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All about EFA? - Das Verwirr­spiel um den Arbeits­lo­sen­geld II-Anspruch von Unions­bür­ge­rinnen und Unions­bür­gern

Grundrechte-Report 2013, Seite 196

Seit Inkrafttreten der „Hartz IV“-Reform ist umstritten, ob arbeitsuchende Unionsbürgerinnen und Unionsbürger vom Anspruch auf Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende ausgeschlossen werden dürfen. Gegen einen solchen Ausschluss werden Gleichbehandlungsansprüche der Europäischen Union (EU) angeführt. Einen anderen Weg zur Gleichbehandlung wählte das Bundessozialgericht (BSG): Es gewährte mit Urteil vom 19. Oktober 2010 einem französischen Staatsangehörigen über das Europäische Fürsorgeabkommen (EFA) des Europarats aus dem Jahr 1953 die begehrten Hartz-IV-Leistungen. Mit dieser völkerrechtlichen Lösung wurde die unionsrechtliche Streitfrage umschifft. Daraufhin legte allerdings die Bundesregierung einen Vorbehalt hinsichtlich der Anwendung des EFA auf Grundsicherungsleistungen ein, der seit 19. Dezember 2011 beim Europarat notifiziert ist und so einen Leistungsausschluss bewirken soll.

Vorbehalt als Ablen­kungs­ma­növer

An der Wirksamkeit der Vorbehaltserklärung bestehen erhebliche Zweifel: Nach Ansicht des Landesozialgerichts Berlin-Brandenburg wäre ein Vorbehalt nur zulässig, wenn er sich auf eine „neue Rechtsvorschrift“ bezieht (Artikel 16 lit. b EFA) – worunter jedoch nicht das oben erwähnte BSG-Urteil zu verstehen sei (Beschluss vom 9. 5. 2012, Az. L 19 AS 794/12 B ER). Dennoch gehen viele Jobcenter – nicht zuletzt aufgrund einer Geschäftsanweisung der Bundesagentur für Arbeit – von der Wirksamkeit der Vorbehaltserklärung aus. Im Laufe des Jahres 2012 häuften sich die Eilanträge an den Sozialgerichten wegen der Einstellung von Leistungen aufgrund der Vorbehaltserklärung.

Die Bundesregierung falle mit Blick auf arbeitswillige Migranten aus der EU „sozialpolitisch auf den Stand vor 1953 zurück“, kritisierte Elke Ferner, stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion. Das Verwirrspiel um die Wirkung des Europäischen Fürsorgeabkommens hat in der politischen Diskussion und Verwaltungspraxis dazu geführt, dass die von der EU garantierten Gleichbehandlungsansprüche aus dem Blick geraten sind: Auch in der besagten Geschäftsanweisung werden sie nicht erwähnt.

Ansprüche aus dem EU-So­zi­al­recht

Zum 1. Mai 2010 ist die „Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit“ in Kraft getreten. Diese koordiniert nicht nur die mitgliedstaatlichen Sozialversicherungssysteme untereinander, sondern enthält auch Regelungen für „besondere beitragsunabhängige Geldleistungen“ wie das Arbeitslosengeld II. Für diese Leistungen gilt ein strikter Gleichbehandlungsanspruch im Wohnstaat, jedenfalls dann, wenn die Personen als Sozialversicherte oder Familienleistungsempfänger in das Sozialrecht eines Mitgliedstaats eingebunden sind (z.B. Hessisches Landessozialgericht, Beschluss vom 14.7.2011, Az. L 7 AS 107/11 B ER).

Jenseits dieser Verordnung erkennt der Europäische Gerichtshof (EuGH) seit längerem aufgrund der Unionsbürgerschaft (Artikel 20 ff. des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union, AEUV) einen Schutz vor Diskriminierung beim Zugang zu existenzsichernden Leistungen an. Grundlage ist dabei das allgemeine Diskriminierungsverbot des Artikels 18 AEUV, woraus der EuGH einen Anspruch auf Inländergleichbehandlung bei Sozialleistungen im Wohnstaat ableitet. Die Mitgliedstaaten seien einerseits aufgerufen, insbesondere bei der Organisation und Anwendung ihres Sozialhilfesystems eine gewisse „finanzielle Solidarität“ mit den Angehörigen anderer Mitgliedstaaten zu zeigen. Auf der anderen Seite will der EuGH „übermäßige Belastungen“ für die Mitgliedstaaten vermeiden. Deswegen hat er es als gerechtfertigt angesehen, den Sozialleistungsanspruch von einem „gewissen Grad“ an Integration im leistungsverpflichteten Mitgliedstaat abhängig zu machen. In vergleichbarer Art und Weise hat der Gerichtshof den Diskriminierungsschutz für die der Arbeitnehmerfreizügigkeit unterfallenden Personen auf arbeitsmarktbezogene Sozialleistungen zur Existenzsicherung erstreckt (Rechtssache „Collins“). Es sei allerdings ein legitimes Anliegen des nationalen Gesetzgebers, sich einer „tatsächlichen Verbindung“ zwischen demjenigen, der Leistungen beantragt, und dem betroffenen räumlichen Arbeitsmarkt vergewissern zu wollen.

Der Leistungsausschluss in Deutschland (§ 7 Zweites Buch Sozialgesetzbuch, SGB II) genügt diesen Vorgaben nicht, da er gar nicht auf die Prüfung eines „gewissen Grades“ an Integration oder einer „tatsächlichen Verbindung“ zum Arbeitsmarkt abstellt, wie auch der Generalanwalt des EuGH in den Schlussanträgen zu den Rechtssachen „Vatsouras“ und „Koupatantze“ hervorhob.

Reichweite einer europä­i­schen Sozial­bür­ger­schaft

Der Unionsbürgerstatus ist nach der Rechtsprechung des EuGH seit der Rechtssache „Grzelczyk“ dazu bestimmt, „der grundlegende Status der Angehörigen der Mitgliedstaaten zu sein“. Abgesehen von ausdrücklich vorgesehenen Ausnahmen wird der Anspruch auf Gleichbehandlung mit den eigenen Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten umfassend gewährt. Es entspricht einer traditionsreichen europäischen Ideengeschichte, soziale Rechte aus der Notwendigkeit des Schutzes der Voraussetzungen bürgerlicher Freiheit und Gleichheit sowie aus dem Status des Citoyens in der Demokratie zu begründen: Mit dem Demokratieprinzip wäre es unvereinbar, dass diejenigen, die als Wähler die Staatsgewalt mitgestalten, ihr gleichzeitig hinsichtlich ihrer Existenz ohne eigenes Recht gegenüberständen. Es ist beim erreichten Integrationsstand nur konsequent, dieses Junktim im Habermas’schen Sinne „postnational“ auch zur Begründung einer europäisch erweiterten Solidarität fortzuschreiben. Dies gilt jedenfalls dann, wenn die Solidarität des „Heimatstaates“ in Gestalt eines Leistungsexports vernünftigerweise nicht mehr eingefordert werden kann.

Der Gedanke einer europäischen Sozialbürgerschaft prägte auch die Novellierung des koordinierenden Sozialrechts: Der persönliche Anwendungsbereich der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 knüpft nicht mehr an Erwerbsarbeit, Studierendenstatus oder ähnliches an, sondern an die Geltung der Rechtsvorschriften eines Systems der sozialen Sicherung in einem Mitgliedstaat. Einbezogen sind in diesem Rahmen auch die „wirtschaftlich Inaktiven“. Die Verbindung zu einem Sozialversicherungs- oder Familienleistungssystem war der Europäischen Union Grund genug, Gleichbehandlung bei bestimmten steuerfinanzierten Leistungen im Wohnstaat zu garantieren.

Die damit geweckten Assoziationen zum Gleichheitsversprechen einer umfassenden Staatsbürgerschaft können allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass die „europäische Sozialbürgerschaft“ eine offene Flanke hat: Es fehlt die Verknüpfung von Rechtsgewährung und Finanzierungsverantwortung im Mehrebenensystem. Daher muss nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes die unionsrechtlich vermittelte „finanzielle Solidarität“ bei der Sicherung der Existenz mangels eines Finanzausgleiches auch nicht „übermäßig“ gewährt werden. Das sozialrechtliche Teilhaberecht wird mit seiner dienenden Funktion für die Wahrnehmung der Freizügigkeit begründet. Der EuGH hat in der Rechtssache „Trojani“ eine solche zeitliche Grenze eingezogen: Sind die ursprünglich einmal gegebenen Voraussetzungen für das Aufenthaltsrecht entfallen, so besteht der Sozialleistungsanspruch fort bis zum formell wirksamen Entzug des Aufenthaltsrechts, wobei die „Ausweisung“ oder ähnliches nicht automatische Folge der Bedürftigkeit sein darf, nämlich solange die Leistungen des Aufnahmemitgliedstaats nicht unangemessen in Anspruch genommen werden. Die „Stellschrauben“ für das gebotene Maß an Solidarität sind damit bei der Ausgestaltung des Aufenthaltsrechts zu justieren, nicht aber im Sozialrecht.

Literatur

Bundesagentur für Arbeit, „Geschäftsanweisung SGB II Nr. 8“ vom 23.2.2012; „Fachliche Hinweise“ zu § 7 SGB II vom 21.5.2012

Frings, Dorothee, Grundsicherungsleistungen für Unionsbürger unter dem Einfluss der VO (EG) Nr. 883/2004, in: Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik (ZAR) 2012, S. 317 ff.

Schreiber, Frank, Steht arbeitsuchenden EU-Ausländern Arbeitslosengeld II zu?, in: Soziale Sicherheit 2012, S. 392 ff.

Steffen, Eva/Keßler, Stefan, Pacta sunt servanda – Ist der deutsche Vorbehalt zum Europäischen Fürsorgeabkommen wirksam?, in: ZAR 2012, S. 245 ff.

Zitierte EuGH-Rechtsprechung: Rs. C-184/99, Slg. 2001, I-6193 – Grzelczyk; Rs. C-456/02, Slg. 2004, I-7573 – Trojani; Rs. C-138/02, Slg. 2004, I-2703 – Collins; Rs. C-22/08 und 23/08, info also 2009, 216 – Vatsouras/Koupatantze.

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