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Das Bundes­ver­fas­sungs­ge­richt auf Abwegen? Zum Vergleichs­vor­schlag im Streit um das Unter­richts­fach LER in Brandenburg

20. März 2002

Rosemarie Will

Grundrechte-Report 2002, S. 111-116

Die derzeit wichtigste staatskirchenrechtliche Auseinandersetzung in der Bundesrepublik, der Streit um das brandenburgische Schulgesetz, wird geführt, seit am 12. April 1996 das Fach Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde (LER) eingeführt wurde, der Religionsunterricht jedoch nicht den Status eines ordentlichen Lehrfaches erhielt. Zwar gibt es in Brandenburg Religionsunterricht, er wird aber von den Kirchen selbst durchgeführt, die zu diesem Zweck Schulräume nutzen, Lehrkräfte in Anspruch nehmen sowie staatliche Zuschüsse beantragen können. Der Normenkontrollantrag von Abgeordneten der CDU/CSU-Bundestagsfraktion sieht durch das brandenburgische Schulgesetz die staatskirchenrechtliche Garantie des Art. 7 Abs. 3 Satz 1 GG verletzt, nach der Religionsunterricht in den öffentlichen Schulen mit Ausnahme der bekenntnisfreien Schulen ordentliches Lehrfach ist. Mehrere Verfassungsbeschwerden wenden sich darüber hinaus auch gegen das Fach LER selbst. Streitentscheidend dafür, ob Religionsunterricht in Brandenburg ein ordentliches Lehrfach sein muss, ist die Geltung von Art. 141 GG für das Land Brandenburg. Art. 141 GG lässt Art. 7 Abs. 3 S. 1 GG in einem Land dann keine Anwendung finden, wenn dort am 1. Januar 1949 eine von Art. 7 Abs. 3 S. 1 GG abweichende landesrechtliche Regelung bestand. Am 1. Januar 1949 galt in Brandenburg für den Religionsunterricht Art. 66 der Verfassung vom 6. Februar 1947 mit einer von Art. 7 Abs. 3 S. 1 GG abweichenden Regelung, nach der der Religionsunterricht kein ordentliches Lehrfach war. Ob dadurch Brandenburg von der Verpflichtung des Art. 7 Abs. 3 S. 1 GG befreit ist, was man mit guten Argumenten ebenso bestreiten wie behaupten kann, hätte vom Bundesverfassungsgericht entschieden werden müssen.

Das Verfassungsgericht will aber diesen Streit nicht entscheiden. Es hat stattdessen am 11. Dezember 2001 den Beteiligten des Verfahrens einen Vergleichsvorschlag unterbreitet. Er sieht vor, dass das Fach LER so bleibt, wie es ist. Der Religionsunterricht soll aufgewertet werden, ohne ordentliches Lehrfach zu werden. Das wichtigste Charakteristikum eines ordentlichen Lehrfachs, die Versetzungsrelevanz der Noten für die Schülerinnen und Schüler, wird in das Ermessen des Landesgesetzgebers gestellt. So heißt es im Vergleichsvorschlag, dass die Leistungen im Religionsunterricht benotet werden können, sofern die Kirchen dies wollen. Damit wird Religionsunterricht nicht ordentliches Lehrfach, sondern die streitenden Parteien hätten sich nur auf einen – vor allem in der praktischen Handhabung des Religionsunterrichts – sehr ähnlichen Status geeinigt, wie ihn ein ordentliches Lehrfach hat.

Gleichwohl würde mit dem Vergleich die Position des Religionsunterrichtes gestärkt werden. Er müsste in der Regel ab 12 Teilnehmern durchgeführt und in den normalen Stundenplan integriert werden. Lehrer, die Religionsunterricht erteilen, würde dies auf das wöchentliche Lehrdeputat angerechnet, und es würde ihnen religionspädagogische Fortbildung ermöglicht. Ebenso könnten Beauftragte der Kirchen, ohne staatliche Lehrer zu sein, an den Lehrerkonferenzen teilnehmen.

Die bisherige Regelung im Schulgesetz, nach der Schüler, die am Religionsunterricht teilnehmen, sich von LER abmelden können, wird ausgebaut: Dies soll nun durch eine einfache Erklärung gegenüber der Schule möglich sein. Rechtlich bliebe alles beim Alten, das Land könnte seine bisherige Rechtsposition weiter vertreten, dass es durch Art. 7 Abs. 3 S. 1 GG verfassungsrechtlich nicht gebunden sei, weil Art. 141 GG gilt. Ein anderer Gesetzgeber könnte die Gestaltung des Religionsunterrichts gemäß Art. 141 GG neu regeln.

Mit diesem Vergleich wird keine Rechtssicherheit hergestellt. Er schützt das Land nicht davor, dass andere Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften die Einführung eines Unterrichts nach ihrem Bilde als ordentliches Lehrfach verlangen. Bürgerrechtlich relevanter ist jedoch die Frage, ob das Verfassungsgericht hier überhaupt hätte vergleichen dürfen. Man muss davon ausgehen, dass das Gericht im Rahmen seiner relativen Verfahrensautonomie die Möglichkeit hat, Verfahren durch Vergleich zu beenden, soweit die Beteiligten des Verfahrens eine Dispositionsbefugnis über den Verfahrensgegenstand haben (analog § 106 VwGO). Das ist aufseiten der Antragsteller sicherlich der Fall, aber nicht aufseiten des angegriffenen Schulgesetzgebers. Der Gesetzgeber ist bei seinen Regelungen an die Verfassung gebunden und kann insoweit nicht disponieren. Wird der Vergleich wirksam, würde das das abstrakte Normenkontrollverfahren in seinem Charakter als objektives Verfahren verändern. Das Verfassungsgericht hätte von nun an die Möglichkeit, im abstrakten Normenkontrollverfahren die verfassungsrechtlich aufgeworfene Frage nicht zu entscheiden, wenn ein Vergleich zwischen den Beteiligten erzielt wird. Es gäbe dann im abstrakten Normenkontrollverfahren kein allgemeines öffentliches Interesse mehr an der Klärung der verfassungsrechtlich zu entscheidenden Fragen.

Andererseits ist es im bürgerrechtlichen Sinne auch möglich, diesen Vergleichsvorschlag zu begrüßen, zumal die damit einhergehenden prozessualen Änderungen auch so verstanden werden können, dass sie der Gewaltenteilung näher kommen als die bisherige Handhabung des abstrakten Normenkontrollverfahrens. Bislang hat das Gericht zur Entscheidung im abstrakten Normenkontrollverfahren dem Grundgesetz einen Maßstab entnommen, unabhängig davon, ob er tatsächlich im Grundgesetz enthalten war. Das hat dazu geführt, dass in der Bundesrepublik nunmehr die Einstellung vorherrscht, man könne jede beliebige Streitfrage im Gesetzgebungsprozess verfassungsrechtlich entscheiden. Die Folge davon ist die Einengung des politischen Gestaltungsspielraums und die Aufwertung des Verfassungsgerichts zuungunsten des Gesetzgebers. Das ist vor allem ein Demokratieproblem.

Im Streit um den Religionsunterricht in Brandenburg geht es um die Auflösung eines im Grundgesetz für den Religionsunterricht gefundenen Kompromisses. Will man diesen Kompromiss zu einem verfassungsrechtlich handhabbaren Maßstab machen, muss man sich unweigerlich auf die eine oder andere Seite stellen. Mit dem Vergleichsvorschlag vermeidet das Verfassungsgericht dies. Juristisch ist das redlicher als die Entnahme eines eindeutigen Maßstabs aus der Verfassung in dieser Frage. Vom bürgerrechtlichen Standpunkt aus gesehen wird dadurch die Gestaltungsmacht des Gesetzgebers gestärkt. Dies kann man wollen (man denke nur an die zwei Versuche zur Fristenlösung zum Schwangerschaftsabbruch), man kann aber auch dagegen sein (man denke an das Urteil zum Volkszählungsgesetz). Es spricht viel dafür, dass, wird der Vergleichsvorschlag wirksam, diese Neuerung im abstrakten Normenkontrollverfahren unter bürgerrechtlichen Gesichtspunkten intensiv diskutiert werden muss.

Bis zum 31. Januar 2002 müssen die streitenden Parteien erklären, ob sie den Vergleichsvorschlag annehmen wollen. Dies haben bislang nur die Vertreter des Landes Brandenburg getan. Geht man davon aus, dass das Gericht im Falle eines Urteils seinem eigenen Vergleichsvorschlag folgt, würden die Antragsteller in der Sache verlieren. Dies hätte weitreichende Folgen auch über die bloße Entscheidung hinaus, ob Art. 141 GG für das Land Brandenburg gilt. Es müsste unter anderem darüber entschieden werden, ob Art. 7 Abs. 3 S. 1 GG ein subjektives Grundrecht enthält, oder ob diese Bestimmung eine rein organisationsrechtliche Regelung ist. Enthält Art. 7 Abs. 3 S. 1 GG kein subjektives Grundrecht, sind die Verfassungsbeschwerden bereits unzulässig. Aber auch für das Normenkontrollverfahren ist dies bereits eine entscheidende Weichenstellung. Wird Art. 7 Abs. 3 S. 1 GG als subjektives Grundrecht angesehen, entfaltet es wie alle Grundrechte eine starke unitaristische Tendenz. Die Folge wäre eine restriktive Interpretation von Art. 141 GG. Enthält Art. 7 Abs. 3 S. 1 GG jedoch lediglich eine staatsorganisatorische Regelung, hat das nicht nur für die Interpretation und Anwendung von Art. 141 GG Folgen, sondern für die Beurteilung des Schulgesetzgebers bei der Regelung des Religionsunterrichtes überhaupt. Wird der Vergleich von den Antragstellern und Beschwerdeführern nicht angenommen, gehen sie ein hohes Risiko ein. Sie könnten am Ende mit weit weniger als dem dastehen, was sie bislang haben.

Literatur zur Geltung und Reichweite von Art. 141 GG:

von Campenhausen, in: von Mangoldt/ Klein / von Campenhausen, Bonner GG, Kommentar, Bd. 14, 3. Aufl. 1991, Art. 141, Rdnr. 5 f.

Kremser, Das Verhältnis von Art. 7 Abs. 3 Satz 1 GG und Art. 141 GG im Gebiet der neuen Bundesländer, Juristenzeitung 1995, S. 928ff.

Oebbecke, Reichweite und Voraussetzungen der grundgesetzlichen Garantie des Religionsunterrichtes, Deutsche Verwaltungsblätter 1996, S. 336ff.

Kategorie: GG: Artikel 7, Religion: Schule

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