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Kein humanitäres Bleiberecht für Opfer rassis­ti­scher Gewalt

Grundrechte-Report 2010, Seite 23

Aliou S. [*] aus Westafrika und sein saudischer Freund hatten die Diskothek „Night Fly“ in Burg (Sachsen-Anhalt) kaum verlassen, als sie direkt vor dem Ausgang von einer Gruppe von zehn Rechten u.a. als „Scheiß Neger“  beschimpft und dann tätlich angegriffen wurden. Aliou S. gelang es, mit einem Handy den Notruf der Polizei zu verständigen; währenddessen traten die Angreifer auf seinen am Boden liegenden Freund ein. Als zwei Beamte nach circa zehn Minuten mit einem Streifenwagen am Tatort eintrafen – die örtliche Polizeiwache ist  100 Meter vom Tatort entfernt – waren die Angreifer noch vor Ort und riefen weiter rassistische Parolen. Anstatt die Personalien der Angreifer und von Augenzeugen aufzunehmen, brachten die Polizisten lediglich Aliou S. und seinen Freund ins Krankenhaus. Als die beiden Betroffenen nach einer ambulanten Notbehandlung ein Taxi zum Polizeirevier nahmen und Strafanzeige erstatten wollten, fragte einer der Beamten sinngemäß, was sie  denn noch wollten: man hätte ihnen „doch den Arsch gerettet“ und hätte sie ja auch vor Ort zurücklassen können.

Bei dem Angriff, der sich im Mai 2008 ereignete, wurde Aliou S. am Auge verletzt; sein Freund erlitt einen Kreuzbandriss im Knie. Neben den unmittelbaren Tatfolgen hatte der Angriff jedoch vor allem für Aliou S., der vor knapp acht Jahren als Asylsuchender nach Deutschland kam und als Herkunftsland zunächst Burkina Faso in seinem inzwischen abgelehnten Asylantrag angab, erhebliche Konsequenzen: Ärztliche Gutachten bescheinigen ihm seitdem eine posttraumatische Belastungsstörung.

Schon vor jener Nacht im Mai war das Leben des zurückhaltenden Endzwanzigers in Burg von Restriktionen und Unsicherheit bestimmt. Seit der Ablehnung seines Asylantrags vor fünf Jahren wird er in Sachsen-Anhalt lediglich „geduldet“.

Der Angriff verstärkte sein Lebensgefühl permanenter Unsicherheit und Bedrohung erheblich. Lange Zeit verließ er das Flüchtlingsheim – eine ehemalige NVA-Kaserne am Stadtrand – so selten wie möglich. Schließlich musste er ständig damit rechnen, seinen Angreifern in der Stadt erneut zu begegnen. Ein Umverteilungsantrag nach Magdeburg blieb über Monate von den Behörden unbeantwortet, dann erfolgte eine Ablehnung – und am 27. Mai 2009 zusätzlich die Androhung der Abschiebung für Juni. Die Begründung: Er komme nicht, wie im Asylantrag angegeben, aus Burkina Faso, sondern aus Guinea. Dessen Botschaft sei auch bereit, die für die Abschiebung notwendigen Papiere auszustellen, so die Ausländerbehörde Jerichower Land. Damit rächte sich die Behörde ganz offensichtlich dafür, dass Aliou S. es zuvor gewagt hatte, in regionalen Medien die Polizeibeamten für ihren „Einsatz“ und ihr nachfolgendes Verhalten zu kritisieren.

Schein­lö­sungen …

Mit Hilfe der Mobilen Opferberatung wandte sich Aliou S. in dieser Situation Anfang Juni 2009 dann sowohl an Vertreter der Landesregierung als auch an die Öffentlichkeit. Er bat um Unterstützung für seinen Wunsch nach einer Umverteilung nach Magdeburg und nach einem humanitären Bleiberecht als Opfer rassistischer Gewalt. Einen entsprechenden Aufruf an Sachsen-Anhalts Innenminister Holger Hövelmann (SPD) unterzeichneten innerhalb kürzester Zeit mehrere hundert Einzelpersonen, WissenschaftlerInnen und Initiativen. Zunächst schien diese Form direkter Solidarität, an der sich u.a. auch PRO ASYL und VertreterInnen des Republikanischen Anwältinnen- und Anwältevereins beteiligten – erfolgreich: Der Minister  gab am 24. Juni 2009 per Pressemitteilung bekannt, die Abschiebung von Aliou S. werde für die Dauer des Strafverfahrens gegen die Angreifer ausgesetzt. Ein humanitäres Bleiberecht für ihn als Opfer rassistischer Gewalt fand hingegen keine Erwähnung.

Doch in der Praxis erweist sich selbst die Ankündigung, der „Tatzeuge“ werde nicht abgeschoben, schnell als Augenwischerei. Denn die mangelnde Bereitschaft der Polizeibeamten, am Tatort die Personalien der mutmaßlichen Täter festzustellen – bekanntermaßen kein Einzelfall in Sachsen-Anhalt, wie schon im Prozess wegen eines rechten Angriffs auf mehrere Mitglieder eines Theaterensembles in Halberstadt in 2007 deutlich wurde – führte dazu, dass die nachfolgenden Ermittlungen ausgesprochen kompliziert verliefen. Lediglich gegen einen Angreifer ermittelte die Staatsanwaltschaft schließlich namentlich. Gegen den stadtbekannten 21-jährigen Rechten wurde im August 2009 Anklage wegen gefährlicher Körperverletzung erhoben. Im November 2009 lehnte das Amtsgericht Burg es allerdings ab, die Anklage zuzulassen. Nach einer Beschwerde der Anwältin von Aliou S. entschied das Landgericht Stendal bei Redaktionsschluss des GRR jedoch, die Anklage sei zulässig. Ein Termin für die Hauptverhandlung ist noch ungewiss.

… und anhaltende Schikanen

Und auch der zweite Teil der Pressemitteilung des Innenministers war wenig mehr als Kosmetik: Hövelmann hatte am 24. Juni 2009 auch erklärt, Aliou S. werde – wie von ihm gewünscht – nach Magdeburg umverteilt. Doch die konkreten Lebensumstände verbesserten sich damit keineswegs: In Magdeburg wurde Aliou S. von der Ausländerbehörde ein Bett in einem 5-Personen-Zimmer in einem Flüchtlingsheim zugewiesen. Diese Umstände verhindern einen Heilungsprozess seiner posttraumatischen Belastungsstörung und vergrößern mit jedem weiteren Tag das Risiko, dass seine Symptome chronisch werden.

Derzeit ermöglichen solidarische Unterstützerinnen und Unterstützer Aliou S. einen Rückzugsraum jenseits des Heimalltags. Doch die beständige Angst vor Abschiebung macht es ihm unmöglich, in Ruhe die Tatfolgen zu verarbeiten und über seine weitere Zukunft nachzudenken. Dagegen profitieren die rassistischen Angreifer, die Aliou S. und seinen saudischen Freund verletzt haben, ganz materiell in Form von Straffreiheit von der mangelhaften Polizeiarbeit am Tatort. Gleichzeitig werden sie dadurch ermutigt, weiter gewaltsam gegen Migrantinnen, Migranten und Flüchtlinge vorzugehen. Der Fall verweist aber auch noch auf ein anderes zentrales Problem: Unter den Opfern rassistischer Gewalt in den neuen Bundesländern finden sich viele so genannte Geduldete, die aufgrund ihres Aufenthaltsstatus oftmals gezwungen sind, an Orten zu leben, an denen es eine extrem rechte Dominanz unter Jugendlichen gibt. Nicht einmal nach schweren Angriffen dürfen sie diese Orte ohne behördliche Genehmigung verlassen.

Aliou S. ist keineswegs der einzige Betroffene einer rassistischen Gewalttat, der ein humanitäres Bleiberecht als Opfer eines rassistischen Angriffs benötigt, um in Sicherheit seine traumatischen Erfahrungen zu verarbeiten und eine Lebensperspektive aufzubauen. Dem Ziel der Täter, Migrantinnen, Migranten und Flüchtlinge gewaltsam aus Deutschland zu vertreiben, würde mit einem klaren Bekenntnis der Solidarität durch ein Bleiberecht für Opfer rassistischer Gewalt geantwortet – doch bislang schweigt die Innenministerkonferenz dazu.

* Um den Betroffenen zu schützen, wird hier ein Pseudonym verwandt. Der richtige Name ist der Redaktion bekannt.

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