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Ein menschen­wür­diges Existenz­mi­nimum - auch für Unions­bür­ge­rinnen und Unions­bürger

Grundrechte-Report 2014, Seite 182

Innenminister Friedrich kündigte im April 2013 gemeinsam mit Amtskollegen aus Österreich, Niederlande und Großbritannien an, gegen den „Missbrauch des Freizügigkeitsrechts“ und die Auswirkungen der innereuropäischen „Armutsmigration“ vorgehen zu wollen. Geplant wurden Sanktionen gegen „Sozialleistungsbetrug“, Durchsetzung der Ausreisepflicht und Wiedereinreisesperren. Diese Vorhaben sind auch im Koalitionsvertrag genannt. Sie sind als Angriff auf ein Kernelement der Europäischen Union zu werten, die Personenfreizügigkeit. Die Verstimmungen auf Seiten der EU-Kommission sind groß. Dabei hat der Sachverständigenrat Migration im Jahresgutachten 2013 festgestellt, dass Deutschland von der Freizügigkeit und der qualifizierten Zuwanderung profitiert. Neben Fachkräften wandern aber auch Menschen zu, die mittellos oder gering qualifiziert sind.

Deutschland versucht hier mit überkommenen ausländerrechtlichen Mitteln eine Steuerungsmöglichkeit zwischen gewünschter qualifizierter und unerwünschter „Armutsmigration“ zu schaffen. Dies ist innerhalb der EU nicht mehr zulässig. Mehr noch: Wer Anspruch auf Leistungen hier in Deutschland hat, begeht keinen Sozialleistungsbetrug.

Für EU-Bürger, die zur Arbeitsuche nach Deutschland kommen, ist das Gegenteil der Fall: Es ist frappierend, dass Ihnen keine Sozialleistungen zustehen sollen, wenn sie hilfebedürftig sind. Denn arbeitsuchende Unionsbürger und ihre Familienangehörigen besitzen zwar ein unbefristetes Aufenthaltsrecht, sind aber als „Ausländerinnen und Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt“ per Gesetz von allen Hartz IV-Leistungen und der klassische Sozialhilfe ausgeschlossen. Allein Kindergeld steht allen EU-Bürgern zu.

Nicht alle finden über ein gesichertes Einkommen den Ausweg aus der Abwärtsspirale, sondern sind dauerhaft auf „niedrigschwellige“ Hilfe angewiesen: Notunterkünfte, Rettungsstellen, Tafelarbeit, Bahnhofsmissionen und Migrationsdienste. Inzwischen entwickelt sich ein eigener Nothilfezweig für EU-Bürger, von der Sprechstunde für nicht krankenversicherte Kinder bis hin zur Aufstockung der Kältehilfe.
 
Europarecht und das Existenzminimum

Dieses Phänomen besteht auch in anderen EU Ländern wie Schweden, Frankreich, Österreich, Niederlande und Großbritannien. Das EU-Recht kennt bisher kein einheitliches Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum, die EU hat hier nur koordinierende, keine harmonisierende Funktion. Diskriminierungen aufgrund der Staatsangehörigkeit sind aber weitgehend verboten. Und bestimmte Leistungen der sozialen Sicherheit, darunter die Hartz IV-Leistungen, sollen allen Unionsbürgern gleichermaßen zustehen. Diese Gleichbehandlung ist niedergelegt in der Verordnung EG 883/2004, die seit 1.Mai 2010 in Kraft ist. Das Recht der Europäischen Union ist gegenüber nationalen Gesetzen vorrangig zu beachten, damit das Europäische Recht überall gleich angewendet wird. Dennoch sieht das deutsche Gesetz Leistungsausschlüsse für arbeitsuchende Unionsbürger vor. Möglich wird dies durch die Unionsbürgerrichtlinie der EU, die den Mitgliedstaaten ermöglicht, Arbeitsuchende von der Sozialhilfe auszuschließen. Wie dieser Widerspruch zu wessen Gunsten aufgelöst werden soll, ist zurzeit sehr umstritten.

Daher tut sich viel in der Rechtsprechung: Inzwischen gewähren die meisten deutschen Sozialgerichte zumindest im Eilrechtsschutz Hartz IV-Leistungen und erklären die Leistungsausschlüsse vorerst für nicht anwendbar. Leider ist es bisher zu keiner Grundsatzentscheidung des Bundessozialgerichtes (BSG) oder des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) in dieser wichtigen, aber politisch brisanten Frage gekommen. Das BSG hat am 12. Dezember 2013 die Rechtsfrage dem EuGH endlich zur Klärung vorgelegt. Die Entscheidung des EuGH wird dauern, die Vorlage hat aber schon jetzt Auswirkungen: Im Zweifel müssen die Sozialgerichte nun Leistungen zusprechen. Solange sich der Gesetzgeber nicht bewegt, sind die Betroffenen aber nach wie vor auf Widerspruch und Klage angewiesen.

Grundrecht auf ein sozio-­kul­tu­relles Existenz­mi­nimum

Was in der aktuellen Debatte und in Gerichtsverfahren bisher noch wenig Beachtung gefunden hat, ist das grundlegende Bundesverfassungsgerichtsurteil zum Ausländersozialrecht aus dem Jahr 2012. Dieses hatte klargestellt, dass „Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG verlangt, dass das Existenzminimum in jedem Fall und zu jeder Zeit sichergestellt sein muss. Das Grundrecht steht deutschen und ausländischen Staatsangehörigen, die sich in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten, gleichermaßen zu. Die einheitlich zu verstehende menschenwürdige Existenz muss daher ab Beginn des Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland realisiert werden.“

Jahrzehntelang wurden in verfassungswidriger Weise erheblich zu niedrige Regelsätze für Asylsuchende und Geduldete gezahlt. Schneller als gedacht hat das Urteil einen weiteren, möglicherweise größeren Anwendungsbereich bekommen. Was in Deutschland für ausreisepflichte Geduldete gilt, muss genauso für sich rechtmäßig aufhaltende EU-Bürger gelten. Hier ist inzwischen folgerichtig Verfassungsbeschwerde erhoben worden.

Existenz­mi­nimum und Menschen­würde

Es wird angesichts der prekären Lebenslagen sichtbar, warum das Grundrecht auf ein sozio-kulturelles Existenzminimum ein Teil der unantastbaren Menschenwürde ist. Denn fehlende Existenzsicherung ist Nährboden für entwürdigende Ausbeutung. Es gibt Branchen in Deutschland, die die prekäre Situation der zuwandernden EU-Bürger ausnutzen und ein frühkapitalistisches Verhalten an den Tag legen, oft unter Zuhilfenahme von bestehenden Ausbeutungsstrukturen im Herkunftsland. Ob auf dem sogenannten „Arbeiterstrich“ für Tagelöhner, ob in Industrie, Gaststättengewerbe, Fleischverarbeitung, Landwirtschaft, allerorten werden EU-Bürger unter teils skandalösen Bedingungen zu Niedrigstlöhnen beschäftigt (vgl. Fechner in diesem Band). Beispielhaft sei die Großbaustelle des neuen Berliner Flughafens genannt, wo viele eklatante Fälle auftreten. Rumänische Bauhelfer wurden über Nacht in ihrer Unterkunft eingeschlossen und erhielten 10,00 Euro pro Woche für Lebensmittel. Als sie Hilfe suchten, wurde ihnen unter Androhung physischer Gewalt verboten, Kontakt nach außen aufzunehmen. Mittlerweile kommen in Deutschland die meisten Opfer von Menschenhandel zum Zweck der Arbeitsausbeutung und zur sexuellen Ausbeutung aus der EU. Einmal in Abhängigkeitsverhältnisse geraten, ist es schwer, aus eigener Kraft zu einem menschenwürdigen Leben zurück zu finden und seine Rechte einzufordern.

Hartz-IV-Leistungen sind dagegen gewiss kein Allheilmittel – auch die derzeitige Ausgestaltung steht trotz hoher Standards immer wieder in der verfassungsrechtlichen Kritik. Würde mittellosen Unionsbürgern europarechts- und verfassungskonform Leistungen gewährt, wären viele der aktuellen Probleme gelöst. Die Betroffenen wären automatisch gesetzlich krankenversichert, durch Übernahme der Kosten der Unterkunft könnten adäquate Wohnbedingungen erreicht werden, Kinder erhielten eine Basis für einen erfolgreichen Schulbesuch, Erwachsene eine Chance auf sicheres Einkommen – der erste Schutz vor Ausbeutung, Diskriminierung und sozialer Ausgrenzung.

Literatur

Schmidt-De Caluwe, Reimund, Auch Europarecht verlangt eine Existenzminimum http://www.lto.de/recht/hintergruende/h/landessozialgerichte-eu-auslaender-hartz-iv-europarecht

Die 7 Kernbotschaften des SVR Jahresgutachtens 2013 „Erfolgsfall Europa? Folgen und Herausforderungen der EU-Freizügigkeit für Deutschland“, abrufbar unter: http://www.svr-migration.de/content/wp-content/uploads/2013/04/SVR_JG-2013_Kernbotschaften.pdf

Situationsbericht Brandenburg des Bündnisses gegen Menschenhandel zur Arbeitsausbeutung vom 22. Mai 2013, abrufbar unter: http://berlin-brandenburg.dgb.de/bereiche/gesellschaft/migration/bgma/situationsbericht-brandenburg

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