Publikationen / Grundrechte-Report / Grundrechte-Report 2008

Maßnah­me­ge­setz­ge­bung zur Siche­rungs­ver­wah­rung - Über parla­men­ta­ri­sche Wegschließer und Mensch­heits­retter

Grundrechte-Report 2008, Seite 153

Am 18. April 2007 trat eine abermalige Ausweitung der Sicherungsverwahrung in Kraft (Bundesgesetzblatt I, 513). Anlass ist die vorerst jüngste, aber bereits absehbar keineswegs letzte Änderung des Rechts der Sicherungsverwahrung. Diese Sicherheitsgesetzgebung missachtet nicht nur fundamentale rechtsstaatliche Prinzipien, sondern nun auch demokratische und parlamentarische Spielregeln. Über das hier ins Zentrum gerückte Verbot so genannter „Einzelfallgesetze“ aus Artikel 19 Absatz 1 GG hinaus erscheint fraglich, ob die verfassungs- und parlamentsrechtlichen Vorgaben zum Gesetzgebungsverfahren hinreichend beachtet worden sind.

Mediales Echo und exekutive Hilferufe

Im Februar 2007 entbrannte in einschlägigen Medien eine erneute Sicherheitslücken-Kampagne. Ein als gefährlich eingestufter ehemaliger Straftäter war aus der Strafhaft entlassen worden, weil die Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung an der geltenden Rechtslage scheiterte – „Skandal“! Die Rechtslage war freilich nicht neu, ging es doch um Fragen der Anwendung des Rechts der Sicherungsverwahrung auf DDR-Altfälle. Die im Bundestag referierte Auskunft der Generalstaatsanwälte aus Thüringen und Sachsen-Anhalt, es gebe in ihren Ländern „voraussichtlich jeweils fünf weitere Personen“, die für die nachträgliche Sicherungsverwahrung „in Betracht kämen“ (Plenarprotokoll 16/88, 8906), brachte parlamentarische Wegschließer auf Trab: Wenn es Personen gibt, die so gefährlich sind, dass sie „nicht wieder auf die Menschheit losgelassen werden können“ (FDP-MdB Jörg van Essen, aaO.), dann ist man verpflichtet, diese Menschheit zu retten. Und das duldet offenkundig weder Aufschub noch gar die Einhaltung parlamentarischer Spielregeln.

Hau-ruck-Legislative

Also wurde der parlamentarische Zeitplan quasi auf Bestellung von hinten nach vorne festgezurrt: Wenn am 27. April eine Entlassung „droht“, muss das Entlassungsverhinderungsgesetz allerspätestens am 26. April in Kraft treten, also bis zum 30. März dem Bundesrat zum Abnicken vorliegen, also bis zum 23. März im Bundestag verabschiedet sein (um im Bundesrat keinen Widerspruch gegen die Tagesordnung zu riskieren), weshalb es außerordentlicher Sitzungen des Rechts- und Innenausschusses am 20. März bedurfte usw.

Und tatsächlich wurde so verfahren. Am 28. Februar erfolgte die erste Ausschussberatung auf der Grundlage einer wenige Tage vorab versandten „Formulierungshilfe“ des Bundesjustizministeriums. Am 19. März wurde eine Expertenanhörung anberaumt. Die Schlussberatung fand am Tag danach, die Abstimmung im Plenum des Bundestages am 22. März statt. Es fällt schwer, dies nicht als „Durchpeitschen“ zu bezeichnen, so wie es aus Reihen der Opposition verlautete. Ein eiliges Ausnahmeverfahren als Begleitmusik eines unheiligen Maßnahmegesetzes!

Man mag der Kritik an einem solchen Verfahren entgegenhalten, diese Gesetzesänderung sei doch bereits im Koalitionsvertrag vorgesehen worden – dann aber ist die Frage um so berechtigter, warum nicht beizeiten ein reguläres Gesetzgebungsverfahren betrieben wurde. So aber verbleibt der fade Nachgeschmack eines Notverordnungsgebarens. Selten konnten Vertreter der Medien und der Exekutive binnen so kurzer Zeit einen so grandiosen parlamentarischen Sieg im Krieg gegen die „Feinde der Menschheit“ verbuchen – im Vertrauen darauf, dass die Geschichte über die demokratischen und parlamentarischen Kollateralschäden hinweggehen wird.

Ein zulässiges Maßnah­me­ge­setz für Einzel­fälle?

Gilt das Gesetz „zur Änderung der Vorschriften über die nachträgliche Sicherungsverwahrung“ vom 13. April 2007 „allgemein“, so wie es Artikel 19 Absatz 1 GG fordert, oder doch nur für Einzelfälle? Letzterenfalls wäre es schon deshalb verfassungswidrig – andere grund- und menschenrechtliche Fragwürdigkeiten insbesondere der nachträglichen Sicherungsverwahrung sind schon mehrfach erörtert worden (siehe Helmut Pollähne, Grundrechte-Report 2007, S. 69 ff.).

Es bedarf hier keiner verfassungsrechtsdogmatischen Abgrenzung von Maßnahme-, Individual-, Einzelfall- oder Einzelpersongesetzen – entscheidend ist letztlich, ob der Gesetzgeber gegen das Willkürverbot verstoßen hat, indem er Einzelfälle mit individualisierbaren Betroffenen herausgegriffen und zum „Gegenstand einer Ausnahmeregelung“ gemacht hat. Artikel 19 Absatz 1 GG ist Ausdruck des Misstrauens gegenüber einer Regierungsmehrheit, die mit parlamentarischen Verwaltungsakten versucht, politische Einzelfallentscheidungen demokratisch zu bemänteln. Verhindert werden sollen exekutiv intendierte Grundrechtseingriffe unter Missbrauch der Gesetzesform, da solche „getarnten Individualgesetze“ den Grundrechtsschutz des demokratischen Gesetzesvorbehalts unterlaufen.

Selbst wenn das Bundesverfassungsgericht trotz alledem (jedenfalls in puncto Artikel 19 Absatz 1 Satz 1 GG) keine Einwände gegen das o. g. Gesetz hegen dürfte: Von der Strapazierung des Parlamentsrechts einmal abgesehen, rammte man damit – in polizeilicher „Gefahr im Verzuge“-Mentalität und unter partieller Aufhebung der Gewaltenteilung – bewusst den Grenzzaun des Unrechtsstaats: Es fällt schwer, diesen Vorgang nicht als Maßnahmegesetzgebung zu qualifizieren!

Die forts­chrei­tende Abwicklung des Einigungs­ver­trages

Was immer man von dem so genannten „Einigungsvertrag“ zwischen der damals rechtlich noch existierenden DDR und der Alt-BRD von 1990 halten mag: Mit guten Gründen hatten sich die Unterhändler aus den „neuen Bundesländern“ u. a. ausbedungen, dass die Sicherungsverwahrung dort keine Anwendung finden konnte. Anders als im Westen war sie in der DDR nicht in das strafrechtliche Sanktionensystem übernommen worden, galt sie doch als Ausdruck der „faschistischen Lehre vom Tätertyp“ – so das Oberste Gericht der DDR 1952.

Kaum standen in den neuen Ländern die ersten Gefangenen zur Entlassung an, die in den alten Ländern mit dem Mittel der Sicherungsverwahrung über das Haftende hinaus hätten festgehalten werden können, wurde der Einigungsvertrag erstmalig nachgebessert , ein Vorgang, der sich wiederholen sollte: Dass man sowohl 1990 als auch 1995, 1998 und zuletzt 2004 jeweils sorgfältig über die Reichweite der Rückwirkung für DDR-Altfälle beraten und entschieden hat, findet zwar Erwähnung (vgl. Bundestags-Drucksache 16/4740, 22 f.), scheint die groß-koalitionäre Mehrheit aber überhaupt nicht zu irritieren: Nach dem Motto „Was kümmert uns das legislative Geschwätz von gestern?“ gilt ab heute wieder etwas anderes für die Fälle von vorgestern. Und was kommt morgen?

In Abweichung von der so genannten „nova-Regelung“ (in § 66b StGB) gelten für eine Handvoll so genannter Altfälle der neuen Bundesländer aus den Jahren 1990 bis 1995 nun auch solche Tatsachen als „neu“, die zum Zeitpunkt der Verurteilung bereits bekannt (oder wenigstens erkennbar) waren, „aus rechtlichen Gründen“ jedoch nicht zur Anordnung der Sicherungsverwahrung führen konnten – aber was zählen unter dem „in dubio pro securitate“-Primat schon rechtliche Gründe: „Gefährliche“ haben längst das Recht verwirkt, sich auf eben jenes zu berufen!

Literatur

Pollähne, Helmut, Vorwärts in die Vergangenheit: Zur unheilvollen Renaissance der Sicherungsverwahrung, in: Forum Recht 1998, 129-132

Pollähne, Helmut, Führungsaufsicht als „Grenzwache“? Gefährliche Tendenzen in der ambulanten Kontrolle „Gefährlicher“, in: Daniela Klimke (Hrsg.), Exklusion in der Marktgesellschaft, Wiesbaden 2007, 87-105

nach oben