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„Nach­ge­la­gerte“ Studien­ge­bühren in Hessen - Zur Herstellung von Solidarität mit sich selbst

Grundrechte-Report 2008, Seite 142

Seit dem Wintersemester 2007/08 werden auch in Hessen allgemeine Studienentgelte erhoben. Deren Sozialverträglichkeit soll durch die Vergabe von Darlehen hergestellt werden, die erst bei späterer Leistungsfähigkeit, in der Phase der beginnenden Berufstätigkeit, zurückzuzahlen sind (so genannte nachgelagerte Studienentgelte). Ähnliche Modelle sind, trotz völkerrechtlicher Bedenken (vgl. Ataner Öztürk, Grundrechte-Report 2007, S. 170), in den meisten Bundesländern in Planung oder bereits verwirklicht. In Hessen muss sich die Einführung allgemeiner Studienentgelte nicht nur am Grundgesetz und am Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte messen lassen, sondern auch an dem in Artikel 59 der Hessischen Verfassung (HV) festgeschriebenen Grundsatz der Unterrichtsgeldfreiheit. Absatz 1 der Norm lautet:

„In allen Grund-, Mittel-, höheren und Hochschulen ist der Unterricht unentgeltlich. Unentgeltlich sind auch die Lernmittel mit Ausnahme der an den Hochschulen gebrauchten. Das Gesetz muss vorsehen, dass für begabte Kinder sozial Schwächergestellter Erziehungsbeihilfen zu leisten sind. Es kann anordnen, dass ein angemessenes Schulgeld zu zahlen ist, wenn die wirtschaftliche Lage des Schülers, seiner Eltern oder sonst Unterhaltspflichtigen es erlaubt.“

Erhebung von Studienent­gelten nur für wirtschaft­lich Belastbare

Die in Art. 59 Absatz1 Satz 1 HV normierte Unterrichtsgeldfreiheit wird durch die so genannte Studiengeldoption des Satzes 4 eingeschränkt. Die Vorschrift erlaubt allerdings die Erhebung von Studienentgelten nur für wirtschaftlich belastbare Personen. Dass der Gesetzgeber mit dem Hessischen Studienbeitragsgesetz die Entgelte dennoch für alle Studierenden einführt, rechtfertigt er mit der „Nachlagerung“: Durch die Darlehenslösung werde trotz der Entgelte jeder in die Lage versetzt zu studieren. Das genüge der Intention des Art. 59 HV, Hochschulbildung unabhängig von wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit zu ermöglichen.

Die Argumentation übersieht, dass die Aussage des Art. 59 HV sich nicht auf das Ziel der Bildungschancengleichheit reduzieren lässt, so dass der Gesetzgeber in der Mittelwahl eine Einschätzungsprärogative hätte. Vielmehr legt die Vorschrift durch die Vorgabe des Mittels Studienentgelte nur für wirtschaftlich Belastbare ein Schutzniveau fest, das der Gesetzgeber nicht unterschreiten darf. Mit der Einführung von Studienentgelten auch für wirtschaftlich Schwache hat der hessische Gesetzgeber diese verfassungsrechtliche Grenze verletzt.

Lieber arm als arm und verschuldet

Daran ändert auch die „Nachlagerung“ der Studienentgelte nichts. Die Studierenden werden nicht wirtschaftlich belastbar im Sinne des Art. 59 Absatz 1 Satz 4 HV, indem man ihnen Darlehen zur Verfügung stellt. Selbst wenn man der Ansicht wäre, dass auch geliehenes Geld wirtschaftlich belastbar macht, so gilt doch: Jedenfalls vor Aufnahme des Darlehens besteht die Leistungsfähigkeit nicht, und deshalb auch keine Leistungspflicht, zu deren Erfüllung man verpflichtet sein könnte, ein Darlehen aufzunehmen. Und wer wollte freiwillig ein Darlehen aufnehmen, das leistungspflichtig macht: Lieber arm als arm und verschuldet.

Nach der Argumentation des rechtswissenschaftlichen Gutachtens, das die hessische Landesregierung im Vorfeld des Gesetzgebungsverfahrens in Auftrag gegeben hat, soll das Hessische Studienbeitragsgesetz landesverfassungskonform sein, weil durch die „Nachlagerung“ die Leistungspflicht der Studierenden zeitlich zu ihrer späteren Leistungsfähigkeit hin verlagert werde, so dass die von Art. 59 HV geforderte Gleichzeitigkeit von Leistungspflicht und Leistungsfähigkeit gegeben sei. Wenn jedoch die Studierenden während des Studiums noch gar nicht leistungspflichtig sind, wozu brauchen sie dann während des Studiums ein Darlehen? Offenbar geht es hier um zwei voneinander zu unterscheidende Leistungspflichten: Die eine, in der Tat erst künftig zu erfüllende ist die Pflicht zur Rückzahlung des Darlehens, die andere, keineswegs nachgelagerte ist die Pflicht zur Zahlung von Studienentgelten. Die von Art. 59 HV geforderte Gleichzeitigkeit ist natürlich die zwischen der Pflicht zur Zahlung von Studienentgelten und der Fähigkeit zur Zahlung von Studienentgelten.

Nachdem sich bereits im Gesetzgebungsverfahren rechtswissenschaftliche Experten/innen mit unterschiedlichen Auffassungen zur Vereinbarkeit der hessischen Studienentgelte mit Art. 59 HV geäußert haben, ist jetzt ein Normenkontrollverfahren vor dem Hessischen Staatsgerichtshof anhängig; eine Entscheidung wurde im Zeitpunkt der Drucklegung für das Frühjahr 2008 erwartet. Die Hessische Landesanwältin hat sich mit dem Antrag in das Verfahren eingeschaltet, das Gesetz für nichtig zu erklären. Inzwischen liegt auch eine eingehend begründete Eilentscheidung des Verwaltungsgerichts Giessen vor (Beschluss vom 12.11.2007, Az. 3 G 3758/07), die einem Studenten die Zahlung der Entgelte vorläufig erspart, da er voraussichtlich das Hauptsacheverfahren wegen der Landesverfassungswidrigkeit des Hessischen Studienbeitragsgesetzes gewinnen werde.

Der Trend zur Solidarität mit sich selbst

Transferleistungen, die als Darlehen und nicht als Beihilfe gewährt werden, verändern das traditionelle Verständnis von Solidarität als eines eigentlich zwischenmenschlichen Vorgangs: Die Solidarität findet jetzt mit sich selbst statt. Die Unterstützung fließt dem Bedürftigen nicht mehr – via Umverteilung über den Steuerstaat – vom begünstigteren Mitbürger zu, sondern von seinem eigenen späteren Ich. Der Bedürftige wird auf die nun über seine eigene Lebensdauer hinweg gestreckte Möglichkeit verwiesen, sich selbst zu helfen. Das Verschieben von Lasten in die individuelle Zukunft wirtschaftlich ohnehin schwacher Bevölkerungsteile führt nicht zu sozialem Ausgleich, sondern vergrößert die Schere zwischen Arm und Reich. Angesichts der ohnehin geringen Bildungsbeteiligung sozial Schwächergestellter ist der nicht nur im Bildungsbereich beobachtbare Trend zu derartigen Zugriffen auf künftige Leistungsfähigkeit deshalb über den speziellen hessischen Fall hinaus ein Problem der sozialen Gerechtigkeit.

Literatur

Anna Lübbe, Zur Landesverfassungswidrigkeit „nachgelagerter“ Studiengebühren in Hessen, in: Die öffentliche Verwaltung 2007, S. 423; Der staatliche Zugriff auf künftige Leistungsfähigkeit, in: Kritische Vierteljahresschrift 2007, S. 256

Christian Pestalozza, Landesverfassungsrechtliche Fragen eines Hochschulgeldes in Hessen, 2006

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