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Die europäische Rückfüh­rungs­richt­linie - „Schande für Europa“ oder Meilenstein auf dem Weg zu einer gemeinsamen Migra­ti­ons­po­li­tik?

Grundrechte-Report 2009, Seite 204

Werden Migranten ohne Aufenthaltsrecht aus der Europäischen Union (EU) in ihre Herkunfts- oder Drittstaaten abgeschoben, so geschieht dies in der Regel unter staatlichem Zwang. In der Vergangenheit kam es dabei immer wieder zu Menschenrechtsverletzungen bis hin zu Todesfällen während der Abschiebung (z. B. in Großbritannien, Belgien, Österreich, Deutschland, Frankreich). Trotz dieser Vorfälle gab es bislang keine EU-weit geltenden Standards zur Achtung der Menschenrechte während der Rückführung. Dabei gehen die Mitgliedstaaten der EU immer häufiger dazu über, im Rahmen so genannter „Euro-Charter“ gemeinsame Sammelabschiebungen durchzuführen – ein weiterer Grund, endlich gemeinsame verbindliche Regeln zu schaffen.. Nun wurde mit der EU-Rückführungsrichtlinie erstmals europarechtlich normiert, wie Migranten zu behandeln sind, die abgeschoben werden sollen.

Chronik einer umstrit­tenen Richtlinie

Die EU-Kommission legte am 1. September 2005 einen Entwurf für die Rückführungsrichtlinie vor. Er beruhte auf den Vorgaben des Haager Programms und hatte zum Ziel, klare, transparente und faire gemeinsame Normen in Fragen der Rückführung und Abschiebung, zum Einsatz von Zwangsmaßnahmen, zur vorläufigen Ingewahrsamnahme und zur Wiedereinreise zu schaffen. Die unterschiedlichen Regeln in Europa sollten angeglichen werden, um die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten zu erleichtern.

Die Richtlinie war von Anfang an sehr umstritten. Sie wurde von einigen Nichtregierungsorganisationen, Abgeordneten des Europäischen Parlaments (EP) sowie latein-amerikanischen Staatspräsidenten (z.B. Hugo Chàvez oder Evo Morales) als „Richtlinie der Schande“ an den Pranger gestellt.

Kritisiert wurde unter anderem, dass eine gemeinsame Abschiebungspolitik offensichtlich als vorrangig gegenüber einer weitergehenden Harmonisierung des Asylrechts angesehen wurde. Andere dagegen begrüßten die Richtlinie als Schritt auf dem Weg zu einer gemeinsamen Migrationspolitik und verteidigten sie als Instrument zur Regelung EU-weiter Mindeststandards und Verfahren in dem sensiblen Bereich der Rückführungspolitik.

Sie begrüßten in dem Richtlinienentwurf die Vorschriften, in denen die Achtung vor Menschenrechten und Grundfreiheiten der Betroffenen zum Ausdruck kam, wie z.B. in Artikel 15 Absatz 1 (menschenwürdige Behandlung in vorläufigem Gewahrsam).

Auch den Befürwortern der Richtlinie war jedoch von Anfang an klar, dass der Richtlinienentwurf eine Reihe von Bestimmungen enthielt, die einer Korrektur bedurften, da sie völkerrechtlich kodifizierten Menschenrechtsstandards widersprachen und teilweise bereits bestehende Standards unterliefen. Diese Bedenken wurden in mehreren ausführlichen Gesprächen zwischen Vertretern der Nichtregierungsorganisationen, der Kirchen und dem Berichterstatter im zuständigen Ausschuss des Parlaments, Manfred Weber (CSU), dargelegt, der diese zum Teil aufgriff. So schlug der EP-Ausschuss vor, die Stelle eines Europäischen Ombudsmanns zur Beobachtung der Abschiebepraxis im EP einzurichten. Allerdings gab es auch Verschärfungsvorschläge aus dem EP. Ein Beispiel hierfür betrifft die Dauer der Abschiebehaft. Sie sollte laut Bericht auf bis zu 12 Monate erhöht werden können. Im ursprünglichen Vorschlag war noch von sechs Monaten die Rede gewesen. In einigen Mitgliedstaaten, wie z. B. Frankreich oder Zypern, ist eine maximale Haftdauer von 32 Tagen vorgesehen. Hier bestand also die Gefahr einer Absenkung der nationalen Standards durch die Harmonisierung. Andere Staaten hatten bislang gar keine Regelungen über die Höchstdauer der Haft. Während sich die längere Haftdauer im Ergebnis durchsetzte, wurde die Idee eines Ombudsmanns nicht aufgegriffen.

Insgesamt zogen sich die Verhandlungen um die Rückführungsrichtlinie fast zweidreiviertel Jahre hin. Sie erwiesen sich als schwierig, langwierig und intransparent. Der „Durchbruch“ gelang dann schließlich unter der slowenischen Ratspräsidentschaft. Auch weil der Haushaltsausschuss des EP im Oktober 2007 angedroht hatte, seine Zustimmung zum Europäischen Rückkehrfonds zu verweigern, wenn die im Rat vertretenen Justiz- und Innenminister nicht mehr Kompromissbereitschaft erkennen lassen würden, kam Bewegung in die Verhandlung. Schließlich konnte man sich auf einen Kompromisstext einigen.

Am 18. Juni 2008 stimmte das EP mit den Stimmen von Europäische Volkspartei (EVP), Allianz der Liberalen und Demokraten für Eurpa (ALDE) und einigen Abgeordneten der Sozialdemokratische Partei Europas (SPE) mit klarer Mehrheit (367:206 bei 109 Enthaltungen) der Rückführungsrichtlinie zu. Die noch fehlende formale Zustimmung des Rates erfolgte am 9. Dezember 2008. Nach Inkrafttreten der Richtlinie haben die Mitgliedstaaten zwei Jahre Zeit, sie in nationales Recht umzusetzen.

Inhalt der Richtlinie: enttäu­schend

Die letztendlich verabschiedete Richtlinie ist angesichts der intensiven Debatten und Auseinandersetzungen im Großen und Ganzen enttäuschend. Die erarbeiteten Kompromisse sind generell dadurch gekennzeichnet, dass sie die Menschenrechtsstandards und Rechtsschutzmöglichkeiten beschränken und den Ermessensspielraum der zuständigen nationalen Abschiebebehörden ausbauen. Von einem „Meilenstein“, wie z. B. von Berichterstatter Weber postuliert, kann also sicherlich nicht die Rede sein. Zwar enthält die Richtlinie zahlreiche Verweise auf Grundrechte und das humanitäre Völkerrecht. Deren Umsetzung liegt aber meist im Ermessen der Mitgliedstaaten („kann“-Bestimmungen) oder wird in anderer Weise eingeschränkt.

Verweise auf das Wohl des Kindes und der Grundsatz der Nichtzurückweisung (Artikel 5), die Definition von „schutzbedürftigen Personen“ (Artikel 3 i) sowie der Grundsatz der freiwilligen Rückkehr (Artikel 7 Absatz 1) sind grundsätzlich zu begrüßen. Zudem soll Nichtregierungsorganisationen der Besuch von Abschiebegefängnissen erlaubt werden, allerdings unter Umständen erst nach Genehmigung der zuständigen Behörden (Artikel 16 Absatz 4). Zu betonen ist auch die Verpflichtung der Mitgliedstaaten, wirksame Systeme für die Überwachung von Rückführungen zu schaffen (Artikel 8 Absatz 6).

Problematisch bleibt die Dauer der Abschiebehaft. Zwar soll sie grundsätzlich „so kurz wie möglich“ sein (Artikel 14 Absatz 1), mit im Regelfall bis zu sechs Monaten (Artikel 14 Absatz 4) ist sie aber definitiv zu lang, da sie immer nur „ultima ratio“ sein kann. Zudem ist in gewissen Fällen eine Verlängerung auf bis zu 18 Monaten möglich (Artikel 14 Absatz 4a). Anstatt von der völkerrechtswidrigen Inhaftierung Minderjähriger endlich abzusehen, wird bei unbegleiteten Minderjährigen und Familien mit Minderjährigen diese Praxis weiterhin zugelassen, wenn auch mit gewissen Einschränkungen (Artikel 17 Absatz 1). Schließlich können bestimmte Gruppen illegal Aufhältiger vom Anwendungsbereich der Richtlinie ausgenommen werden, so dass sie weiterhin den divergierenden Standards in den Mitgliedstaaten ausgesetzt sind (Artikel 2 Absatz 2) .

Selbstkritisch fragt man sich unter den Brüsseler „Menschenrechtslobbyisten“, ob vielleicht auch die frühe Fokussierung auf die unverhältnismäßige Dauer der Abschiebehaft während der politischen Verhandlungen substantielle Verbesserungen an dem Text behindert hat, da dieses eine kontroverse Thema alle anderen Aspekte überlagert hat. Die Chance, klare, faire und transparente Standards bei der Abschiebung im Einklang mit Grundfreiheiten und Menschenrechten zu schaffen, wurde jedenfalls verpasst.

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