtsschutz – mangels Offenheit – leer. Bei verdeckten Maßnahmen unter aktiver Täuschung durch staatliche Organe und Funktionsträger gibt es für die Betroffenen in der Regel keinen Rechtsschutz. Mangels Kenntnis von den geheimen Einsätzen unterlaufen solche Maßnahmen Art. 19 Abs. 4 GG, der den Rechtsschutz gegenüber polizeilichen Eingriffen garantiert. Damit verlieren die Grundrechte in diesen Fällen ihre Funktion als durchsetzbare Abwehrrechte der Bürger gegen staatliche Eingriffe.

„Geheimpolizei“ im Vormarsch

In den vergangenen Jahrzehnten wurden der Polizei über die Abwehr konkreter Gefahren und über die Verfolgung von Straftaten hinaus neue Aufgaben zugewiesen: „Gefahrenvorsorge“ und „Vorbeugende Verbrechensbekämpfung“. Damit kann sie im weiten Vorfeld mit Hilfe nachrichtendienstlicher Mittel aktive Informationsbeschaffung betreiben – mit dem Ziel der „Verdachtsgewinnung“ und „Verdachtsverdichtung“. Diese Aufgabenausweitung und die präventiven Geheimmethoden ließen die Polizei seit den siebziger Jahren verfassungsrechtlich problematische geheimpolizeiliche Qualitäten gewinnen. Mit der Einrichtung von abgeschotteten Abteilungen und mit dem systematischen Einsatz von VE, V-Leuten, agents provocateurs und verdeckten technischen Mitteln für Lausch- und Spähangriffe ist innerhalb des Polizeiapparates eine geheimpolizeiliche Entwicklung in Gang gesetzt worden, die inzwischen weitgehend rechtlich abgesichert ist.

Die politische Nonchalance, mit der die skizzierte Funktions- und Methodenvermengung betrieben und das Trennungsverbot über den Haufen geworfen wird, offenbart einen eklatanten Mangel an Sensibilität gegenüber der geschichtlichen Erfahrung und Verantwortung in Deutschland – das Trennungsgebot ist immerhin eine Konsequenz aus den bitteren Erfahrungen mit der Gestapo der NS-Zeit. Inzwischen sollten auch die Stasi-Erfahrungen zu einem sensibleren Umgang mit dieser Problematik führen.

Literatur:

Gössner/Neß, Polizei im Zwielicht, Frankfurt a.M./New York 1996.

Stokar/Gössner (Hg.), Schattenmänner – Kritik der Legalisierung des Verdeckten Vorfeld-Ermittlers, Reader Nr. 10 der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im Niedersächsischen Landtag, Hannover 1997.

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