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Inter­na­ti­o­naler Gerichts­hof: Staaten immun bei Verlet­zungen von Menschen­rechten

Grundrechte-Report 2013, Seite 161

Italien darf – auch rückwirkend – nicht zulassen, dass italienische Gerichte die Bundesrepublik Deutschland wegen NS-Kriegsverbrechen in Italien und Griechenland zu Entschädigungen verurteilen und darf nicht ersatzweise deutsches Eigentum pfänden, weil dies alles das Prinzip der Staatenimmunität verletzt. Mit diesem Urteil gab der Internationale Gerichtshof in Den Haag (IGH) am 3. Februar 2012 der BRD als Klägerin gegen Italien Recht. Von Opferverbänden und Menschenrechtsorganisationen wird die Entscheidung vielfach als Rückschritt in der Entwicklung des internationalen Rechts gesehen: Auf dem Spiel stand das Kräfteverhältnis zwischen staatlicher Immunität und den individuellen Menschenrechten der Opfer, und Letztere unterlagen.

Umgang mit Massakern und Zwangs­a­r­beit

„Eine Kapitulation des Rechts vor der Macht“, kommentierte der AK Distomo, benannt nach dem Schauplatz eines Massakers in Griechenland, bei dem 218 Menschen von der Waffen-SS grausam umgebracht wurden. Ähnlich Roberto Oligeri, dessen fünf Geschwister im toskanischen Ort Fivizzano ermordet worden waren: „Zweimal in der Geschichte wurden unsere Interessen der Staatsräson geopfert, das erste Mal in der Nachkriegszeit, das zweite Mal mit dem Urteil des IGH.“ Zwischen 1943 und 1945 hatten Wehrmacht und Waffen-SS in Italien und Griechenland zahlreiche Massaker an der unbewaffneten Zivilbevölkerung verübt, die als „Vergeltungsaktionen“ für Partisanenkämpfe deklariert wurden. Insgesamt wurde eine Gesamtzahl von ca. 47 000 Opfern rekonstruiert. Dazu kommen Fälle von Zwangsarbeit.

Staaten­im­mu­nität löchrig

Das Prinzip der Staatenimmunität entsprang ursprünglich der Auffassung, dass Staaten über das Verhalten anderer Staaten nicht gerichtlich zu entscheiden haben. Als formal Gleiche dürfen sie nicht gegenseitig übereinander richten, da sie sonst das Prinzip der Gleichheit auf den Kopf stellen. Zentral für eine juristische Kritik des Urteils ist nun die Feststellung, dass die Immunität von Staaten keineswegs ein so feststehendes Prinzip ist, wie die IGH-Entscheidung suggeriert. Vielmehr sei sie „durchlöchert wie ein Schweizer Käse“, so einer der drei Richter, die abweichende Meinungen zu dem Urteil veröffentlichten. Die staatliche Immunität ist heute beispielsweise in den Bereichen von Handel oder geistigem Eigentum reduziert. Auch die Terrorbekämpfung oder die UN-Antifolterkonvention implizieren solche Ausnahmen. In einer Grauzone zwischen öffentlichem und privatem Recht liegt die Ausnahmeregelung von der Staatenimmunität für Rechtsbrüche auf dem Gebiet eines anderen Staates, die „territorial tort exception“. Der IGH hielt jedoch auch diese Regelung nicht für anwendbar, da bewaffnete Streitkräfte tatsächlich nur selten in diese Ausnahmeregelung einbezogen werden. Hätte das Gericht allerdings die Vergleichsfälle, an denen es sich orientierte, anders gewählt, hätte es die Frage der Ausnahme grundlegender angehen und damit möglicherweise zu einem anderen Schluss kommen können.

Vorge­scho­bener Formalismus

Das wichtigste Argument lag im Gewicht des zwingenden Verbots von schweren Menschenrechtsverstößen gegenüber dem Prinzip der Staatenimmunität. Bei der Abwägung zwischen diesen sich praktisch widersprechenden Grundsätzen ließ, wie vielfach festgestellt worden ist, das noch in Entwicklung befindliche internationale Recht den Richtern nicht nur große Entscheidungsspielräume, sondern tendierte in seinem aktuellen Stadium sogar eher zu einer Stärkung der Menschenrechte gegenüber der Staatenimmunität.

Doch die Richter unterliefen diese Konfrontation, indem sie den Fall isoliert auf der formellen Verfahrensebene betrachteten. Die Frage, ob ein Gericht überhaupt über das Verhalten eines anderen Staates urteilen darf, wurde streng von der Frage getrennt, ob und welche Menschenrechtsverletzungen dieser Staat begangen hat. Zwingendes Völkerrecht, das schwere Menschenrechtsverletzungen wie die NS-Massaker und -Zwangsarbeit verbietet, lässt sich nicht mit den Begriffen des formalen Rechts fassen. Dementsprechend wird in der Urteilsbegründung mehrfach darauf hingewiesen, dass die Verbrechen noch so schwer sein könnten, sie hätten in keinem Fall Einfluss auf die Geltung der Staatenimmunität.

Auf der Verfahrensebene steht der Staatenimmunität lediglich das aus den Menschenrechten abgeleitete „sekundäre“ Recht der Opfer auf eine Klage gegenüber – und das wiegt weder so schwer wie das verletzte Menschenrecht selbst noch wie die Staatenimmunität. Innerhalb dieses Argumentationssystems wirkte die Entscheidung des IGH beinahe unausweichlich. Dabei wird jedoch übersehen, dass der Entscheidungsspielraum des Gerichts nicht so sehr in diesem letzten Schluss als in den Prämissen seiner Abwägung lag. Die Trennung von formalem und materiellem Recht ist seit langem umstritten; die Wahl der formalistischen Betrachtungsweise war insofern kein neutraler Akt der „blinden Justitia“, sondern ist schon als eine Vorwegnahme der pro-staatlichen Position zu verstehen.

Wie verknüpft die beiden Ebenen tatsächlich sind, zeigt das mit dieser Frage verbundene, ebenfalls von Italien vorgebrachte Argument des „last resort“. Demnach waren die Verurteilungen der BRD durch italienische Gerichte das letzte Mittel, um – nach Ausschöpfung aller anderen juristischen Möglichkeiten – die Verletzung der unveräußerlichen individuellen Menschenrechte auf rechtlicher Ebene wieder auszugleichen. Umgekehrt ausgedrückt: Solange ein Weg offensteht, Menschenrechtsverletzungen zu sanktionieren, ohne das Immunitätsprinzip anzutasten, soll er beschritten werden. Aber wo dies nicht mehr möglich ist, da steht in letzter Instanz Prinzip gegen Prinzip.

Rechte ohne Rechts­schutz

Die praktische Bedeutung eines „last resort“ ist nicht zu überschätzen. Schließlich bedeuteten die italienischen Urteile für die Überlebenden der Kriegsverbrechen und die Angehörigen der Opfer tatsächlich eine letzte Chance auf Gerechtigkeit nach Jahrzehnten des Wartens und des juristischen Tauziehens zwischen Deutschland, Italien und Griechenland. Nach dem Urteil des IGH kommentierte Amnesty International konsequenterweise, das Recht auf Entschädigung für Kriegsverbrechen sei nun in ein Recht ohne Rechtsschutz verkehrt worden. Der Verweis des IGH auf Entschädigungsregelungen auf zwischenstaatlichem diplomatischem Weg ist keine Lösung. Er lässt die Opfer von Kriegsverbrechen vielmehr in einer Situation zurück, in der sie selbst keinerlei Rechte mehr einfordern können, sondern allein auf den guten Willen der Politik angewiesen sind.

Die deutsche und auch italienische Politik seit Kriegsende waren wesentlich mitverantwortlich für das Fehlen einer angemessenen Entschädigungsregelung wie auch für das Scheitern der juristischen Aufarbeitung – und damit für die faktische Rechtlosstellung der Opfer. Das lässt den vermeintlich neutralen Formalismus des IGH umso unangemessener erscheinen. Kläger aus Griechenland waren auf italienische Gerichte ausgewichen, weil die deutsche Bundesregierung durch diplomatischen Druck die griechische Justiz zurückgepfiffen hatte. Deutsche Gerichte hatten ihre Individualklagen abgewiesen, gleichzeitig aber diese Opfergruppe, entgegen anderslautender Beteuerungen, auch nicht in umfassendere Entschädigungsabkommen aufgenommen. Was Italien betrifft, gilt es als offenes Geheimnis, dass Tausende von Unterlagen wohldokumentierter NS-Verbrechen deshalb bis in die 90er Jahre versteckt blieben, weil befürchtet wurde, infolge der Aufarbeitung der deutschen Gewalttaten könnten auch die eigenen Kriegsverbrechen zur Sprache kommen. Der Prozess in Den Haag selbst war nur durch die Zustimmung beider Regierungen möglich, und das Urteil wurde von den Außenministern beider Länder begrüßt. Deutschland argumentierte vor dem IGH offen politisch und warnte, dass die Zulassung von Entschädigungsklagen eine Welle weiterer Forderungen nach sich ziehen werde. Dies war nicht nur auf den Zweiten Weltkrieg, sondern auch auf die Zukunft bezogen: Eine Entscheidung gegen die Staatenimmunität, so die deutsche Vertretung, würde Friedensverhandlungen durch endlose Klagen unabschließbar machen.

Amnesty International hat dies im Vorfeld des Urteils detailreich widerlegt, insbesondere mit dem Hinweis, dass im Gegenteil die Verweigerung von Entschädigungen Frieden destabilisieren würde. Eine Abweisung der deutschen Klage würde Staaten dazu anregen, geeignete Entschädigungsmechanismen zu entwickeln. Die Perspektive, mit der Garantie von Entschädigungen Staaten gar von Krieg und Kriegsverbrechen abzuschrecken, wird selten erwähnt. Und doch liegt der Umkehrschluss nahe: Der IGH hat Kriegsverbrechen weniger riskant gemacht. Das Urteil gilt für Italien, Deutschland und die NS-Verbrechen. Doch seine Signalwirkung wird darüber hinausgehen.

Literatur

International Court of Justice: Jurisdictional Immunities of the State (Germany vs. Italy: Greece intervening): Judgment 3 February 2012.  Urteil inkl. Sondervoten online abrufbar unter www.icj-cij.org/docket/index.php?p1=3&p2=2&case=143&code=ai&p3=4 [zuletzt abgerufen am 12.12.2012]

Amnesty International: Germany vs. Italy: The need to deny state immunity when victims have no other recourse, 2011, online verfügbar unter    www.amnesty.org/en/library/asset/IOR53/006/2011/en/ce60b84b-e3a7-4266-a1c3-1fb0277f039f/ior530062011en.pdf [zuletzt abgerufen am 12.12.2012]

Bornkamm, Paul Christoph: State Immunity Against Claims Arising from War Crimes:  The Judgment of the International Court of Justice in Jurisdictional Immunities of the State, in: German Law Journal 2012, Nr. 6, S. 773-782

Trapp, Kimberley N./Mills, Alex: Smooth Runs the Water where the Brook is Deep: The Obscured Complexities of Germany vs. Italy, in: Cambridge Journal of International and Comparative Law 2012, Nr. 1, S. 153-168

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